Schriftliche Kleine Anfrage und Antwort des Senats

BÜRGERSCHAFT
DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG
Drucksache
21/947
21. Wahlperiode
07.07.15
Schriftliche Kleine Anfrage
der Abgeordneten Christiane Schneider (DIE LINKE) vom 01.07.15
und
Betr.:
Antwort des Senats
Besonders schutzbedürftige Flüchtlinge und ihre Situation in Hamburg
Die Richtlinie 2013/33/EU trat am 19. Juli 2013 in Kraft. Die Mitgliedstaaten
haben zwei Jahre Zeit, also bis zum 20. Juli 2015, diese umzusetzen. Neuerungen der Richtlinie sind unter anderem die Nennung der besonders
schutzbedürftigen Personengruppen und die Aufforderung an die Mitgliedstaaten, ihre Anstrengungen bei der Identifizierung der besonders Schutzbedürftigen zu erhöhen.
Besonders Schutzbedürftige sind laut Richtlinie Minderjährige, unbegleitete
Minderjährige, Menschen mit einer Behinderung, ältere Menschen, Schwangere, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, Personen, die Folter,
Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder
sexueller Gewalt erlitten haben. Die Umsetzung muss auf allen relevanten
Ebenen der politischen Organisation erfolgen.
Laut Medienberichten hat eine Frau nach der Umverteilung aus Hamburg ihr
Kind verloren. Die Frau wurde umverteilt, obwohl es Komplikationen während
der Schwangerschaft gab.
Vor diesem Hintergrund frage ich den Senat:
1.
Inwiefern wird garantiert, dass Flüchtlinge mit besonderem Schutzbedarf
in Hamburg identifiziert werden? Wie genau ist das festgelegte Verfahren? Bitte beschreiben und/oder Anweisung anhängen.
2.
Gelten Opfer des Menschenhandels, Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen sowie Personen mit psychischen Störungen und
Opfer der Verstümmelung weiblicher Genitalien in Hamburg als besonders schutzbedürftig?
Wenn nein, warum nicht?
3.
Inwiefern setzt der Senat die Richtlinie 2013/33/EU um?
a.
Welche Maßnahmen sind wann umgesetzt worden?
b.
Wo liegen die konkreten Verbesserungen für die genannten Gruppen? Bitte aufschlüsseln nach Gruppe, Maßnahme, Datum der
Umsetzung.
c.
Welche Maßnahmen sind noch in Planung?
Nach Artikel 21 der Richtlinie 2013/33/EU berücksichtigen die Mitgliedsstaaten „in
dem einzelstaatlichen Recht zur Umsetzung dieser Richtlinie die spezielle Situation
von schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen, unbegleiteten Minderjährigen,
Behinderten, älteren Menschen, Schwangeren, Alleinerziehenden mit minderjährigen
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Kindern, Opfern des Menschenhandels, Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen, Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt
erlitten haben, wie z.B. Opfer der Verstümmelung weiblicher Genitalien“.
Soweit das deutsche Recht nicht bereits den Vorgaben der Richtlinie entspricht,
obliegt die Umsetzungsverpflichtung primär dem Bundesgesetzgeber. So enthält das
vom Deutschen Bundestag am 2. Juli 2015 beschlossene Gesetz zur Neubestimmung
des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung (siehe BT-Drs. 18/4097, 18/5420)
unter anderem weitere Verbesserungen des Aufenthaltsrechts für die Opfer von Menschenhandel sowie für Minderjährige.
Nach Artikel 22 Absatz 1 der Richtlinie 2013/33/EU „beurteilen die Mitgliedstaaten, ob
der Antragsteller ein Antragsteller mit besonderen Bedürfnissen bei der Aufnahme ist.
Die Mitgliedstaaten ermitteln ferner, welcher Art diese Bedürfnisse sind.
Diese Beurteilung wird innerhalb einer angemessenen Frist nach Eingang eines
Antrags auf internationalen Schutz in die Wege geleitet und kann in die bestehenden
einzelstaatlichen Verfahren einbezogen werden.“
Bei Anträgen auf internationalen Schutz handelt es sich gemäß § 13 in Verbindung mit
den §§ 3 Absatz 1 und 4 Absatz 1 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) um Asylanträge,
über die nach § 5 Absatz 1 AsylVfG das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
(BAMF) entscheidet. Nach § 24 Absatz 1 Satz 1 AsylVfG gehört es zu den Pflichten
des Bundesamtes, den Sachverhalt aufzuklären. Nach § 24 Absatz 1 Satz 3 AsylVfG
hat es den Ausländer persönlich anzuhören.
Die besonders schutzbedürftige Gruppe der unbegleiteten Minderjährigen fällt im
Übrigen in die Zuständigkeit der Jugendhilfe. Das Sozialgesetzbuch VIII regelt im
Rahmen der vorläufigen Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen,
dass diese Kinder und Jugendlichen gemäß § 42 SGB in Obhut zu nehmen sind. Das
Jugendamt sorgt während der Inobhutnahme für das Wohl des Kindes oder des
Jugendlichen und stellt dabei den notwendigen Unterhalt und die Krankenhilfe sicher.
