24 Kultur Aufgewachsen in einer gutbürgerlich-katholischen Familie in Pirmasens (D), arbeitet Ball zuerst als Dramaturg an den Münchner Kammerspielen. In dieser Zeit veröffentlicht er seine ersten lyrischen Werke. Mit seinen Lautgedichten im Cabaret Voltaire in Zürich gehört Ball (Bild) zu den Urvätern der Dada-Bewegung. Am Start: Jürg Plüss TAUSENDSASSA IN SERIE endlich hat er die Serienrolle im «Bestatter». Und der zweifache Familienvater, der lange Jahre aufs Kellnern angewiesen war, freut sich: «Langsam ziehts an.» Wen wunderts? Der Mann mit dem markanten Gesicht ist erstaunlich vielfältig: Auf der Theaterbühne spielt und singt er, er schlagzeugert ebenso gut, wie er Bass spielt. Und auf der Leinwand gibt er den Trash-Superhelden genauso überzeugend wie den desillusionierten Vater, den schmierigen Chef oder den aalglatten Nazi. 87 Dada… Emmy Hennings (1885–1948) Mehr als Bananen Jahren ... TIM UND STRUPPI Der pfiffige Reporter Tim reist 1929 in seinem ersten Abenteuer samt Hund Struppi zu den Sowjets und räumt mit dem Kommunismus auf. Comiczeichner Hergé (1907–1983) publiziert die ersten Strips der beiden in der Jugendbeilage der katholischen Tageszeitung «Le Vingtième Siècle». Damals denkt Tim nicht nur schwarz-weiss, er ist auch so gezeichnet. Hugo Ball (1886–1927) Mit 18 Jahren heiratet die Norddeutsche einen Laienschauspieler und schliesst sich einer Wanderbühne an. Sie lässt sich scheiden und tingelt als Vortragskünstlerin durchs Land. In München lernt sie Hugo Ball kennen, den sie ehelicht. Ist seit 2004 wieder öffentlich zugänglich: Das Cabaret Voltaire in Zürich. Sie sangen, malten, klebten und dichteten aus Leibeskräften: Immigranten und Schweizer begründeten vor 100 Jahren Dada – eine lite rarische Bewegung, die von Zürich ausging und die Welt bis heute bewegt. VON DANIEL ARNET D er Himmel ist pechschwarz, denn der Leermond zeichnet die Nacht. Über Island liegt ein gewaltiges Sturmtief und bringt in den nächsten Tagen Kälte und Schnee nach Zürich. Noch ist es ruhig und für die Jahres- zeit relativ mild an diesem Samstag, 5. Februar 1916. Im Zürcher Niederdorf aber fegt schon an diesem Tag ein Sturm durch die schmale Spiegelgasse. Ein Wirbelwind, der die etablierte Kultur zerzaust: Dada ist da! Literatur, Musik und bildende Kunst sollten nie mehr zu ihrer elitären Scheitelfrisur zurückfinden. Fotos: Apic/Getty Images, Philippe Rossier, Otto Umbehr (UMBO)/ullstein/Getty Images, PR (2) Aufmerksamen Schweizer Kino- und Fernsehfans ist das neue «Bestatter»-Gesicht bekannt: Der Bündner Jürg Plüss (43) spielt in der Erfolgsserie einen Mann, dessen Frau ermordet wurde. Da ist der Weg zum fanatischen Selbstjustizler nicht weit. Sein Weg ins Rampenlicht war lang. Plüss war zwar letztes Jahr in zwei grossen Schweizer Kinofilmen («Amateur Teens», «Heimatland») zu sehen – und in der SRFProduktion «Upload». Aber erst jetzt Heute vor 25 MAGAZIN 10. Januar 2016 Stammt der Begriff Dada vom französischen Wort fürs Steckenpferd, aus der Veröffentlichung eines Anarchisten oder von einem damals in Zürich weit verbreiteten Shampoo? Egal: In ihrer Blütezeit von 1916 bis 1922 zählen sich 165 internationale Künstlerinnen und Künstler zur unideologischen und losen DadaBewegung – vom Deutschen Hans Arp über den US-Amerikaner Man Ray bis