zum - Multiple Sklerose Main

Festrede zum 25-Jubiläum
der DMSG-Kontaktgruppe Main-Spessart
Prof. Dr. med. Jürgen Koehler
Sehr geehrte Vorsitzende des Landesverbandes Bayern der Deutschen Multiple
Sklerose Gesellschaft, Frau Dr. Himmighofen,
sehr geehrte Frau Elsner,
sehr geehrte Damen und Herren,
25 Jahre Kontaktgruppe Main-Spessart - ein Viertel Jahrhundert! Wie schnell die Zeit
vergeht! Und doch ist viel in diesen 25 Jahren passiert.
Im Jahre 1987 wurde die Kontaktgruppe gegründet. Zu dieser Zeit gab es bis auf
Kortison und Azathioprin keine Therapie zur Verbesserung der Prognose bei MS.
Aufklärung, Beistand und soziale Hilfe standen zu diesem Zeitpunkt im Mittelpunkt
der Betreuung unserer Patientinnen und Patienten.
In den letzten 25 Jahren ist Enormes geleistet worden: In der Forschung mit
besserem Verständnis der Erkrankung und in der medizinischen Versorgung mit
Zulassung neuer Medikamente:
In den 90er Jahren die Interferone und um die Jahrtausendwende Glatiramerazetat
- Wirkstoffe die heute die Basistherapie der schubförmigen MS darstellen. Dazu kam
Mitoxantron als Eskalationstherapie bei schubförmiger MS und neue
Behandlungsmöglichkeit der sekundär chronisch progredienten MS.
Neben diesen heute etablierten Behandlungsmöglichkeiten wurden in den letzten
Jahren durch neue Erkenntnisse in der Forschung eine neue Generation von
Wirkstoffen, die sogenannten monoklonalen Antikörper wie Natalizumab oder
Fingolimod entwickelt.
Dazu kommen Neuerungen in der Behandlung der Symptome einer Multiple
Sklerose. Hier möchte ich nur die im letzten Jahr zugelassenen Wirkstoffe
Nabiximols und Fampridin zur Behandlung der Spastik und Verbesserung der
Gehqualität erwähnen. Und weitere Wirkstoffe stehen vor der Zulassung.
Doch dies ist nur ein Teilbereich der Versorgung MS-Betroffener. Ganz wesentliche
Teile tragen seit 25 Jahren die Kontaktgruppe Main-Spessart und Ihre Vorsitzende
Frau Waltraud Elsner bei, denn Sie nahmen sich einer zentralen Frage an:
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Was ist für MS-Betroffene neben der notwendigen medizinischen Behandlung
wichtig?
Viktor Frankl, Begründer der Existenzanalyse und Logotherapie sagte einmal: „Die
Immunlage hängt u. a. von der Affektlage ab, und die Affektlage hängt wesentlich
von der inneren Sinnerfüllung ab.“ Wenn es also gelingt, Menschen dazu anzuleiten,
ihr Leben in Freiheit und Würde sinnvoll zu gestalten - wie auch immer ihre
Ausgangsposition aussehen mag - dann wird es ihnen seelisch gut gehen. Jedes
Leid bedeutet Wertverlust. Kraft und Ruhe findet man nur, wenn man sich mit seinem
Unglück aussöhnt, wenn man sich von dem Verlorenen im Guten verabschiedet und
"loslässt".
Hier findet sich die Parallele zu Frau Waltraud Elsner und Ihrem Team. Denn auch
die Kontaktgruppe Main-Spessart nahm sich der Aufgabe „Hilfe zur Selbsthilfe“ mit
Tatkraft und persönlichem Engagement an. Krankheitsaufklärung und Unterstützung
von MS-Betroffenen sind die Grundlage auch mit der Erkrankung ein sinnerfülltes
Leben zu führen.
„Hilfe zur Selbsthilfe“ für Betroffene und deren Angehörige steht seit Beginn an im
Mittelpunkt des Wirkens. Unterstützung zur Verbesserung der Lebensqualität und
Orientierungshilfe für Neuerkrankte mit persönlichen Erstgesprächen auch für
Angehörige sind nur wenige Beispiele des umfassenden Angebotes der
Kontaktgruppe.
Und damit nicht genug!
Frei nach Maksim Gorki der sagte: „Eigentlich sollte man einen Menschen
überhaupt nicht bemitleiden, besser ist es, man hilft ihm“, förderte die Kontaktgruppe
Main-Spessart die aktive Hilfe unserer Patientinnen und Patienten.
