Rudolf Steiner und das Gralsmysterium

RUDOLF STEINER UND DAS GRALSMYSTERIUM
Der Prüfungsweg des Pa r z i v a l
Gralssuche
Denn noch sind wir, wenn wir den wahren
i n n e rsten Ruf der Menschheit ve rs t e h e n ,
Sucher nach dem Heiligen Gra l
und müssen es sein ...
Ex deo nascimu r, in Christo mori mu r, per spiri t u m
sanctum reviviscimu s .
Aus Gott bin ich geboren; in Christo sterbe ich;
durch den heiligen Geist werde ich wiederg e b o r e n .
Die Pflanze auf ihrer niederen Stufe hat diesen
keuschen Kelch, der Mensch hat ihn ve rl o r e n . Er hat
sich heru n t e r e n t w i c kelt in die unkeusche Begierde.
Aus dem ve rgeistigten Sonnenstrahl soll er ihn
w i e d e rum entstehen lassen. In Keuschheit soll er
e n t w i c keln dasjenige, was da schafft den heiligen
G ral der Zukunft.
In dem Masse, als die Entwickelung der Menschheit
die Erkenntnisse des Grales aufsaugen wird, kann
der Impuls, welcher durch das Christus-Ereignis
gegeben ist, immer bedeutsamer we r d e n . An die
äussere Seite der christlichen Entwickelung wird
sich immer mehr die innere anschliessen. Was durch
I m a g i n a t i o n , I n s p i ra t i o n , Intuition über die höheren
Welten in Verbindung mit dem Christus-Geheimnis erkannt werden kann, wird das
Vo rs t e l l u n g s - , Gefühls- und Willensleben der Menschen immer mehr durchdri n g e n .
Das ve r b o rgene Wissen vom Gral wird offenbar we r d e n ; es wird als eine innere Kra f t
die Lebensäusserungen der Menschen immer mehr durchdri n g e n .
Nachdem der Christus die Leibeshüllen des Jesus von Nazareth durchdrungen hatte,
konnten – im Ve rl a u fe der kommenden Zeiträume – A bbilder seiner Wesensglieder in
schicksalhaft vorbereitete Menschen eingepflanzt we r d e n . Nicht aber nur die drei
Leibesglieder des Christus Jesus ve rmochten sich dergestalt zu ve r v i e l f ä l t i g e n ; s o n d e rn
sogar auch das Ich, das als ein Impuls, wie er dazumal in dem astralischen Leibe angefacht worden ist, als in die dreifache Hülle des Jesus von Nazareth der Christus
e i n zo g , h a rr te von nun an der abbildlichen Über t ragung in die Ichorg anisation aufnahmefähiger Menschen.
Als A u g u s t i nus sich durchgerungen hatte, als sein Ätherleib zu wirke n
b e g a n n , da stiess er auf die Kräfte, die ihm einve r woben waren aus
dem A bbilde des Ätherleibes des Jesus von Nazareth in seinem Ätherl e i b. Und jetzt wurde er derjenige, der einen Teil der grossen Mysterienwahrheiten dem Abendlande ve rkünden ko n n t e. Die von dem
Jesus von Nazareth ausströmenden Seelenkräfte: die Empfi n d u n g s s e e l e,
die Ve rstandesseele und die Bewusstseinsseele.
Wir werden zu Gra l s s u c h e rn , indem wir unsere Bewussts e i n s s e e l e, in der das Ich sitzt, mit der Bewusstseinsseele
des Christus zu durchdringen bestrebt sind. Ist doch die
entgöttlichte menschliche Bewusstseinsseele davon bedroht,
im Kampf aller gegen alle unterzugehen.
Nunmehr gilt es, das Ich zum Christus-empfänglichen Org a n
zu machen. Das aber besagt, das Menschen-Ich muss fähig
we r d e n , sich aus dem Zentrum seiner Eigenkraft heraus mit
dem Christus-Ich zu ve r b i n d e n , wie dieses in dem Urbild
der Bewusstseinsseele des Jesus von Nazareth seit dem
M y s t e rium von Golgatha in der Geistaura der Erde leuchtet
und derer harr t , die ihr Ich zum Träger der Chri s t u s - I c h k ra f t
zu gestalten bestrebt sind. Das Urbild der durchchri s t e t e n
Bewusstseinsseele müssen wir erleben lernen – die war t e nden A bbilder des Chri s t u s - I c h , das der Christus im Leibe
des Jesus durch einen A b d ruck gebildet hat, gilt es aufleben
zu lassen.
