Vor der Konstruktion kommt die Rekonstruktion. Plädoyer für

Vor der Konstruktion kommt die Rekonstruktion.
Plädoyer für eine realistische Wende in der
Literaturdidaktik
Torsten Pflugmacher
1. Für eine Theorie der Literaturvermittlungspraxis
Der Beitrag skizziert mehrjährige Erfahrungen mit einer kasuistisch angelegten
Ausbildung von Deutschlehrern und einer ebenso am Fall arbeitenden Unterrichtsforschung sowie der Verbindung beider als Versuch einer Verzahnung von
Theorie und Praxis mit den Mitteln der Universität (vgl. Pflugmacher u. a. 2009
sowie das Projekt PÄRDU)1. Kritisch betrachtet wird eine universitäre und publizistische Literaturdidaktik, welche ihre Aufgabe primär darin sieht, Modelle
guten Unterrichts zu entwickeln und das damit verbundene Wissen in der Ausbildung von Deutschlehrenden zu vermitteln. Aus dem Blick gerät dabei das
Etappenziel, Literaturunterricht verstehen zu lernen: Man hat ihn zwar 13 Jahre
lang besucht, aber die zentralen fachspezifischen Handlungsprobleme werden
dem Novizen erst im Referendariat – in der Regel unerwartet – begegnen. Das
zum Nachvollzug fachdidaktischen Lehrerhandelns notwendige Unterscheidungsvermögen könnten Studierende jedoch bereits im Studium durch Fallanalysen handlungsentlastet erwerben. Die traditionelle Planungsdidaktik würde
damit durch eine Prozessdidaktik ergänzt, in deren Rahmen sich die angehenden
Deutschlehrenden durch die rekonstruierende schrittweise Erschließung von
Fällen professionalisieren.
Dass man Unterricht konstruieren soll, ohne ihn zuvor rekonstruiert zu haben,
birgt die Gefahr der Ausbildung eines deprofessionalisierten Lehrerhabitus
(Oevermann 2002, Brüggemann 2012). Mit ihm werden die Probleme der Vermittlung fachlichen Verstehens verstetigt, anstatt diese der individuellen Bearbeitung und etwaigen Lösung zugänglich zu machen. Neben einer vorschnellen
Ausbildung von Literaturvermittlern – unter denen durchaus nicht wenige zu
finden sind, welche so rasch wie möglich Lehrerin oder Lehrer werden wollen,
ohne sich mit Vermittlungsproblemen vorher herumschlagen zu wollen – ist das
seitenverkehrte Verhältnis von Konstruktion und Rekonstruktion auch ein
theoretisches: Alle mir verfügbaren Einführungen in die Deutschdidaktik und
Literaturdidaktik sind normative Theorien. Sie beschreiben, wie Literaturunterricht sein soll, und nicht, wie er ist – geschweige denn erklären sie den Abstand
zwischen beidem. Insofern ist literaturdidaktische Theorie bislang eine Theorie
für die Praxis und nicht eine Theorie der Praxis selbst. Ich schlage deshalb eine
1 http://www.uni-frankfurt.de/fb/fb04/forschung/paerdu.html.
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realistische Wende in der Literaturdidaktik vor. Dabei wird nicht Praxis unter
Rückgriff auf theoretische Präkonzepte subsumierend (v)erschlossen, wie es in
Unterrichtsnachbesprechungen im Referendariat beobachtbar ist. Eine Realistische Literaturdidaktik ersetzt nicht normativ die vorgefundene Praxis, sondern
sucht sie ggfs. mit kleinen Änderungen durch die rekonstruierten, in ihr selbst
angelegten Möglichkeiten zu modifizieren, damit die Praxis gelingen kann. Sie ist
eine Theorie der Möglichkeiten und Grenzen von Literaturvermittlung und
-aneignung, die auf Basis von rekonstruierten Vermittlungsprozessen generiert
wird (Gruschka 2005, Gruschka 2013). Diese Theoriebildung durch Rekonstruktion der spezifischen sozialen (nämlich literaturpädagogischen) Praxis ist
etwas anderes als Unterrichtskritik, geht es doch um die Rekonstruktion der in
den Prozessen der Literaturvermittlung handlungsleitenden Normen. Der Fokus
ist dabei auf alltäglichen Literaturunterricht gerichtet, also weder auf das, was in
der evidenzbasierten pädagogisch-psychologischen Unterrichtsforschung normativ als best practise beschrieben wird, noch geht es ausschließlich um die Rekonstruktion von Unterricht, der an seinen eigenen Ansprüchen scheitert und in
Anlehnung an den Gegenbegriff als bad practise bezeichnet werden könnte.