zur Schweizerin Sophie Taeuber-Arp. Und ihr Wirken bleibt nicht ohne Folgen. Sänger von Dada ante portas schrieb Studienarbeit zu Dada «Es gibt Kunst vor und Kunst nach Dada», sagt Kunsthistoriker Juri Steiner (46), der zusammen mit dem früheren «Literaturclub»-Leiter Stefan Zweifel (48) zum 100-Jahre-Jubiläum von Dada eine Ausstellung fürs Landesmuseum in Zürich konzipiert (siehe Hinweis auf Seite 27). Ohne Dada wären Surrealismus oder Punk nicht denkbar. Der österreichische Dichter Ernst Jandl («Ottos Mops»), das Schweizer Musikerduo Yello («Planet Dada») und die serbische Künstlerin Marina Abramovic(58) sind davon beeinflusst. Selbstredend die Luzerner Band Dada ante portas – Sänger Pirmin «Pee» Wirz (42) schrieb damals eine Studienarbeit über Dadaismus. «Mit Dada wurde in Zürich ein Kind geboren, das weit über die Stadtgrenzen hinausstrahlt», 26 Kultur 27 MAGAZIN 10. Januar 2016 Hans Arp (1886–1966) sagt Adrian Notz (38), Direktor des Cabaret Voltaire, in dem 1916 der kreative Sturm seinen Anfang nimmt: mit Emmy Hennings, die als Dichterin und Diseuse in München Erfolge feierte, und ihrem Freund Hugo Ball, einem virtuosen Klavierspieler. Sie geben zur Premiere ein einfaches, aber exzentrisches Programm: Sie singt Chansons, er begleitet sie. Beide sind im Mai 1915 aus Deutschland nach Zürich emigriert. 1916 tun es ihnen fast 5000 Landsleute gleich. Die Stadt, in der zu dieser Zeit knapp über 200 000 Menschen leben, wird zum Sammelbecken für Intellektuelle. Sie fliehen vor dem Ersten Weltkrieg in die neutrale Schweiz. Sinnentleerte Lautgedichte und unaufhörliche Paukenschläge In der allgemeinen Kriegseuphorie von 1914 hat sich Hugo Ball noch selber zum Militärdienst eingeschrieben. Nachdem er aber die ersten Soldatengräber gesehen hat, bezeichnet er den Krieg als Irrtum und wandert nach Zürich aus. Alleine in der Schlacht um Verdun (F) von 1916 kommen über 300 000 Menschen ums Leben. «Angeekelt von den Schlächtereien des Weltkriegs, gaben wir uns in Zürich den schönen Künsten hin», steht im Erinnerungsbuch «Die Geburt des Dada» (1957). «Während in der Ferne der Donner der Geschütze rollte, sangen, malten, klebten, dichteten wir aus Leibeskräften.» Holzschnittartige Plakate in der Zürcher Altstadt laden 1916 zur Premiere ein. Darauf sieht man einen Mann mit Hut, der einer Frau gelassen in ihr Dekolleté schaut. Dazu der nüchterne Text: «Künstlerkneipe Voltaire – allabendlich (mit Ausnahme von Freitag) MusikVorträge und Rezitationen – Eröff- Als Mitbegründer des Cabaret Voltaire trägt Tzara Dada nach Paris und schliesst sich dort mit den Schriftstellern André Breton und Louis Aragon zusammen. Später entwickelt sich dort aus dem Dadaismus der Surrealismus. Tristan Tzara (1896–1963) nung Samstag den 5. Februar im Saale der Meierei Spiegelgasse 1». Den holländischen Wirt der Meierei, Jean Ephraim, kennen Henning und Ball von ihrer vorherigen Arbeit im Dörfli. Sie ist dort im Kabarett Hirschen aufgetreten, er mit der Varietétruppe Flamingo herumgetingelt. Ephraim unterstützt nun die beiden bei der Eröffnung und später beim Betrieb des Lokals. Zur Namensfindung «Voltaire» gibt es keine verlässlichen Erklärung. Einzig in Hugo Balls Tagebüchern «Flucht aus der Zeit» (1927) findet sich ein Hinweis: «Die Bildungs- und Kunstideale als