Die Seele muss heute fra g e n , muss sich über sich selbst
e r h e b e n , aus sich selber hera u s w a c h s e n . Die Seele muss heute fra g e n , wie einstmals
Parzival fragen musste nach den Geheimnissen der Gra l s bu rg .
Der A h n h e rr der Bru d e rschaft des Heiligen Gral nahm die Schale, die der Christus Jesus
beim Heiligen Abendmahl benutzt hatte, und in dieser Schale hat er aufgefangen das
Blut des Erl ö s e rs , das vom Kreuze aus
seinen Wunden floss.
Gesammelt hat er das Blut, den A u sd ruck des Ich, in dieser Schale, im Heiligen Gra l . Er hat die Schale mit dem Blut
des Erl ö s e rs , mit dem Geheimnis des
A bbildes des Ich des Christus Jesus aufb e w a h r t am heiligen Or t , in der Bru d e rschaft.
Das hüllenlose Ich
Gelangt der Mensch zur Selbstwahrn e hmung seines Ich, seiner hüllenlosen Eigenwe s e n h e i t , dann gewahr t er sich zugleich im
Sanktuar seines We s e n s , im Allerheiligsten seiner selbst, wie dieses sich der Bewusstseinsseele zu erschliessen ve rm a g . Der Gott, der im Menschen wo h n t , s p ri c h t , wenn
die Seele sich als Ich erke n n t . Der Quell des schöpfe rischen We l t e n g rundes springt auf
im ve r b o rgenen Innern der Menschenwe s e n h e i t , im Geistestempel des Ich. Dem W i l l e n s K ra f t ze n t rum entspringt eine völlig neue Stufe der Menschheitsentwicklung. Vorher
wurden alle Schöpfungsimpulse gleichsam von aussen nach innen ausgestaltet. N u n m e h r
gilt es, aus dem Quellpunkt des eigenständigen Ich, ohne Rückgriff selbst auf altehrwürdigste Tra d i t i o n e n , ein völlig Neues erstehen zu lassen, das sich als die zukunftsgemässe
E rn e u e rung und Erwe i t e rung des Uralt-Heiligsten erwe i s t .
Die Geistgestalt des Parzival ist das Urbild der Bewussts e i n s s e e l e, die in sich die Bewusstseinsseele des Jesus
von Nazareth zur Entfaltung gelangen lässt, die das A bbild des Chri s t u s - Tr ä g e rs in sich ve r w i rklicht – Pa r z i v a l
ist der neue Gra l s k ö n i g .
Das in der Bewusstseinsseele sich selbst erfassende,
hüllenlos-einsame Ich ist das Komplementärbild des
von den Urmy s t e rien getragenen Ich. Das zur Eigens t ä n d i g ke i t , zur Freiheit gelangte Menschen-Ich muss
aus seinem We s e n s ze n t rum heraus das Gra l s my s t e rium
o f fe n b a r e n .
Der Mensch ve r w i rklicht seine Freiheit, indem er im
e rsterbenden Denken seinen Ich-Schatten reflektier t ,
seinen Ich-Leichnam gewahr wird. Auf diese Weise gelangt der Menschengeist in seiner Bewusstseinsseele
zur hüllenlosen Ich-Erfahrung – zur Freiheit, s c h we b e n d
über der absterbenden We l t , mit der sich der Sohnes-Gottes ve r bunden hat, um dem
Tod das neue Leben zu entbinden, dem Ve r weslichen das Unve r we s l i c h e. Der SohnesGottes hat den Untergang in Aufgang ve r w a n d e l t .
Wir nehmen nicht bloss teil an dem sich fo r t e n t w i c kelnden stofflichen We l t e n a l l ,
s o n d e rn an dem Absterben dieses We l t e n a l l s , und wir sind jetzt schon dabei, uns hera u sz u ringen bis zum blossen Bilddasein, und uns mit dem zu durchdri n g e n , dem wir uns freiwillig allein hingeben können, dem Chri s t u s - We s e n . Denn das Chri s t u s - Wesen steht so
in der Menschheitsentwickelung dri n n e n , dass das Verhältnis des Menschen zum Chri s t u s
nur ein freies sein kann. D e r j e n i g e, der sucht, gezwungen zu we r d e n , den Christus anzue rke n n e n , der kann sein Reich nicht fi n d e n ; der kann nur zu dem allgemeinen Va t e r- G o t t
g e h e n , der aber in unserer Welt sich nur noch mit einer untergehenden Welt beteiligt,
der eben wegen dieses Unterganges seinen Sohn gesandt hat.