Letzteren strukturell aufzuklären erscheint allerdings sinnvoll im Rahmen einer
Bestimmung der typischen Probleme von Literaturvermittlung, derer es eine
endliche Zahl gibt und die keine endlose Zahl individueller, bedauernswerter
Unfälle darstellen. Ihre Bestimmung kann daher zu einer Lehrerentlastung beitragen, wenn Lehrende in der Lage sind, Vermittlungsprobleme nicht dem eigenen Unvermögen, der Institution oder der Schülerklientel zuzuweisen, sondern
vielmehr differenzieren können beispielsweise zwischen misslungenem Unterricht aufgrund von Fehlentscheidungen und dilemmatischen Strukturen (literatur)pädagogischen Handelns – wenn es also keine allumfassend befriedigende
Generallösung gibt, sondern jede Entscheidung bestimmte Vor- und Nachteile
impliziert (vgl. Helsper 2000, Lindow/Wieser 2013).
2. Unerledigte Hausaufgaben der normativen Literaturdidaktik
Publizierte Unterrichtsmodelle von Literaturdidaktikern und Unterrichtsentwürfe von Studierenden haben eines gemeinsam: Sie funktionieren auf dem Papier immer, ohne jede Reibung. Riskante oder schwierige Bereiche des Vermittlungshandelns und der Aneignungsprozesse bleiben in der Regel unbenannt.
Will man seinen Studierenden fachdidaktisches Begründen mit Hilfe publizierter
Unterrichtsmodelle vorführen, stößt man dort häufig auf Sätze, die mit »Hier
bietet es sich an« oder »Dann kann man« beginnen und die die Übergänge zwischen einzelnen Unterrichtsschritten eben gerade nicht begründen. Zunehmend
trifft man auf Publikationen, in denen »Methodische Bausteine« (exempl. Spin-
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ner 2012, 41)2 angeboten werden, die man dann bei der Unterrichtsplanung zusammenstellen kann, wie man will. Aber wie will man, wenn man als Studierender
oder Praktikant zunächst weder Begründungszusammenhänge kennt noch über
entsprechende Erfahrung verfügt? Das Baukastensystem entspricht dem Bedürfnis nicht weniger Novizen, man könne Literaturunterricht im Sinne einer
Kompositionslogik zusammenstellen. Dieses Bedürfnis und seine bereitwillige
Befriedigung durch die Fachdidaktik sind aber Bereiche, die aufgrund der Ausblendung von didaktischen Entscheidungsstrukturen einer Deprofessionalisierung der angehenden Lehrer Vorschub leisten.
Wenn Bildung als Erkenntnisgewinn notwendigerweise mit einer krisenhaften
Erfahrung verbunden ist, weil vorhandene Vorstellungen und Konzepte des
Subjekts irritiert werden, nicht mehr funktionieren und deshalb modifiziert
werden müssen (vgl. dazu die Arbeiten von Jean Piaget, John Dewey, Martin
Wagenschein, Andreas Gruschka)3, um Verstehen und Einsicht zu gewährleisten,
dann müssen gerade die riskanten und krisenhaften Situationen und Prozesse der
Literaturvermittlung in den Fokus des literaturdidaktischen Diskurses und der
literaturdidaktischen Lehrerausbildung gerückt und nicht ausgeblendet werden.
Die Planbarkeit bildsamer Erfahrung ist umstritten und wird vielfach bestritten.
Dennoch darf man sie nicht ausschließen, denn wenn sie sich unverhofft bemerkbar macht als Krise der Erfahrung und als Krise des Unterrichtsprozesses,
dann ist die Lehrperson herausgefordert, damit pädagogisch umzugehen.