Hilfsangebote sind auch Informationen zu unterschiedlichsten Themen.
So können Sie auf dem Terminkalender in diesem Jahr ein buntes Potpourri an
interessanten und informativen Veranstaltungen auf der Homepage der
Kontaktgruppe Main-Spessart finden:
Vom Notfallmanagement über Blasenstörungen und Schmerzkontrolle bis zu
komplementären Therapiemöglichkeiten finden Sie zahlreiche
Vortragsveranstaltungen. Informatives über Fernreisen von Bangkok bis Saigon, ein
Sommerfest und eine Adventsfeier ergänzen das vielfältige Angebot, welches Jahr
für Jahr neu geplant und durchgeführt wird. Dies sind nur einige Highlights, die
Betroffene und Angehörige nutzen können.
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Im Jahre 2001 hat die Kontaktgruppe Main-Spessart ein sehr wichtiges Projekt aus
der Taufe gehoben: Sie gründete mit medizinischer Beratung die erste
Rehabilitationsportgruppe, eine Erfolgsgeschichte, die sich bis heute fortsetzt. Die
Nachfrage ist so groß dass auch aktuell Übungsleiter für Rehabilitationssportgruppen
gesucht werden.
Dagegen wird Herrn Sir Winston Churchill der Ausspruch nachgesagt „No sports“,
womit er deutlich zum Ausdruck brachte, daß er von sportlicher Aktivität gar nichts
hielt. Doch kann man die Augen nicht vor seinem Lebensweg verschließen, welcher
erst mit Übergewicht, Zigarren und am Ende durch einen Schlaganfall gezeichnet
war. Wir lernen also auch hieraus, daß international anerkannte kluge Männer auch
manchmal dumme Ansichten haben können.
Wir halten uns daher mehr an unseren großen deutschen Dichter Johann Wolfgang
von Goethe: „Es ist nicht genug zu wissen - man muss auch anwenden. Es ist nicht
genug zu wollen - man muss auch tun.“ Und wieder sehen wir Verbindungen zu der
Kontaktgruppe Main-Spessart. Denn nachdem Sie und Ihr Team, sehr geehrte Frau
Elsner, erkannten, daß Sport auch für MS-Betroffene ein positiver Aspekt in der
Krankheitsbewältigung darstellt, haben sie ihr Wissen angewandt und Ihr Wollen in
die Realität umgesetzt.
Bis heute sind die Rehabilitationsportgruppen fester Bestandteil Ihres Angebotes und
werden regelmäßig genutzt. Auch hier finden sich immer wieder Gelegenheiten zu
neuen Kontakten und Gesprächen, es können sogar Freundschaften entstehen und
Beziehungen wachsen.
Es gibt zahlreiche Untersuchungen, die einen positiven Effekt von Sport bei MS
belegen. Im Jahr 2005 wurde von Killestein und Polman gezeigt, daß Sport eine
positive Wirkung auf die Mobilität, Fatigue, Kraft und Ausdauer, Atemfunktion,
Blasen- und Darmfunktion, Depression und Lebensqualität MS-Erkrankter hat.
In 2007 publizierten Newman und Ramoello eine Verbesserung der Gehstrecke und
der Belastbarkeit bei leichter bis mäßiger Ausprägung der MS unter Aerobic. Auch
konnte ein positiver Effekt auf eine bestehende Spastik bis zu einer Stunde nach
unbelasteten Fahrradtraining über 20 Minuten gezeigt werden.
Wir nutzen in der Marianne-Strauß Klinik diese Erkenntnisse mit Einsatz von Beinund Armtrainern zur Verbesserung der Motorik bei unseren stationären und
teilstationären Patientinnen und Patienten.
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Selbst bei schwerer Behinderung mit einem EDSS von 7-7,5 verbesserte sich unter
einem Laufbandtraining mit Unterstützung über mehrere Monate (mean: 40
Übungseinheiten) die Muskelkraft, Ausdauer, Lebensqualität und Spastik der
Patienten.
Spezielle Atemübungen steigern zudem die inspiratorische Leistungsfähigkeit und
führen zu einer besseren Belastbarkeit und Schutz vor Infektionen.
2008 gelang es White und Castellano immunologische Effekte durch Sport
nachzuweisen. Sie konnten belegen, dass ein regelmäßiges Training die Produktion
von sog. „Neurotrophinen“ anregt. Neurotrophine sind sogenannte
Nervennährstoffe, die Verbindungen zwischen Nervenzellen bewirken. So dient
beispielsweise das Neutrophin BDNF - brain derived neurotrophic factor als Stimulus
zur Regeneration von angegriffenen Nervenfasern im Gehirn.