Unseren Intellekt ve r d a n ken wir der untergehenden We l t . Deshalb können wir unsere
Freiheit auch mittels des Intellektes bewe i s e n . U n s e r e Freiheit müssen wir erg r e i fen
wo l l e n . Und wir erg r e i fen sie in dem A u g e n bl i c k , wo wir das Wesen des sinnlichke i t sfreien Denkens erfassen. Aber dieses sinnlichkeitsfreie Denke n , das braucht wiederu m
den Zusammenhang mit der We l t . Es findet ihn nicht, wenn es sich nicht verbindet mit
d e m , was als neue Substanz geradezu in die We l t e n r e volution eingezogen ist durch das
M y s t e rium von Golgatha.
Wenn Du im rechten Sinne ein Christ werden willst, musst du dir vo rs t e l l e n , dass in dir
etwas entstehen kann, von dem du sagen mu s s t , du kannst ebenso geistige Linien ziehen
von diesem in dir Lebenden zum dem zweiten A d a m , zu Chri s t u s , und zwar zu jenem
C h ri s t u s , der am dritten Tage sich aus dem Grabe erhoben hat.
Zwar gelangen wir in unserer Bewusstseinsseele zur Ich-Erfahrung der Freiheit, aber
indem wir uns in unserem Intellekt spiegeln. bleibt unser Selbst an die unterg e h e n d e
Schöpfung des Va t e r-Gottes gebu n d e n . Für einen kosmischen A u g e n blick leuchtet das
selbstbewusste Ich in seiner Freiheit auf; aber es würde mit der ze rstäubenden Erde
ins Nichts stürze n . Ohne die Tat der göttlichen Liebe, die sich in dem Mysterim von
Golgatha erfüllte, erwiese sich die Bewusstseinsseele als der unüberwindliche A b g ru n d
des zu seiner Freiheit gelangten Ich.
J a , w a h r h a f t i g , es ist möglich zu der Imagination von dem Berge zu gelangen, auf dem
das Kreuz erhöht war, jenes Kreuz, an dem ein Gott in Menschengestalt hing, ein Gott
der die Tat aus freiem Willen – das heisst aus Liebe – vo l l b racht hat, damit die Erde und
die Menschheit an ihr Ziel kommen können. Hätte der Gott, der mit dem Namen des
Va t e rgottes bezeichnet wird, es einst nicht zugelassen, dass die luzife rischen Einflüsse
an den Menschen hera n kommen ko n n t e n , so hätte der Mensch nicht die freie Ich-Anlage
e n t w i c ke l t . Den Freiheitsgedanken sollten die Menschen nicht erg r e i fen können ohne
den Erl ö s u n g s g e d a n ken des Chri s t u s . Wenn wir frei sein wo l l e n , müssen wir das Opfe r
b ri n g e n , unsere Freiheit dem Christus zu ve r d a n ke n .
Im Zerstörungsherd
Nur in einer We l t , in der das dem Menschen verwandte Götterwirken erstorben ist,
können wir unser Erde-Ich-Bewusstsein entfalten. Denn aus dem ers t o r b e n e n , ze r f a l l e nden Makrokosmos haben wir unsere Denkkräfte. Solange diese Denkkräfte in der Ve rgangenheit aus dem noch lebenden Makrokosmos kamen, waren sie nicht Grundlage
des selbstbewussten Menschen. Sie lebten als Wachstumskräfte in dem Menschen, d e r
noch kein Selbstbewusstsein hatte. Die Denkkräfte dürfen für sich kein Eigenleben
h a b e n , wenn sie die Grundlage bilden sollen für das freie Selbstbewusstsein. Sie müssen
für sich mit dem erstorbenen Makrokosmos die toten Schatten von Lebendigem der
kosmischen Vo r zeit sein.