Über die tatsächlichen Irritationspotenziale von Literatur und ihrer literaturdidaktischen Inszenierung weiß man wenig. Dies gilt auch für Grenzen der Literaturvermittlung. Zwar definiert Klaus-Michael Bogdal Deutschdidaktik »als
Vermittlungswissenschaft, die Wissen über die Vermittlung (und die Nichtvermittlung) von Literatur und Sprache hervorbringt« (Bogdal 2012, 125). Eine
Debatte über nicht vermittelbare literarische Gegenstände und literaturwissenschaftliche Konzepte blieb jedoch innerhalb der Deutschdidaktik ebenso aus wie
die empirische Untersuchung der Nichtvermittlung von Literatur im Deutschunterricht. Solange Kollegen im Verständnis von angewandter Wissenschaft
weiter daran festhalten, nur guten Literaturunterricht in den Blick zu nehmen
(Dawidowski 2012, 130, Abraham 2012, 62) und darauf verzichten, grundlagenforschend die im Literaturunterricht tatsächlich wirksamen Normen zu rekonstruieren, wird wenig Wandel zu erwarten sein. Wenn die gut gemeinten Konzepte
in der Anwendung des Novizen nicht funktionieren, greift dieser, wie Jörn
Brüggemann konstatiert, auf verinnerlichte Handlungsmuster zurück, die er eben
nicht im Studium, sondern als Schüler in der Schule passiv erworben hat (Brüggemann 2012, 175): Das fachdidaktische Wissen und die im Studium erworbenen
2 Allerdings weist Spinner erfahrungsbasiert an zahlreichen Stellen in sehr deutlicher
Weise auf typische Missverständnisse und Fehler beim Einsatz der von ihm vorgestellten
Methoden hin.
3 Vgl. zum Verstehen im Unterricht zusammenfassend Combe/Gebhard 2012.
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fachdidaktischen Überzeugungen bleiben dann unverbunden bzw. weitgehend
wirkungslos oder werden gar gegen die in der Praxis gewonnenen ›Erfahrungen‹
als praxisferne Theorie ausgespielt.
Die Literaturdidaktik hat es weitgehend versäumt, sich mit realem Literaturunterricht zu beschäftigen. Das kann daran liegen, dass darin wenig Innovationspotenzial gesehen wird. Warum soll man sich mit Unterrichtsstunden auseinandersetzen, in denen das Ritual des Interpretationsaufsatzes eingeübt wird,
wenn dieses Muster fernab der Neuen Aufgabenkulturen praktiziert wird, die man
implementieren will? Der zusammengesetzte Terminus ist hochgradig normativ
und zugleich unterbestimmt – ein Effekt, den man aus der Werbesprache kennt:
Was bedeutet neu? Inwiefern handelt es sich um Kultur? Warum wird die Kultur
relativiert bzw. erweitert zur Pluralform? Eine Antwort auf die zuoberst gestellte
Frage könnte lauten: Weil es auch neue Aufgabenunkulturen geben kann sowie
alte Aufgabenkulturen und alte Aufgabenunkulturen. Erst wenn man diese Unterscheidungen macht bzw. verfolgt und nicht automatisch das Neue gut und das
Alte schlecht ist (Innovationslogik), kommt man zu einer theoretischen Bestimmung dessen, was eine fachspezifische Aufgabenkultur ausmacht und welche
Aufgabenformate unerwünschte Nebeneffekte haben. So kann man sich etwa
fragen, ob die den Novellentext unterbrechenden und gliedernden Aufgaben und
Fragen in Cornelsens Ausgabe von »Kleider machen Leute« nicht Vorschub
leisten, den literarischen Text vornehmlich als lehrbuchartigen Lerngegenstand
wahrzunehmen. Aufschließungsferne inhaltssichernde Kontrollfragen des Lehrers nach dem Monat der Wanderschaft und dem Inhalt der Tasche des Protagonisten entsprechen dieser Struktur. Es wäre beschönigend, hier von sozialisatorischen Randeffekten zu sprechen.