Wie bei allen Methoden zur Verbesserung der Gesundheit ist allerdings der bekannte
Satz von Paracelsus zu beachten: „Dosis facit venenum“ (Die Dosis macht das
Gift.) Dies weist darauf hin, dass bei falscher Dosierung Alles eine potenzielle Gefahr
darstellt. Eine angeleitete sportliche Aktivität ist daher im Zweifelsfalle anzuraten,
damit keine Überbeanspruchung entsteht.
Zur Überleitung möchte ich Ihnen nun eine kurze Anekdote aus Persien
erzählen:
Nasr-eddin Hodscha will auf dem Markt einen Truthahn verkaufen und stellt sich
neben den Besitzer eines Papageis, der für sein Tier zehn Pfund verlangt. Der erste
Interessent schreit: "Bist du wahnsinnig? Der Papagei dort kann sprechen und kostet
zehn Pfund, und du verlangst zwanzig?" -"Mein Truthahn kann mehr als sprechen",
erwidert der Hodscha. "Er kann zuhören."
Was möchte ich Ihnen mit dieser Anekdote sagen: Ich möchte Ihnen natürlich
danken, daß Sie als Zuhörer so konzentriert und wertschätzend meinen Worten
folgen. Mehr noch möchte ich Ihnen sagen, daß Zuhören eine große Hilfe für MSBetroffene ist. In der ärztlichen Versorgung wird leider die „sprechende Medizin“
nicht ausreichend honoriert.
Voraussetzung für ein konstruktives Gespräch ist allerdings, daß man vorher zuhört
und die Probleme und Fragen der Patienten erfasst. Häufig sind jedoch nur 5
Minuten Zeit, wenn man Glück hat, für einen kurzen Gedankenaustausch vorhanden.
Viel zu wenig für die Fragen der MS-Betroffenen, in jeder Phase der Erkrankung. Wir
in der Marianne-Strauß-Klinik haben durch unsere besondere Struktur
glücklicherweise mehr Zeit für unsere Patienten.
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Hier im Main-Spessart ist die Kontaktgruppe seit 25 Jahren essentiell, um als
Zuhörer und Berater MS-Betroffenen und Angehörigen zur Seite zu stehen und
Lösungen zusammen zu entwickeln.
Frank Lloyd Wright, US-amerikanischer Architekt, Innenarchitekt, Schriftsteller und
Kunsthändler pflegte zu sagen: Der Preis des Erfolges ist Hingabe, harte Arbeit und
unablässiger Einsatz für das, was man erreichen will.
In diesem Sinne wirkt seit 25 Jahren die Kontaktgruppe Main-Spessart mit ihrer
Vorsitzenden Waltraud Elsner und hat Erfolg. Dabei verlieren sie aber auch nicht
neue Ansatzpunkte aus dem Blickfeld.
Wir haben vor einigen Jahren in Zusammenarbeit mit der Universität in Mainz eine
Untersuchung bei Neuerkrankten MS-Betroffenen durchgeführt und unter anderem
gefragt wer eine Dauertherapie durchführt und warum. Von denjenigen, die sich
spritzten, gab die Mehrheit als Grund der Therapie an: Angst vor einem neuen Schub
und eine fehlende Alternative. Erst an dritter Stelle kam das Argument: Ich bin von
der Wirkung überzeugt. Diese Umfrage zeigt, dass viele Patienten aus Furcht und
nicht aus Überzeugung bestimmte Medikamente einsetzen.
Aber wie jeder weiß ist Angst ein schlechter Berater. Warum besteht diese Angst?
Der häufigste Grund ist die fehlende Information über die Krankheit und die
Einflussmöglichkeiten des Krankheitsverlaufes. In diesem Zusammenhang möchte
ich Ihnen den Begriff „Coping“ näher bringen.
Was ist Coping ?
Coping ist der angemessene Umgang mit der Erkrankung mit dem Ziel der besseren
Krankheitsbewältigung. Betroffene sollen lernen mit der Krankheit umzugehen und
sollen ihre eigenen Grenzen besser erkennen.
Warum sind Coping Strategien wichtig?
Eine chronische Erkrankung fordert von dem Patienten eine Anpassung an die neue
Situation und neue Verhaltensmuster. Denn plötzlich haben sich die Blickwinkel auf
das zukünftige Leben dramatisch geändert. Ängste und Unsicherheit treten auf. Die
Erkrankung ist unausweichlich vorhanden und lebensbegleitend.