Varietéprogramm: Das ist unsere Art von ‹Candide› gegen die Zeit.» Und «Candide» (1759) ist ein Hauptwerk des Philosophen Voltaire, eine satirische Novelle mit pessimistischer Weltanschauung. Mit Witz gegen den Wahnsinn der Zeit, das war auch die Grundhaltung der Dadaisten. «Zudem ist Voltaire ein Aufklärer, der für Toleranz steht», sagt Notz. «Das war für diese Gruppe von Immigranten in Zürich ein sehr wichtiger Aspekt.» So wie die Dadaisten den Franzosen verehren, so erklären sie den preussischen Philosophen Immanuel Kant mit seinem «kategorischen Imperativ» zum Erzfeind. Denn nicht die Vernunft soll obsiegen, wie das Kant vorschwebt, sondern die Kreativität und das Magische. Hugo Ball ging mit seinen sinnentleerten Lautgedichten in den Kampf. Legendär ist sein gepanzerter Auftritt von 1916: Als «magischer Bischof» trägt er im Cabaret Voltaire seine berühmten Lautgedichte «Gadji beri bimba» und «Karawane» vor. «Ich hatte mir dazu ein Kostüm konstruiert», erinnert sich Ball später in «Flucht aus der Zeit». «Meine Beine standen in einem Säulen- Der österreichische Lyriker ist einer der frühen Nachfahren des Dadaismus. Als wichtigster Vertreter der sogenannten Konkreten Poesie setzt er konsequent auf die grafische und lautmalerische Wirkung seiner Gedichte. … und die Folgen: Die serbische Künstlerin sitzt auf einem Stuhl und schweigt. Ihr gegenüber können Besucher Platz nehmen. Die Performance «The Artist Is Present» von 2010 im MoMa New York ist Dadaismus pur. Ernst Jandl (1925–2000) Marina Abramovic (69) «Planet Dada» heisst ein Songtitel seiner Band Yello. Doch auch als Künstler ist Meier dadaistisch: So packt er 1969 in einer Performance vor dem Kunsthaus Zürich 100 000 Metallstücke in Säcke zu je tausend Stück ab. Dieter Meier (70) Als er 2004 in Paris ein Bild von Christoph Blocher von einem Schauspieler bepinkeln lässt, sorgt das in der Schweiz für grosse Aufruhr. Hirschhorn ist ein Anarchist nach radikalem Vorbild der Dadaisten. Thomas Hirschhorn (58) Besucher indes nicht gefallen: Walter Serner jagen sie von der Bühne und zerstören seine Requisiten. «Die Bewegung bestand aus meist sehr jungen Talenten, die aus der Sprache oder der bildenden Kunst kamen und sich regelrecht in die verschiedensten Sparten warfen», sagt Stefan Zweifel, Ko-Kurator von «Dada Universal» im Landesmuseum. «Die Dadaisten liessen den guten Geschmack hinter sich und suchten nach dem Spirit – ihre grosse Kraft war nicht das Beherrschen, sondern das Erfinden: Sie waren Absolute Beginners, geniale Dilettanten.» 1 In allen Sparten zu Hause: Ob Literatur, bildende Kunst oder Musik – die Dadaisten übten sich in allen Disziplinen und sprengten so die Grenzen der Genres. 1 Objekt: «Fontain» ist ein Werk des französischen Künstlers Marcel Duchamp (1887–1968) aus dem Jahr 1917. Es ist ein handelsübliches Urinal, das er signiert hat. Heute gehört es zu den Schlüsselwerken der modernen Kunst. 2 Bild: Die Schweizerin Sophie Taeuber-Arp (1889–1943) malte dieses «Motif abstrait (Bâteau et drapeau)» 1917. Heute ist es im Aargauer Kunsthaus in Aarau ausgestellt. 3 Lautgedicht: Die «Karawane» gehört zu einem der wichtigsten Dada-Werke von Hugo Ball. Er hat den Text erstmals 1916 im Cabaret Voltaire in Zürich laut vorgelesen. 