D a s , was den gewöhnlichen Bewusstsein für den heutigen Menschen als Selbsterke n n t n i s
e rs c h e i n t , ist nur die umgewandelte A u s s e n we l t , indem dieselbe aus seinem eigenen
Inneren in sein Bewusstsein hinein sich spiegelt. Im Innern des Menschen wird Materi e
vollständig zurück verwandelt in das Nichts. Vollständig wird die Materie da in ihrem
Wesen ze rs t ö r t ... in das Chaos zurückgewo r fe n .
Im Grunde können die Niedergangskräfte in die Aufgangskräfte nur überführ t we r d e n ,
wenn der Mensch sich bewusst wird, dass er die Umhüllung eines Zers t ö rungsherdes ist.
Sprung über den A b g r u n d
Er stürzt sich in das Nicht-Sein, indem er über den A b g rund des Nichts spri n g t . Wäre
es nur so, so leuchtete im Menschenwesen für einen kosmischen A u g e n blick die Freiheit
a u f ; aber in demselben A u g e n blick löste sich auch die Menschenwesenheit auf.
Der Führer über diesen A b g rund kann
ihm eben nur das Mysterium von Golgatha sein.
M i t t e n d u rc h
Wie das Licht aus der Finsternis geboren
w i r d , so muss die helle Erke n n t n i s b e f ri edigung aus dem tiefsten Schmerze des
Daseins her vo rg e h e n .
Die Entwicklung der tiefsten, e i g e n e n
Kräfte des Menschen auf dem von allen
schlimmen Mächten umlauer ten einsamen We g , den wir in diesem wissenschaftlichen Zeitalter zu wählen haben,
wenn wird nicht in altehrwürdigen Traditionen stecken bleiben oder in Ve r z weiflung enden wo l l e n . Dem Ve r t rauen in uns selbst haben wir zu fo l g e n : g l e i c h v i e l , wohin es führ t .
Von Dämonen umlauert
Um seine Gedanken aus der göttlich-geistigen Welt herauslösen zu können, musste der
Mensch die mineralische Welt betreten. Ist doch das mineralische Reich nicht mehr Gott
– es ist der göttliche Leichnam. Nur deshalb ist es das Reich der F r e i h e i t . Sobald der
Mensch seinen physischen Leib als Leichnam der mineralischen Welt überg i b t , kann diese ihn nur ze rs t ö r e n . Der Mensch muss erst sterben, damit er als Leichnam in dem Reiche ist, in dem er frei ist auch seiner Naturers c h e i nung nach.
Seelenschulung
Eine Möglichkeit im okkulten Prüfungsweg liegt hier, die furchtbar sein kann. Es ist die,
dass der Mensch seine Empfindungen und Gefühle für die unmittelbare W i rk l i c h keit ve rl i e r t , und sich keine neue vor ihm auftut. Er schwebt dann wie im Leeren. Er kommt sich
wie abgestorben vo r. Die alten We r te sind dahin, und keine neuen sind ihm ers t a n d e n .
Die Welt und der Mensch sind dann für ihn nicht mehr vo r h a n d e n . – Das ist aber gar
nicht eine blosse Möglichke i t . Es wird für jeden, der zu höherer Erkenntnis kommen will,
einmal W i rk l i c h ke i t . Er langt da an, wo der Geist für ihn alles Leben für Tod erk l ä r t .
Er ist dann nicht mehr in der We l t . Er ist unter der
Welt – in der Unterwe l t . Er vollzieht die – Hadesf a h r t . Wohl ihm, wenn er nun nicht ve rs i n k t . We n n
sich vor ihm eine neue Welt auftut. Er schwindet entweder dahin; oder er steht als ein Verwandelter neu
vor sich. Im letzten Fall steht eine neue Sonne, e i n e
neue Erde vor ihm. Aus dem geistigen Feuer ist ihm
die ganze Erde wiederg e b o r e n .
Auf dem Einwe i h u n g s weg kommt der Schüler in Ber ü h rung mit dem Wesen des To d e s . Da bleibt nichts
mehr übrig von dem, was der Mensch im gewöhnlichen Leben fühlt; das alles muss er abstreife n . S e inen physischen Leib empfindet er, als wenn er ers t a rr t wäre. Die A u s s e n welt ist ve rs u n ke n . Nun hilft
nur noch die Tra i n i e rung der Selbstsicherheit, d e r
G e i s t e s g e g e n w a r t und anderer Fähigke i t e n , so dass
man einen Überschuss von seelisch-geistiger Energ i e
zur Verfügung hat. Auf diese Weise hat man sich bis
zu einer Grenze durchgearbeitet. Die Welt wird durchsichtig.