Auf einmal stehen Grenzen der körperlichen und seelischen Belastbarkeit vor Augen.
Als Erkrankter muss man lernen mit der Umwelt zu kommunizieren und trotz der
Krankheit die eigene Wertigkeit erkennen und wahrnehmen. Hier besteht die
Möglichkeit ein Coping-Training durchzuführen.
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Dies soll helfen folgende Fragen zu beantworten:
•
Wie gehe ich damit um, wenn ich nicht mehr alles selbst machen kann und Hilfe
in Anspruch nehmen muß?
•
Wie gehe ich mit der Zukunftsungewißheit um?
•
Wem erzähle ich wann von meiner Erkrankung?
•
Was bedeutet die Erkrankung für meine weitere Lebensplanung?
Für den Patienten ist es sehr wichtig die richtige Copingstrategie für sich zu finden.
Das setzt voraus allgemeine Informationen über die Erkrankung zu erhalten. Auch
kann es helfen bestimmte Entspannungstechniken zu erlernen. Der Betroffene soll
selbst seinen Gesundheitszustand analysieren können. Es soll klar werden, dass
eine Multiple Sklerose keine schicksalhafte Fügung darstellt und der Verlauf keine
Glückssache ist. Als Patient kann man den Verlauf der Erkrankung aktiv mitgestalten.
Dadurch tritt weniger häufig Angst und Depression auf. Höhere Lebensqualität ist
das Ziel.
Nach diesen allgemeinen Ausführungen möchte ich zurück zu Frau Elsner, Frau
Walther und der Kontaktgruppe kommen. Denn auch Sie haben diese
Zusammenhänge früh erkannt und ein wichtiges Projekt gefördert, das Projekt
COPE-MS - Ein Schulungsprogramm für Betroffene.
Selbstbestimmung durch Vermittlung von Kenntnissen über Krankheitsentstehung
und Verlauf ermöglichen Betroffenen die zu Beginn entstehende Angst und
Hilflosigkeit zu überwinden und die Ohnmacht und Lähmung bei Mitteilung der
Diagnose zu bezwingen.
Wissen über medikamentöse, aber auch nicht medikamentöse
Therapiemöglichkeiten machen die Ms-Betroffenen zu informierten Patienten, die mit
Ihrem behandelnden Arzt gemeinsam richtige Entscheidungen treffen können.
Lernen mit der Erkrankung der 1.000 Gesichter zu leben und auch psychische
Belastungen zu meistern geben Betroffenen den Weg frei für ein sinnerfülltes Leben,
in dem nicht die Opferrolle den Alltag diktiert, sondern die Patienten und Patientinnen
aktiv ihr Leben mit der MS gestalten.
COPE-MS ist ein Baustein in diesem Konzept und hilft die Eigenverantwortung aus
Sicht der MS-Patienten wieder zu übernehmen. Ziel dabei ist, Grundkenntnisse über
MS, deren Symptome und Therapie zu vermitteln. COPE-MS trägt also dazu bei, den
aktiven Umgang mit der Erkrankung und ihren Belastungen zu vermitteln.
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Diese Schulungen finden in kleinen Gruppen mit fachlicher Begleitung und interaktiv
statt. Damit lernen sich die Teilnehmer auch untereinander kennen und tauschen
sich in ihren Erfahrungen aus. Auch dies hilft die Krankheit Multiple Sklerose besser
zu verstehen und mit der Krankheit umzugehen. Dieses Schulungsprogramm ist
heute auch ein Baustein des Ärztlichen Beirates in der Weiterentwicklung von
Patientenseminarkonzepten.
Sie hören, meine sehr verehrten Damen und Herren, heute ist ein guter Anlass hier
in diesem Rahmen miteinander das 25jährige Jubiläum der Kontaktgruppe MainSpessart gebührend zu feiern und allen Mitgliedern von ganzem Herzen zu danken,
für Ihre ehrenamtliche Tätigkeit, ihr Wirken und das, was sie erreicht und geschaffen
haben.
Mögen sie auch in Zukunft offene Türen, offene Ohren und offene Herzen finden, die
diese Arbeit unterstützen und mit tragen, damit Multiple Sklerose Betroffene eine
hilfreiche Anlaufstelle haben, die ihnen zur Seite stehen und Hilfe zur Selbsthilfe
geben können.
Mit herzlichem Dank für Ihre Aufmerksamkeit möchte ich nun meine Rede schließen
und Ihnen noch eine schöne festliche Feier wünschen.
(Prof. Dr. med. Jürgen Koehler)
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