Automobiltechnik - industrie im kontext

MENSCHEN & MARKENPorträt
DAS SICH SELBST BEWEGENDE
W
ir schreiben das Jahr 2026. Vor uns: etwas
mit vier Rädern, einem Lenkrad und einem
Antrieb. Außerdem scheint es Türen,
Sitze und eine Schaltung zu haben.
Seine Aufgabe? Es befördert Personen – in unserem Fall zwei berühmte: Carl Benz
und Gottlieb Daimler sind auf dem Rücksitz zu
erkennen und machen es sich bequem. Sie warten
auf den Chauffeur und nutzen solange die Gelegenheit, sich persönlich kennenzulernen. Haben sie dies
im 19. und 20. Jahrhundert versäumt, wollen sie es
nun endlich im 21. Jahrhundert nachholen. Keine Frage, die zwei sitzen in einem Automobil – dem sich
selbst Bewegenden (Griechisch: auto und Lateinisch:
mobil). Was sie nicht wissen: das Navigationssystem
kennt den Weg bereits. Es kommt kein Chauffeur und
die beiden staunen nicht schlecht, als das Auto plötzlich einfach losfährt.
Wir schreiben das Jahr 2015. 129 Jahre alt ist das
Auto und unzählige Male produziert worden. 2014
werden weltweit 83 Mio. Pkw hergestellt – alle 2,6
Sekunden entsteht also ein Auto. Ist es anfangs ein
Luxusartikel und für den privaten Bereich kaum erschwinglich, ändert sich dies in den späten 50er-Jahren in beiden Teilen Deutschlands. Im Westen wird
der Käfer der Star, im Osten der Trabant. Seit Daimler
und Benz tüftelten und das Automobil erfanden, ist
viel passiert. Das Auto war stets Motor des Fortschritts, ist eine Milliarden-Dollar-Erfolgsgeschichte
und eine der größten Jobmaschinen der Erde. Viele
Millionen Menschen arbeiten nicht nur im Fahrzeugbau und der Zulieferindustrie, sondern als Berater,
Lobbyisten oder in einem der mächtigen Verbände.
Heute sind Leichtbau, Assistenzsysteme und alternative Antriebe gefragt. Und das Auto von morgen
scheint eines ohne Fahrer zu sein. Und dass es übermorgen noch ein Lenkrad und Fußpedale haben wird,
ist unwahrscheinlich.
100 KILOMETER VONEINANDER ENTFERNT
Die Geschichte des Automobils beginnt bereits im 16.
Jahrhundert, als der flämische Naturwissenschaftler
Simon Stevin einen Segelwagen baut. Darin finden
immerhin bis zu 30 Menschen Platz. 1678 beglückt
der belgische Jesuitenpater Ferdinand Verbiest den
Kaiser von China mit einem ersten simplen Dampfwagen und 1863 stellt der Luxemburger Erfinder Étienne Lenoir das erste Fahrzeug mit Verbrennungsmotor vor. Sein „Hippomobile“ hat drei Räder und
fährt mit Wasserstoff. Doch als die Geburtsstunden
des Automobils werden zwei Ereignisse im Südwesten
Deutschlands gesehen. Und damit kommen die zwei
Herren auf dem Rücksitz ins Spiel: Am 29. Januar 1886
stellt Carl Benz sein 0,75 PS starkes Einzylinder-Dreirad als Patentmotorwagen Nummer 1 in Mannheim
vor. Im Spätsommer desselben Jahres präsentiert
Gottlieb Daimler im 100 km entfernten Stuttgart seine 1,1 PS starke Motorkutsche. 1893 meldet Rudolf
Diesel sein Patent für „Arbeitsverfahren und Ausfüh20
Bild: Daimler
Am 29. Januar 1886 stellt
Carl Benz sein 0,75 PS
starkes Einzylinder-Dreirad als Patentmotorwagen
Nummer 1 in Mannheim
vor.
ZEITLEISTE
1886
Carl Benz stellt seinen
dreirädrigen Patentmotorwagen Nummer
1 vor, Gottlieb Daimler
präsentiert den ersten
vierrädrigen Kraftwagen.
1900
Ferdinand Porsche
stellt seinen LohnerPorsche vor – das
erste Elektroauto.