Zu den unerledigten Hausaufgaben der Literaturdidaktik gehören unter anderem folgende Bereiche: Weltwissen und Fiktionalität. Oft gerät der Gegenstand
als literarischer gar nicht in den Blick, sondern der Inhalt wird laiensoziologisch
bzw. laienpsychologisch quasireal behandelt, als wären die Figuren Personen. Das
lässt sich aufgrund der Suggestivität des Gegenstandes zwar kaum vermeiden,
wird aber auch nicht reflektiert. Endlosdiskussionen im Unterricht lassen sich
auch darauf zurückführen, dass die Beteiligten über ganz unterschiedliches
Weltwissen und damit verbundene Überzeugungen verfügen, die jedoch nicht
expliziert werden (vgl. Pflugmacher 2014b zum interkulturellen Literaturunterricht).
Die Frage hinsichtlich der Rolle literaturwissenschaftlicher Terminologie und
literaturwissenschaftlicher Konzepte in der Literaturvermittlung ist zwar eigentlich beantwortet. Deutschunterricht ist keine germanistische Vorschule,
sondern soll Bildung im Umgang mit Literatur ermöglichen und darüber hinaus
Lesemotivation stiften. Dennoch gibt es nicht wenige Protokolle davon, dass im
Unterricht Literatur fortlaufend verzweckt wird als Exemplum für bestimmte
Darstellungsformen, epochenspezifische Merkmale etc. Wenn Literatur als
Mittel zum Zweck der Vermittlung literaturwissenschaftlicher Konzepte dient
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und nicht umgekehrt die Vermittlung der literaturwissenschaftlichen Konzepte
der gesteigerten bzw. erleichterten Erschließung literarischer Texte, sollte man
dann nicht von Literaturdidaktik sprechen, sondern von Literaturwissenschaftsdidaktik?
Die Herausforderung der Einführung des subjektiv psychisch Neuen: Wie
entsteht literaturbezogenes Wissen im Deutschunterricht? Sicherlich über Begleittexte und Lehrervorträge, aber auch entdeckend im Umgang mit dem ästhetischen Text selbst. In zahlreichen Unterrichtstranskripten wird darüber hinaus mit der Fallstruktur Üben des Unverstandenen sichtbar, dass die Einführung
des Neuen eine große Herausforderung für den Deutschlehrer darstellt: Ein
Lehrer lässt etwa seine Schüler literarische Figuren charakterisieren, als könnten
sie dies bereits völlig routiniert, oder er spricht vom Spannungsbogen kontrafaktisch als einem bereits eingeführten Fachbegriff. Zu erforschen wäre weniger
das Register der Implementationsmethoden als die möglichen Verfahren, Neues
als Neues zu inszenieren und ggfs. erfolgreich einzuführen.
Literatur ist mehrdeutig. Wie geht der Lehrer damit um, dass es nicht genau
eine richtige Deutung gibt, aber eben auch nicht beliebige Deutungen? Und wie
gehen die Schüler damit um, dass – anders als in anderen Fächern – mehrere
Ergebnisse richtig sein können? Lernen sie den literarischen Gegenstand als
unterbestimmten Lerngegenstand geringschätzen oder entwickeln sie ein Vergnügen an der Widerständigkeit des Gegenstandes und der irritierenden Vielfältigkeit der Interpretationen? Wenn man so will, geht es hierbei auch um die
Frage nach der Einrichtung einer der Textsorte angemessenen Lesestrategie.
Wie inszeniert der Lehrer den literarischen Gegenstand: Als ästhetisches Erfahrungsobjekt oder als Lerngegenstand? Oder beides zugleich? Geht das überhaupt? Wie gehen die Schüler mit dieser Inszenierung um? (Vgl. Pflugmacher
2011)
Nur kurz erwähnt seien noch weitere relevante Bereiche wie Erziehung durch
Literatur als Erwartung von Orientierung; die Beendigung von Unterrichtsreihen
als Frage nach der (un)vollständigen Erschließung, das erfolgreiche Reden über
ungelesene Literatur als Nichtlesekompetenz, verbunden mit der Rolle von Sekundärliteratur, das Phänomen/Problem des doppelten Didaktikers bei didaktischen Fertigmaterialien (vgl. Pflugmacher 2007), der Umgang mit dem eigensinnigen Interesse von Schülern an Literatur, die Arbeit am Verstehen der Schüler, die
Entstehung von Ergebnissen.