Auf dem Initiationswege sind deshalb auch ungezählte W i d e rstände zu überwinden,
äussere und innere. Dabei ist insbesondere zu durchschauen, dass der eigene A s t ra l l e i b
in seinen We s e n s t i e fen der Egoist, die selbstische Emotionskraft ist.
Bezwingen lässt sie sich nu r, indem der Mensch seine egoistischen Interessen mehr und
mehr in Menschheits- und Weltineressen ve r w a n d e l t . Ist er aber in der Geistesschulung
b e s t r e b t , die magnetischen, betäubenden Kräfte des A s t ralleibes zu läutern , dann entfalten die in ihnen wirkenden W i d e rs a c h e rmächte immer stärkere Gegenkräfte: Sie ve rw i c keln den seine okkulte Entwicklung anstrebenden Geistesschüler in immer neue
K ä m p fe, die es zu bestehen gilt – sein Leben ist wahrlich “ k a m p fe r f ü l l t ” .
Man fühlt nämlich wie ein Gegengewicht an dieser Stelle der okkulten Entwicklung
gegen den Egoismus des astralischen Leibes ein anderes, das immer mehr und mehr hera u f ko m m t , je mehr sozusagen die egoistischen Kräfte sich regen in dem freigewo r d e n e n
a s t ralischen Leibe. Man fühlt immer mehr Einsamke i t , eisige Einsamke i t . Das gehör t auch
zu dem, was man im innerlichen Wogen erl e b t , die eisige Einsamke i t . Und diese innere
E i n s a m ke i t , die ist es, die einen kuri e r t von dem Überhandnehmen des Egoismu s .
Indem einerseits der Egoismus zu Weltineressen erwe i t e r t , a n d e r e rseits die eisige Eins a m keit erfahren wird und beides zusammenwirk t , n ä h e r t man sich mehr und mehr der
Pa ra d i e s e s - I m a g i n a t i o n . Tritt sie auf, dann ist auch der Zeitpunkt geko m m e n , wo man
in der ganz richtigen Weise die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle erl e b t . An ihm
kommt man erst dann vo r b e i , wenn einem die frostige Einsamkeit so zum Erzieher geworden ist, dass man imstande ist, w i rkliche Weltinteressen zu seinen Interessen zu
machen – wenn man sich an seinen eigenen Emotionen, A f fekten und Tri e b g e w a l t e n
nicht mehr erwärmen kann; wenn es einem vielmehr zum Ideal geworden ist, im anderen
Wesen nicht sich zu suchen, s o n d e rn das andere Wesen bedeutungsvoller zu fi n d e n ,
als man sich selber fi n d e t .
Metamorphosen der Bew u s s t s e i n s s e e l e
Wieso hat der Mensch in seiner Bewusstseinsseele, wenn er den Keim der Pa r z i v a l Natur in sich beleben will, ein A bbild der Bewusstseinsseele des Christus Jesus zur
Entfaltung zu bringen? Und was haben wir uns unter diesem Wesensglied des Gott–
menschen wenigstens anfänglich vo r z u s t e l l e n ?
Die Menschen laufen heute einem Schatten nach, dem Ve rstande in ihnen, dem Intellekt.
Von dem lassen sie sich beirr e n , statt zu streben nach Imagination, nach Inspira t i o n , n a c h
I n t u i t i o n , die nun wiederum in die geistige We l t , die eigentlich uns umgibt, h i n e i n f ü h r e n .
Der Mensch muss sich nun dessen bewusst we r d e n . Und ohne dass er sich dessen bewusst wird, kann nichts weiter sich bilden auf der Erde. Denn dasjenige, was die Erde als
Erbstück empfangen hat, das ist dahin, das ist unterg e g a n g e n .
Neues muss begründet we r d e n .
Der Logos aber lebt in den Urs c h ö p f u n g s t i e fen des Mens c h e n - I c h , wenn dieses sich mit ihm ve r b i n d e t . Ve rlassen wir
uns nur auf unsere Sinne und unseren Ve rs t a n d , dann ve rs t rickt sich unsere Bewusstseinsseele in das dem Unterg a n g
g e weihte Erdenwe s e n : sie zerfällt mit dem Zerfallenden –
e n t w i c kelt in sich die Anlage zum Seelentod. Der Geistve rneinende Geist löscht den Zukunftskeim des Ich nach und
nach aus. Die menschliche Intelligenz verwandelt sich in
a h ri m a n i s c h e, in künstliche Intelligenz. Der A b g rund tut sich
a u f : Die Menschheit entmenscht sich selbst.