Die Erforderlichkeit besonderer Schutzmaßnahmen richtet sich nach den individuellen
Umständen des Einzelfalls. Weder verpflichtet die Richtlinie 2013/33/EU zu pauschalisierenden Anweisungen noch würden solche pauschalisierenden Vorgaben den individuellen Bedürfnissen der Betroffenen im Einzelfall gerecht.
Zu dem in der Vorbemerkung angesprochenen Einzelfall sowie allgemein zu den
besonderen Schutzmaßnahmen für schwangere Frauen im Asylverfahren in Hamburg
siehe im Übrigen Drs. 21/547.
4.
Welche Maßnahmen ergreift der Senat, um die unzureichende und späte
psychologische und psychotherapeutische Betreuung von Flüchtlingen in
Hamburg zu verbessern und schneller zugänglich zu machen? Bitte
genaue Beschreibung mit Angabe des Zeithorizonts.
Der Senat teilt nicht die Auffassung einer unzureichenden und späten psychologischen und psychotherapeutischen Betreuung von Flüchtlingen in Hamburg.
Zur Feststellung und Behandlung etwaiger psychischer Störungen bei Flüchtlingen
können alle Einrichtungen der psychiatrischen Versorgung in Hamburg sowie alle
niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten konsultiert werden.
Derzeit etabliert sich die Zusammenarbeit zwischen Krankenhäusern mit Fachabteilungen für Psychiatrie und Psychotherapie und Erstaufnahmeeinrichtungen. So bieten
einzelne Krankenhäuser vor Ort in Erstaufnahmeeinrichtungen regelmäßig psychiatrische Sprechstunden ihrer Institutsambulanzen (PIA) an beziehungsweise sind entsprechende Angebote im Aufbau. Die Zuweisung in die fachärztlichen Sprechstunden
erfolgt in der Regel durch vor Ort tätige Allgemeinmediziner beziehungsweise durch
den dortigen Sozialdienst oder die in einzelnen Erstaufnahmeeinrichtungen tätigen
Psychologinnen beziehungsweise psychologischen Psychotherapeutinnen. Die zur
Verständigung erforderlichen Dolmetscher werden von der Erstaufnahmeeinrichtung
über die zuständige Behörde gestellt. Durch das aufsuchende PIA-Angebot soll frühzeitige qualifizierte Hilfe gerade auch zur Vermeidung stationärer Krisenintervention
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und Behandlung geleistet werden. Zudem finden anlassbezogene Fallbesprechungen
mit dem Sozialdienst der Erstaufnahmeeinrichtungen und den dort vor Ort ärztlich und
therapeutisch tätigen Kräften statt.
Die beschriebenen Leistungsangebote sind zeitlich nicht befristet.
Flüchtlinge, die Ansprüche nach dem SGB II, dem SGB VIII, dem SGB XII oder nach
§ 2 AsylbLG haben, werden über eine Krankenkasse im Leistungsrahmen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) versorgt, entweder im Rahmen einer Mitgliedschaft
bei einer Krankenversicherung oder im Rahmen einer Krankenversorgung gemäß
§ 264 Absatz 2 SGB V. Diese Personen können deshalb Psychotherapien unter den
Leistungsvoraussetzungen der gesetzlichen Krankenversicherung in Anspruch nehmen.
Flüchtlinge, die leistungsberechtigt nach §§ 1, 1a AsylbLG in Verbindung mit §§ 4 und
6 AsylbLG sind, werden in Hamburg weitgehend durch eine Krankenkasse (die AOK
Bremen/Bremerhaven) gemäß § 264 Absatz 1 SGB V betreut. Diese Versorgung hat
bundesweit Vorbildcharakter und wird sonst nur noch in Bremen praktiziert. Die Leistungsberechtigten werden dabei verfahrens- und leistungsrechtlich grundsätzlich den
Mitgliedern der GKV gleichgestellt. Allerdings gibt es aufgrund der §§ 4 und 6 AsylbLG
einige Leistungseinschränkungen und -ausschlüsse. Diese Menschen können probatorische Sitzungen wie Mitglieder der GKV über die elektronische Gesundheitskarte
(eGK) in Anspruch nehmen. Ambulante Kurzzeittherapien können von der AOK Bremen/Bremerhaven unter den Leistungsvoraussetzungen der GKV bewilligt werden.
Ambulante Langzeitpsychotherapien können von der AOK Bremen/Bremerhaven
bewilligt werden, wenn zum einen die Leistungsvoraussetzungen der GKV erfüllt sind
und zum anderen von den Grundsicherungs- und Sozialdienststellen unter Einschaltung der Gesundheitsämter bestätigt wurde, dass eine Kostenübernahme unter den
Voraussetzungen der §§ 4 oder 6 AsylbLG möglich ist.
Für minderjährige und junge volljährige Flüchtlinge steht mit der Flüchtlingsambulanz
am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf ein spezialisiertes Hilfeangebot zur
Behandlung von Traumafolgen für die Zielgruppe zur Verfügung. Der Landesbetrieb
Erziehung und Beratung als Träger der Hamburger Erstversorgungseinrichtungen für
unbegleitete Minderjährige hat Kooperationsvereinbarungen mit den Hamburger Kinder- und Jugendpsychiatrien geschlossen, um bei Bedarf schnelle psychiatrische Hilfe
sicherzustellen.