3. Realistische Literaturdidaktik
All diese den alltäglichen Unterricht strukturierenden Herausforderungen
sprechen dafür, dass die Deutschdidaktik als angewandte Wissenschaft Grundlagenforschung braucht, d. h. dass man die Strukturgesetzmäßigkeiten der literaturpädagogischen Praxis erst rekonstruiert (Oevermann 2000), bevor man sie
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konstruierend optimiert. Damit soll die traditionelle, erfahrungsbasierte oder
innovationslogisch vorgehende Fachdidaktik ergänzt werden. Es ist dennoch eine
Herausforderung des aktuellen literaturdidaktischen Diskurses, wenn nicht
Normen für guten Unterricht entwickelt werden, sondern die tatsächlich im
Unterricht wirkenden Normen als Entscheidungsmuster, sogenannte Fallstrukturgesetzlichkeiten, bestimmt werden.
Eine realistisch gewendete Literaturdidaktik entwickelt eine Theorie der
Praxis. Ihr geht es um die Rekonstruktion der immanenten Normativität der Literaturvermittlungspraxis: Die Normen des Lehrers, die Normen der Schüler und
die Normen des jeweiligen literarischen Gegenstandes (notwendige Verstehensvoraussetzungen, vgl. Pflugmacher 2011, 2014a–c, Zabka 2012) sind nur im
Idealfall deckungsgleich oder gar den Beteiligten transparent zugänglich. Ein
Großteil der alltäglichen Vermittlungskrisen rührt daher, dass Lehrer und Schüler
unterschiedliche Normen im Umgang mit Literatur und Literaturunterricht
haben. Die dabei entstehende Reibung in Gestalt von Vermittlungskrisen ist
daher buchstäblich normal. Jedoch ist es im Hinblick auf eine professionelle(re)
Ausübung des Berufs sinnvoll, diese Krisen zu reflektieren und ggfs. zu reduzieren.4 Gewonnen wäre damit nicht nur Unterrichtszeit für Aneignungsprozesse,
sondern auch eine bewusstere Vermittlungspraxis, in der der (neue) Lehrer sich
die Vermittlungsprobleme nicht selbst zuschreibt. Ein Deutschlehrer muss beispielsweise sein Lernziel der Einsicht, dass literarische Texte sich nicht eindeutig
interpretieren lassen, es also aus Gründen verschiedene zulässige Interpretationen gibt, durchsetzen gegen Ergebniskulturen anderer schulischer Fächer, in
denen eindeutige Ergebnisse erwünscht sind. Das wirkt in den Deutschunterricht
hinein, indem es die Schülererwartungen und das Schülerhandeln prägt.
Über die Einzelfallbestimmungen kommt man auf lange Sicht zu einer
Strukturtheorie literaturdidaktischen Handelns, welche die Handlungsmöglichkeiten und -grenzen des Literaturvermittlers systematisch beschreibt. Sichtbar
werden dabei typische Konstellationen gelingender und misslingender Literaturvermittlung. So verstanden, ist diese Korrektiv einer bloß messenden und
beschreibenden Unterrichtsforschung und Korrektiv der utopischen Literaturdidaktik.
4. (Literatur-)Pädagogische Unterrichtsforschung
Das Programm einer Realistischen Literaturdidaktik zielt auf zweierlei: Einerseits soll eine rekonstruierende literaturdidaktische Unterrichtsforschung zu
einer empirisch gehaltvollen Theorie von Literaturvermittlung und -aneignung
führen, welche die zentrale Herausforderungen (literatur-)pädagogisch-profes4 Im Gegenzug sollten Erkenntniskrisen nicht reduziert oder vermieden werden, weil
diese Irritationen ja gerade der Ausgangspunkt für bildsame Erfahrung sind.
