GruwortProf.Dr.Lambert (PDF, 431 kB ) - Düsseldorf

Grußwort bzw. kurzer „Impulsvortrag“ von Prof. Dr. Lambert T. Koch, Bergische
Universität Wuppertal, zur DGB-Veranstaltung „Industrie 4.0“
Schönen guten Abend!
Auch von meiner Seite nochmals ein herzliches Willkommen an alle Anwesenden!
Zunächst danke ich für die Einladung. Herr Grüning hatte in einem unserer Vorgespräche gefragt, ob ich nicht aus meinem Grußwort einen kleinen Impulsvortrag machen
könnte. Dies möchte ich gerne versuchen, ohne freilich Frau Kollegin Richert aus
Aachen ins Gehege kommen zu wollen, die als echte Spezialistin ja gleich ausführlich
auf die Herausforderungen von Industrie 4.0 aus wissenschaftlicher Sicht eingehen
wird.
Lassen Sie mich als Rektor der ortsansässigen Universität vorab noch meiner Freude
darüber Ausdruck verleihen, dass wir mit dem DGB bereits lange in unterschiedlichen
inhaltlichen Kontexten hervorragend zusammenarbeiten. Nicht zuletzt das heutige
Thema ist ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig es ist, wenn sich bei der Beurteilung
zentraler gesellschaftlicher Veränderungen Wissenschaft und Praxis zusammentun.
Und es sind gerade solche Formate, im Rahmen derer Politik, Wirtschaft, Wissenschaft
und Intermediäre zusammenkommen, die für eine aufeinander bezogene, die je andere Seite ernst nehmende Meinungsbildung so zentral sind.
Da angesichts der Veränderung unserer modernen Berufs- und Arbeitswelt die Herausforderungen für alle Beteiligten groß erscheinen und das für die Lösungsfindung nötige
Wissen hochkomplexer Natur ist, bringt uns ein ideologiegesteuertes „Aneinander-vorbei-Dozieren“ nicht weiter. Das betrifft die Lehren der neoliberalen Arbeitsmarkttheorien genauso, wie Versuche „moderner Maschinenstürmerei“, um ein Wort Reiner
Hoffmanns aufzugreifen, der übrigens seinerzeit an der Bergischen Universität studiert
hat. Insofern nochmals Glückwunsch an die Veranstalter zum heutigen Format!
Was nun das Thema selbst anbetrifft, also die Informatisierung der Fertigungstechnik
und der Logistik bei der Maschine-zu-Maschine-Kommunikation, oder kurz: „Industrie
4.0“, so müssen wir eigentlich sogar zugeben, dass wir die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser noch völlig unvollendeten und zunehmend alle Lebensbereiche erfassenden Transformation unserer Arbeitswelt noch gar nicht ausreichend verstanden haben können. Wie sagt der Philosoph Sören Kierkegaard sinngemäß? Das Leben wird
vorwärts gelebt und rückwärts verstanden. Auch wenn der Kontext für dieses Zitat ein
anderer war, so trifft eine solche Aussage erst recht für gesamtgesellschaftliche MegaVeränderungen, wie die vierte Industrialisierung zu.
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Aus wissenschaftlicher Sicht zeichnen sich solche komplexen Veränderungen vor allem
dadurch aus, dass sie nur im Längsschnitt zu erfassen sind und interdisziplinär analysiert werden müssen. Beteiligt sind in diesem Fall – natürlich – die Wirtschaftswissenschaften, die Ingenieurwissenschaften und die Psychologie. Aber eben auch diejenigen
Teile der Wissenschaft, die sich mit normativen Fragen auseinandersetzen, mit dem
Menschen und seiner Lebenswelt sowie mit ethischen Anforderungen an dieselbe.
Dass die Berufs- und Arbeitswelt im Wandel begriffen ist, erlebt jeder von uns Tag für
Tag. Jeder kann im Freundes- und Bekanntenkreis nachvollziehen, wie die Erwerbsbiografien immer bunter und vielfältiger werden. Das Normalarbeitsverhältnis weicht
mannigfaltigen Formen einer neuen Selbstständigkeit oder zumindest beruflichen Teilautonomie. Auch die schiere Vielzahl der Berufsfelder und Beschäftigungsmöglichkeiten nimmt ständig zu. Nicht nur für das Bildungssystem ist es eine große Herausforderung, darauf angemessen und flexibel zu reagieren.
Überhaupt sind in der „Neuen Arbeitswelt“ – viel mehr als früher – ständige Lern- und
Veränderungsbereitschaft, Kreativität und Flexibilität gefragt. Es kommt zu völlig
neuen Mustern im Verhältnis von Arbeitszeit und Freizeit: Künftige Wissensarbeiter
werden ihrer Arbeit fast von überall und nahezu zu jeder Tages- und Nachtzeit nachgehen können. Vielfach genügen der Laptop oder das Smartphone, die man – vielleicht
zum Missvergnügen der Familie – in der Couch oder am Frühstückstisch aufklappt.