2 rund aus blau glänzendem Karton, der mir schlank bis zur Hüfte reichte, sodass ich bis dahin wie ein Obelisk aussah. Darüber trug ich einen riesigen Mantelkragen, der innen mit Scharlach und aussen Fotos: © Succession Marcel Duchamp/2016, ProLitteris, Zürich; Jörg Müller/Aargauer Kunsthaus; Imagno/Getty Images; RDB; Bennett Raglin/WireImage; Vladimir Fotos: © Sichov/Epa/Keystone Succession Marcel Duchamp/2016, ProLitteris, Zürich; Jörg Müller/Aargauer Kunsthaus; Imagno/Getty Images; RDB; Bennett Raglin/WireImage; Vladimir Sichov/Epa/Keystone Der Strassburger studierte in Weimar und Paris Kunst. 1915 werden erstmals seine abstrakten Werke in Zürich ausgestellt. Über Tristan Tzara lernt er Emmy Hennings und Hugo Ball kennen, mit denen er den Dadaismus begründet. mit Gold beklebt, am Halse derart zusammengehalten war, dass ich ihn durch das Heben und Senken der Ellenbogen flügelartig bewegen konnte. Dazu einen zylinderartigen, hohen, weiss und blau gestreiften Schamanenhut.» Verwunderung und ungläubiges Gelächter: Die beispiellose Darbietung führt bei den rund 60 Besuchern zu heftigen Reaktionen. Die Besetzer retten das Cabaret Voltaire vor Umnutzung 3 Provokation bleibt bei den Dadaisten im Cabaret Voltaire fortan Stilmittel. Von der stillen Performance bis zur lautstarken Publikumsbeschimpfung. So spielt etwas später Marcel Janco eine imaginäre Geige, Tristan Tzara lässt sein Hinterteil wie den Bauch einer orientalischen Tänzerin hüpfen, und Richard Huelsenbeck haut unaufhörlich auf eine Kesselpauke. Alles lassen sich die Was bleibt übrig von Dada? Der französische Dadaist Robert Desnos unterzieht sich 1924 einer Hypnose und notiert während der Séance: «Nichts als Bananen.» Der Zettel mit der Bleistiftnotiz ist in der Landesmuseum-Ausstellung zu sehen. Dank Neo-Dadaisten um den deutschen Künstler Jan Theiler (48) bleibt mehr als Bananen übrig: Die Gruppe hat 2002 den leeren Raum des Cabaret Voltaire besetzt und so vor der Umnutzung in eine Apotheke bewahrt. Seit 2004 dient das Gebäude wieder als Café, Club, Galerie und Theater. «Als Geburtsort des Dada ist es jetzt so etwas wie die Kaaba», sagt CabaretVoltaire-Direktor Notz. «Zudem kommt die europäische Kunstbiennale Manifesta im Sommer nach Zürich und macht das Gebäude zum Zunfthaus Voltaire und damit zu einem Spielort der Manifesta.» Zunfthaus Voltaire? Es dauert nicht mehr lange, und die Neo-Dadaisten dürfen am SechseläutenUmzug teilnehmen. Für Spektakel wäre damit gesorgt. 100 Jahre Dada Ausstellungen Dadaglobal Reconstructed: Vom 5. Februar bis 1. Mai im Kunsthaus Zürich Dada Universal: Vom 5. Februar bis 28. März im Landesmuseum Zürich Dada original: Vom 7. März bis 28. Mai in der Nationalbibliothek Bern Dada Afrika: Vom 18. März bis 17. Juli im Museum Rietberg Zürich Veranstaltungen Obsession Dada – 165 Feiertage: Vom 5. Februar bis 18. Juli im Cabaret Voltaire Zürich Dada Kostümball: Am 13. Februar im Kunsthaus Zürich Dada schreiben: Vom 5. Februar bis 31. Dezember im Jungen Literaturlabor Zürich Bücher Dada Almanach: Von Andreas Trojan, ab 11. Januar im Manesse-Verlag Dada – eine Jahrhundertgeschichte: Von Martin Mittelmeier, ab 25. Januar im Siedler-Verlag Genese Dada: Ab Februar im Verlag Scheidegger & Spiess Alle Infos unter: dada100zuerich2016.ch
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