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sionellen Handelns sichtbar macht (vgl. Oevermann 1996, 2002). Darüber hinaus
kann die Integration von Fallarbeit in die fachdidaktische Lehre helfen, durch
praxisnahe Analysen deprofessionalisierende Einstellungen angehender
Deutschlehrer abzubauen und ein realistisches Berufsbild anzubahnen.
Die Möglichkeiten einer pädagogischen Unterrichtsforschung hat Andreas
Gruschka kürzlich umfassend beschrieben (Gruschka 2011). Es handelt sich um
eine Forschungspraxis, die sich der Komplexität der Unterrichtswirklichkeit stellt
und diese nicht von vorneherein auf vorbestimmte Beobachtungsparameter reduziert. Darin unterscheidet sie sich von Leistungsmessungsstudien und Implementationsforschung. Gleichwohl ist ihr Anspruch ein anderer als der von hermeneutisch-interpretativen Fallstudien. Die mit ihr verbundene kritische Optik
ist keine Abweichungskritik, sondern eine Kritik, die neugierig interessiert ist an
der Strukturlogik dessen, was man vielleicht selbst anders machen oder gar ablehnen würde. Ihr geht es nicht um die Frage, ob die Figurencharakterisierung ein
angemessenes und erreichbares fachdidaktisches Ziel ist. Ihr geht es vielmehr um
Herstellung von Fragwürdigkeit: Was machen wir eigentlich, wenn wir eine Figur
charakterisieren? Wie wird diese Kompetenz im Unterricht vermittelt bzw. angeeignet? Es geht also um die Entwicklung einer pragmatischen Theorie literaturdidaktischen Handelns.
5. Literaturpädagogische Professionalisierung
Die fachdidaktische Fallarbeit im Deutschstudium bietet sich für verschiedene
Herausforderungen der Lehrerausbildung als Lösung an. Rechnung getragen
wird der hochschuldidaktischen Forderung, Studierende im Rahmen ihres Studiums in die Forschung einzubinden. Wenn »die Durchdringung des Aneignungsprozesses selbst« (Zabka 2012b, 180) sowie des Vermittlungshandelns der
Kern der universitären Fachdidaktikausbildung sind, sind Lehrveranstaltungen
sinnvoll, die genau dies im Sinne von Forschendem Lernen ermöglichen. Anders
als im Referendariat können die Studierenden handlungsentlastet die Entscheidungen der Literaturvermittler langsam nachvollziehen und dabei die Sinnstrukturen ihres Handelns erschließen. Fallarchive wie das ApaeK bieten den
Studierenden mittlerweile hinreichend viele Transkripte, dass gezielt Fragestellungen entwickelt und Transkripte ausgewählt werden können. Das forschende
Studium der Praxis ist eine geeignete Alternative zur unangeleiteten Unterrichtsbeobachtung im Schulpraktikum, durch die viel Reflexionspotenzial vergeudet wird. Deshalb ist fachdidaktische Fallarbeit auch eine Lösungsmöglichkeit
für die breit geforderte frühzeitige Verzahnung von Theorie und Praxis. Studierende lernen dabei in fachdidaktischen Alternativen zu denken, und zwar nicht
im Sinne einer normativen Ersetzungslogik, sondern durch das Herausarbeiten
der sinnvollen alternativen Handlungsmöglichkeiten in der protokollierten Sequenz. Durch die Analyse des Fremdfalls als Gruppenarbeit im Seminar lernen
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sie, eigene Routinen in Frage zu stellen und den eigenen Standpunkt zu relativieren. Sie lernen im Zusammenspiel und Auseinanderfallen von Vermittlung
und Aneignung fachspezifische Entscheidungssituationen (Handlungsmuster)
herauszuarbeiten, inkl. typischer Fehlformen und ihrer Struktur. Die Notwendigkeit, das fachdidaktische Handeln eines unbekannten Lehrers Schritt für
Schritt begründen zu müssen, ist darüber hinaus eine Erziehung zur genauen
Wahrnehmung und präzisen, nachvollziehbaren Versprachlichung. Die Notwendigkeit und Unvermeidbarkeit der Routinenausbildung im fachdidaktischen
Lehrerhandeln wird mit der Fähigkeit verbunden, diese Routinen fallbezogen
aufzuschließen.