Wo ist denn das, was über das ins Nichts Zers t ä u b e n d e, ü b e r
das dem Tod Geweihte hinwe g f ü h r t? Wo ist denn das, w a r
w i rklich erhalten wird, während die Atome und die Kräfte
z u g runde gehen? Das ist nur im Menschen. Von allen We s e n ,
von den Tieren und Pflanze n , M i n e ra l i e n , von Luft, Wasser
und allem, was zugrunde geht, gibt es nur eines, was sich über
die Erdenevolution und über die Evo l u t i o n , die aus dem
Erdendasein folgen wird, hinaus erhält: nur das, was im
Menschen selbst ist. Nur der Mensch trägt auf der Erde
etwas in sich, was dauernd ist. Aber das kann nur geschaut
werden durch Imagination, I n s p i ration und Intuition. Alles übri g e, was nicht in übers i n nlicher Erkenntnis geschaut wird, ist kein Dauern d e s . Und nur der redet recht von der
Z u k u n f t , der allein den Willen hat, das Übersinnliche zu erfassen.
Aus diesem selbstgestalteten Denken heraus ve rmag der Mensch das neue Hellsehen
zu entwickeln – das Kopfhellsehen.
Der Prüfungsweg des neuen Gralskönigs birgt Menschheitsmy s t e rien von umfassender
T i e fe. Indem sich der Christus in dem Jesus von Nazareth ve rk ö rp e r t e, konnte in dem
A s t ralleib des Chri s t u s - Tr ä g e rs etwas wie ein A b d ruck des Ich geschaffen we r d e n : in den
umliegenden Pa r tien des A s t ralleibes entsand etwas wie ein A bbild – ein A bbild des Ich
von dem Christus Jesus, das Ve r vielfältigungen her vo rri e f , die in der geistigen Welt sozusagen aufbewahr t bl i e b e n . D i e s e
dem Urbild entströmenden A bbilder war ten auf ihre Entfaltung
innerhalb der menschlichen
B e w u s s t s e i n s s e e l e n , die dadurch ihre entscheidende Metam o rphose erfahren. E rst die
M e n s c h e n , die nach und nach
sich vorbereiten zum vo l l e n
C h ri s t u s - Ve rs t ä n d n i s , die durch
die Erkenntnis der spiri t u e l l e n
Welten ve rstehen we r d e n , w a s
der Christus ist, indem er vo n
Zeit zu Zeit, sich wandelnd,
immer wieder sich findet im For tgang der Erdenentwicke l u n g , die werden nach und nach
r e i f , dieses Chri s t u s - E rlebnis in sich zu haben, sozusagen die war tenden A bbilder des
C h ri s t u s - I c h , das der Christus im Leibe des Jesus durch einen A b d ruck gebildet hat, d i eses Ich aufzunehmen.
D e r j e n i g e, der das Christentum spirituell ve rstehen und in sich erleben wird, der wird
dazu beitra g e n , dass entweder in der jetzigen oder in einer späteren Inkarnation in sein
Ich einve r woben wird ein A bbild des Ich der Christus Jesus-Individualität.
C h r i s t o p h o ro s
Den Christus und das Kreuz begreife n . Können wir doch Lebenswasser aus dieser
Quelle schöpfe n . Von dem Kreuz auf Golgatha strömt der Quell ewigen Lebens.
Wir richten den Blick auf jene Sage, die davon kündet, dass aus der Krone des vom
Himmel stürzenden Luzifer ein Edelstein fi e l , aus dem das Gefäss gefo rmt wurde, in das
aufgefangen worden ist das Blut, das vom Kreuze floss; jenes Gefäss, das von Engeln in
die westliche Welt gebracht worden ist und in der westlichen Welt von denen aufgenommen wird, welche zum wahren Ve rständnis des Chri s t u s P rinzips vo r d ringen wo l l e n . Es wurde aus dem Stein, der entfi e l
der Krone Luzife rs , der heilige Gra l . Dieser Edelstein ist nu n
aber in Wahrheit in gewisser Beziehung nichts anderes als die
volle Kraft des menschlichen Ichs. Dieses menschliche Ich mu s s
e rst in der Finsternis vorbereitet we r d e n , um in einer neuen
würdigen A r t den Stern des Luzife rs innerhalb des Chri s t u s Lichtes erg l ä n zen zu sehen. Dieses Ich musste sich hera u fe rziehen an dem Chri s t u s - P ri n z i p e, h e ra n r e i fen zu dem Edels t e i n , der nun nicht mehr dem Luzifer gehör t , der seiner
Krone entfallen ist. So ist geisteswissenschaftliche Arbeit die
Arbeit am menschlichen Ich, um es zum Gefäss zu machen
des den sinnlichen Augen und dem Ve rstand unzugänglichen
C h ri s t u s - S o n n e n we s e n s .