1913
Erstes Auto mit Aluminium-LeichtbauKarosserie von NSU,
Ford startet die Fließbandproduktion.
1951
Walter Linderer erfindet den Airbag und
Bela Barényi definiert
die Knautschzone.
1997
Toyota bringt mit dem
„Prius“ ein Hybridauto
in Serie an den Markt.
2007
GM führt mit dem
„Chevrolet Volt“ ein
Elektroauto in Serie
ein.
maschinenmarkt.de
Suche „Porträt“
rungsart für Verbrennungsmaschinen“ an. Anfangs
nur für Schiff und Lkw geeignet, setzt sich sein
Motor in den 1950ern auch für den Pkw durch.
Im Jahr 1900 stellt der 25-jährige deutsche Ingenieur Ferdinand Porsche ein voll funktionsfähiges Elektroauto vor, den Lohner-Porsche.
Akkus treiben Elektromotoren an den vier Rädern an. Bereits 1913 stellt NSU mit dem „8/24“
das erste Auto mit Aluminium-Leichtbau-Karosserie
vor. In Großserie ging diese Bauart allerdings mit dem
Audi A2 erst 86 Jahre später. Ebenfalls 1913 gelingt in
Detroit Henry Ford mit seinem „Modell T“ ein absoluter Klassiker. Er ist so gefragt, dass die Fließbandfertigung erdacht wird, die den Kaufpreis des Wagens
um mehr als 50 % senkt. Ab 1938 wird das bis heute
meistproduzierte Auto gefertigt. 65 Jahre lang wird
der VW Käfer gebaut und weltweit laufen mehr als 21
Mio. Fahrzeuge vom Band.
MEHR SICHERHEIT IM FAHRZEUG
1951 meldet der Münchner Erfinder Walter Linderer
eine „Einrichtung zum Schutze von in Fahrzeugen
befindlichen Personen gegen Verletzungen bei Zusammenstößen“ zum Patent an und erfindet damit
den Airbag. Im gleichen Jahr gelingt Bela Barényi ein
Durchbruch beim Schutz der Insassen. Er definiert
die Knautschzone. Ab 1959 erhöht sich die Sicherheit
für den Fahrgast noch einmal deutlich, denn der
Schwede Nils Bohlin erfindet den Dreipunkt-Sicherheitsgurt. 1966 wird das ABS erstmals in einem Serienauto verbaut. Es verhindert das Blockieren der
Räder beim Bremsen. Das Auto bleibt lenkbar. 1995
folgt das ESP von Bosch.
Alternative Antriebe gibt es immer wieder, doch
erst Ende des 20. Jahrhunderts können sie sich durchsetzen. 1997 bringt Toyota mit dem „Prius“ das bis
heute erfolgreichste Hybridauto auf den Markt. 2007
stellt GM den „Chevrolet Volt“ vor. Das Elektroauto
wird seit 2010 in Serie produziert und ist zugleich als
„Opel Ampera“ auf dem europäischen Markt erhältlich. Und was ist Stand der Dinge beim Getriebe?
Aktueller Höhepunkt in der Entwicklung der Automatikgetriebe ist eine 9-Gang-Automatik; fraglich ist,
wie viele der neun Gänge wirklich notwendig sind.
Daimler und Benz haben mittlerweile ihre Stofftaschentücher aus den Hosen geholt um den Schweiß
von der Stirn zu wischen. Die Limousine fährt mit den
beiden auf der Autobahn, dichter Verkehr. Das Auto
blinkt und beschleunigt, wechselt die Spur und überholt zügig zwei Fahrzeuge. Plötzlich Stop-and-go-Verkehr. Nun ist die heimische Ausfahrt zu sehen, das
Auto erkennt sie und bringt die beiden Herren zurück
zum Ausgangsort, öffnet die Türen und verabschiedet
die Autopioniere höflich. Anschließend sucht es einen
Parkplatz und manövriert sich selbst in die Lücke. Die
beiden Herren haben Augen und Mund weit offen.
Endlich findet Daimler Worte und sagt zu Benz: „Nun
gibt es tatsächlich das ,auto mobil'. Es bewegt sich
wirklich von selbst.“
Alexander Völkert
MM MASCHINENMARKT KW34 2015