Grenzen. Die fachdidaktische Fallarbeit hat Grenzen. Unter den Studierenden
gibt es nicht wenige, welche möglichst schnell als Deutschlehrer handeln können
wollen. Die Analyse von Unterricht erscheint ihnen dabei wenig hilfreich oder gar
hinderlich, weil bei der Fallarbeit der Blick auf die Schwierigkeiten der Literaturvermittlung fällt und die utopische Dimension des gewählten Berufs relativiert
wird. Zudem fällt manchen Studierenden das verfremdend langsame und exemplarische Vorgehen bei der Analyse schwer, welches aber für eine kontrolliert
methodische Fallarbeit unabdingbar ist. Auch das Zusammenspiel von Expertisevermittlung und rekonstruierender Analyse ist schwierig: Die fachdidaktische
Terminologie liefert ein Modell, durch Benennung das kontingente Unterrichtsgeschehen beschreibbar zu machen. Die Subsumtion, mit der die Novizen
den Unterricht schnell auf den Begriff bringen, verhindert aber den rekonstruktiven Nachvollzug der Praxis, anstelle diesen zu befördern. Schließlich ist
auch die Bereitschaft zu Kritik ein Problem: Manche Studierende finden den
analysierten Unterricht ganz normal: »Das ist halt so«, lautet ihre Erfahrung.
Andere kritisieren den Lehrer hemmungslos, der alles falsch machen würde.
Beide Typen verbauen sich mit dieser vorschnellen Kritik die Möglichkeit, den
Unterricht und die in ihm zu entdeckenden fachspezifischen Phänomene zu
verstehen. Ebenso sind Ironie und Zynismus zu vermeiden. Daher bedarf es einer
intensiven Betreuung der Fallarbeit, wenn sie wirken soll.
Die Implementation einer Realistischen Literaturdidaktik in die universitäre
Deutschlehrerausbildung bedarf eines spiralförmigen Curriculums neben der
fachdidaktischen Expertisevermittlung. In einer Einführungsvorlesung können
bereits analysierte Fälle vorgestellt werden, um in die typischen Herausforderungen der Literaturvermittlung einzuführen und ein realistisches Berufsbild zu
vermitteln. Dabei kann auf eigenes oder auf Lehrbuchmaterial zurückgegriffen
werden (Pflugmacher 2014c). Reine Fallseminare entsprechen nicht den Erwartungen der Studierenden und der Aufgabe der Fachdidaktik, auch fachdidaktisches Wissen und Planungskompetenz zu vermitteln. Dennoch können thematische Fachdidaktikseminare Anteile von Fallarbeit haben, wenn etwa in einem
Seminar zur Dramendidaktik Fälle oder Fallstudien herangezogen werden zur
Frage des Spannungsbogens, der Figurencharakterisierung etc., die in wenigen
Sitzungen unter Anleitung analysiert werden. Die Analysen sollten verschriftlicht
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werden, da hier die Begründungsverpflichtung eine oberflächliche Fallbeschreibung verhindert. Die Fallarbeit kann auch zur praxisnahen Vorbereitung oder
Nachbereitung von Schulpraktika im Rahmen von schulpraktischen Studien
dienen. Während hier kurze Sequenzen aus Analyseklassikern herangezogen
werden, mit denen der Dozent bereits vertraut ist, sollten fallanalytische fachdidaktische Bachelor- und Masterarbeiten neue Fälle erschließen. Solche Arbeiten können über (fächerübergreifende) fachdidaktische Forschungswerkstätten betreut werden oder im Rahmen eines Forschungskolloquiums. Die kasuistische Praxis gibt exemplarische Einblicke in die Berufswirklichkeit und ihre
fachspezifischen Sinnstrukturen. Dazu müssen die Studierenden nicht unbedingt
über die Fallbestimmung hinaus weisende Theoriebeiträge entwickeln. Dies sollte
fachdidaktischen Promotionsprojekten vorbehalten sein, die einer speziellen
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[email protected]
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