Diese Welt birgt große Chancen, nicht zuletzt für die Persönlichkeitsentwicklung der
betroffenen Menschen – doch gleichzeitig erhebliche Gefahren. Vor allem dann, wenn
Einzelne nicht über das nötige Rüstzeug und die Stabilität in ihrem persönlichen Leben
verfügen. Sie verspüren dann einen gesteigerten Druck in ihrem Alltag, der bis hin zu
massiven gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen kann.
Die Art und Weise, wie Menschen mit dieser Situation umzugehen versuchen, beschreibt Stefan Grünewald in seinem Buch „Die erschöpfte Gesellschaft“. Er stellt fest,
dass sich viele Menschen nicht mehr über das freuen könnten, was sie geschafft haben.
Nicht wenige seien selbst in der Freizeit zu erschöpft, um wirklich zu regenerieren und
Sinnvolles mit sich anzufangen. Sie fielen gewissermaßen in ein Zeitloch. Oder sie würden die Erschöpfungsgrenze einfach mit Kaffee, Taurin und anderen Formen des
Hirndopings gewissermaßen überfahren.
Ich fürchte, die hier beschriebenen Gefahren sind real. Zu den Folgen eines solchen
dauerhaften Missbrauchs unserer Kräfte gehört nicht zuletzt die Zunahme psychosomatischer Erkrankungen – Zusammenhänge, die sich durchaus statistisch belegen lassen.
Liebe Zuhörer, trotzdem, ich bin kein Pessimist und sehe als gelernter Volkswirt natürlich die technologischen und ökonomischen Chancen, die mit der Digitalisierung der
Arbeitswelt einhergehen. Und, wie schon gesagt, ergeben sich auch für den Einzelnen
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ganz neue Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, eines abwechslungsreicheren beruflichen Alltags und einer spannenden Karriere.
Doch, es bleibt dabei, die genannten Gefährdungen haben es ebenfalls in sich. Vor allem bedarf es einer hohen Selbstkompetenz, sich immer wieder auszubalancieren, zu
entschleunigen und hin und wieder aus dem persönlichen Dauer-Standby in einen
schöpferischen Off-Modus zu schalten. Wer sich getrieben und unter massivem Erfolgsdruck möglicherweise bisweilen überfordert fühlt, dem ist es besonders schwer
möglich, seinen Alltag in dieser Weise vernünftig auszutarieren.
Ich meine, dass hier sowohl für das Bildungssystem – präventiv-längerfristig gedacht –
als auch für die Gewerkschaften, was unmittelbarer die Berufswelt anbetrifft, größte
Herausforderungen ins Haus stehen. Wenn es in früheren Zeiten darum ging, die unmenschlichen Zustände für die Arbeiterklasse im aufkommenden Industriezeitalter anzugehen, so lautet die Aufgabe heute, überforderten Menschen in der digitalen Arbeitswelt Unterstützung und Begleitung zukommen zu lassen. Während es früher einfacher war, Lösungen quasi von der Stange zu konzipieren, ist die Schwierigkeit heute,
dass wir es zugleich mit einer hochgradigen Individualisierung der Berufswelt zu tun
haben.
Dabei heißt es, die positiven Seiten dieser Welt konstruktiv anzunehmen, aber vor den
Auswüchsen zu warnen. Zu fragen ist zum Beispiel: Wie kann ein internetbasiertes Arbeitsmodell der Zukunft aussehen? Wie lassen sich die Interessen von Crowd-Workern
vertreten, die häufig gar keiner bestimmten Branche mehr zuzuordnen sind? Wie
könnte eine innovative Arbeitszeitpolitik aussehen, die im nahtlosen Übergang von Arbeitszeit in Freizeit vor Selbstausbeutung schützt?
Klar ist jedenfalls,
 wir müssen uns mehr auf die einzelnen Menschen einlassen. Mit allen Ressourcenanforderungen, die das mit sich bringen wird.
 Wir dürfen individualisierte, kreativ-offene Lebensentwürfe nicht aus einem falsch
verstandenen Gutmenschentum heraus verbauen,
 müssen zum lebenslangen Lernen motivieren und entsprechende Freiräume schaffen,
 können oft nicht mehr mit den alten Rollenverteilungen arbeiten – z.B. hier Arbeitnehmer und dort Arbeitgeber,
 müssen schon von daher partnerschaftlicher miteinander umgehen.
D.h. insgesamt wird es viel stärker um Hilfe zur Selbsthilfe gehen, um die Begleitung
mündiger Menschen auf einem unbekannten Weg – eine ungeheure Herausforderung
für die Arbeitswelt in unserem Land, die es gewohnt war, streng institutionalisiert und
reglementiert, z.T. kleinteilig spartenorganisiert möglichst gestern schon zu planen,
was morgen passieren oder nicht passieren darf.
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Meine Damen und Herren! Das sind nur ein paar Gedanken, die mir bei dem Thema
mehr oder weniger spontan wichtig erscheinen – größtenteils sehr kursorisch. Doch,
wie gesagt, dieser Part war mir ja auch zugedacht. Nun dürfen, oder müssen, die Expertinnen und Experten ran. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns noch eine
fruchtbare Veranstaltung!
[es gilt das gesprochene Wort]
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