5.
Inwiefern engagiert der Senat sich, um Menschen in medizinischen und
psychologischen, psychotherapeutischen und pädagogischen Berufen
Fortbildungen/Weiterbildungen im Umgang mit (traumatisierten) Flüchtlingen zu ermöglichen? Wie viele derartige Veranstaltungen sind in den
vergangen 24 Monaten bewilligt und/oder angeboten worden?
Die Gestaltung und Förderung der Fortbildung von Ärzten und Psychotherapeuten ist
Aufgabe der jeweiligen Heilberufekammer.
Die Fortbildungsakademie der Ärztekammer Hamburg hat in den vergangenen 24
Monaten speziell zu dem Thema fünf zum Teil jährlich wiederkehrende Kurse und
Sonderveranstaltungen angeboten. Darüber hinaus bietet die Fortbildungsakademie
eine Vielzahl an Kursen zu Themen wie „Psychotraumatologie“ oder „Posttraumatische Belastungsstörung“ an.
In der ärztlichen Weiterbildung, deren rechtliche Grundlage die Weiterbildungsordnung ist, geht es um die Spezialisierung zum Facharzt/zur Fachärztin. In den sogenannten P-Fächern (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Kinder- und
Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und andere) sind Kenntnisse über Trauma
bedingten Störungen und deren Behandlung im Rahmen der theoretischen Weiterbildung nachzuweisen.
Die Psychotherapeutenkammer Hamburg hat einen Arbeitskreis „Psychotherapie und
Migration“, bestehend aus einem Vorstandsmitglied und über 30 engagierten Kammermitgliedern gegründet, der sich in regelmäßigen Abständen trifft und sich unter
anderem mit dieser Thematik befasst. Die Psychotherapeutenkammer Hamburg
akkreditierte in den vergangenen 24 Monaten etwa 100 Fortbildungsveranstaltungen
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zum Umgang mit traumatisierten Gruppierungen, wie zum Beispiel Kinder und
Jugendliche, komplex traumatisierte Familien oder Frühtraumatisierte. Die vermittelten
Inhalte sind teilweise auch auf den Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen anwendbar.
6.
Aus welchem Grund wurde die Regelung abgeschafft, Schwangere ab
einer bestimmten Schwangerschaftswoche nicht mehr zu verteilen?
a.
Wer ist dafür verantwortlich?
b.
Wann wurde das beschlossen?
c.
Wie viele Schwangere sind seitdem umverteilt worden und bei wie
vielen gab es Komplikationen?
Siehe Drs. 20/2851 und 20/3261. Die Regelung wurde von der Leitung der zuständigen Behörde entschieden.
7.
Inwiefern plant der Senat, bei Schwangeren künftig von Abschiebung,
Abschiebehaft und Aufforderungen zur Ausreise abzusehen?
8.
Inwiefern plant der Senat, bei Schwangeren künftig auf Umverteilung zu
verzichten?
9.
Inwiefern plant der Senat Änderungen im Verfahren der Umverteilung?
Die zuständige Behörde wird auch künftig gemäß dem Bürgerschaftlichen Ersuchen
Drs. 20/7740 im Rahmen einer Einzelfallentscheidung die gesundheitlichen Belange
von Schwangeren sowie ihrer ungeborenen Kinder gebührend berücksichtigen. Von
Abschiebungen und der Beantragung von Abschiebungshaft innerhalb der gesetzlichen Mutterschutzfristen wird abgesehen. Darüber hinaus sind ein generelles Absehen von Abschiebung, Abschiebehaft und Aufforderungen zur Ausreise ebenso wenig
geplant, wie ein genereller Verzicht auf Verteilungen oder sonstige Änderungen im
Verfahren der Verteilung.
10. Wie wird eine Umverteilung in der Regel vollzogen? Bitte genaue
Beschreibung des Vorgangs/der Vorgänge.
Nach Bekanntgabe der Verteilungsentscheidung werden die ausgestellten Dokumente
und Belehrungen noch einmal übersetzt. Die Personen erhalten eine Bescheinigung
zur Ausgabe einer Fahrkarte im Reisezentrum der Deutschen Bahn und eine Fahrkarte für den öffentlichen Nahverkehr.
a.
Wie viele Menschen müssen dabei mit dem Zug reisen?
Alle Personen reisen mit dem Zug.
b.
Mit welchen Tickets werden sie ausgestattet?
c.
Welche Züge dürfen sie nutzen?
Grundsätzlich können die Personen die Züge des Regionalverkehrs nutzen. In
begründeten Einzelfällen werden auch IC- oder ICE-Verbindungen gebucht (zum Beispiel Personen mit Handicap, Alleinerziehende mit mehreren kleinen Kindern und viel
Gepäck). In Einzelfällen wird in Zusammenarbeit mit der Bahnhofsmission auch eine
Umsteigehilfe organisiert.
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