Vor unserer Seele und vor unserem Geiste stehen die Zeichen
z weier We l t e n , in Liebe sich ve r e i n e n d . Dann begreifen wir
C h risti Kreuz und den im Christus-Licht erg l ä n zenden Stern
L u z i fe rs .
Das vier te Wesensglied des Menschen, das Ich, musste innerhalb der Erdentwicklung
z u e rst von dem Lichtträger, von Luzifer mit seiner We s e n s k raft tangier t we r d e n , um
die volle Eigenkraft entfalten zu lern e n . Dann aber musste der Lichtträger, P h o s p h o r o s ,
seiner Macht über das Menschen-Ich ve rlustig gehen: L u z i fer musste dieser Edelstein aus
seiner Machtsphäre entfallen. Der Mensch muss in sein Ich aufnehmen die Chri s t u s k ra f t .
Dann wird dieser Stein zum heiligen Gra l : Die Weisheit der Urwe l t zeiten ve r w a n d e l t
sich im Zeichen des Kreuze s . Wir bl i c ke n
zum Phosphoros, zum Lichtträger ; j a , w i r
e rkennen diesen ehemaligen Lichtträger
als die We s e n h e i t , die uns erst ve rs t ä n dlich machen kann die ganze tiefe innere
Bedeutung des Chri s t u s ; aber wir sehen
neben Phosphoros Chri s t o p h o r o s , d e n
C h ri s t u s t r ä g e r.
Ohne Luzife rs Hilfe könnte in das
Geistig-Seelische des Menschen, das sich
auf der Grundlage des berechenbaren
L e i blichen aufbaut, Freiheit nicht einzieh e n . Aber Luzifer möchte diese Te n d e n z
auf den ganzen Kosmos ausdehnen.
Die ahrimanischen Mächte erscheinen
als der völlige Gegensatz der göttlichgeistigen We s e n , in denen der Mensch
seinen Urs p rung hat. In den ahrimanischen Mächten waltet der kalte Hass auf alles in
Freiheit sich Entfaltende. A h rimans Streben geht dahin, aus dem, was er von der Erde
in den We l t e n raum strömen lässt, eine kosmische Maschine zu machen.
Die ahrimanischen Mächte ve rs t ri c ken die physische Menschenwesenheit in einem
s t ä rkeren Masse in das Schwe r e feld der Erde, als es geschehen würde, wenn diese
Mächte nicht wirken könnten.
Dadurch wird in den Menschen der Keim des vollen Selbstbewusstseins und des freien
Willens gelegt. Wenn auch die ahrimanischen Mächte den freien Willen hassen: im
Menschen bewirken sie, da sie ihn losreissen von seiner göttlich-geistigen We l t , d i e
Keimanlage dieses freien W i l l e n s .
Anmerkungen
Die heilige Jaspisschale des Gra l e s , derer sich der
C h ristus bediente, als er das Brot bra c h , in die Joseph
von A rimathia das Blut der Jesuswunde aufgefangen
h a t , die also das Geheimnis von Golgatha bar, w u r d e
– so lautet die Legende – von Engeln in Ve r w a h ru n g
g e n o m m e n , bis sie sie nach Erbauung der Gra l s bu rg
durch Titurel auf die vorbereiteten Menschen nieders e n ken ko n n t e n .
G e i s t wesen bargen die We l t - B i l d e r, in denen die Geheimnisse von Golgatha lebten. Sie senkten, weil das
nicht möglich war, nicht den Bild-Inhalt, wohl aber
den Gefühlsgehalt in Menschengemüter, als die Zeit
dazu gekommen war.
Q u e l l e n : Ewald Koepke
Rudolf Steiner