Der Schwimmkurs

Der Schwimmkurs
Weihnachten und den Jahreswechsel habe ich relativ gut hinter mich gebracht,
die Fastenzeit, die ich natürlich wieder einmal nicht eingehalten habe, neigt sich
dem Ende zu und der Frühling ist zum Greifen nahe. Nach diesem langen
Winter sind alle ausgebrannt und lechzen nach warmen Sonnenstrahlen. Auch
ich. Die Mutter eines Freundes von Emil erzählte mir letzte Woche von einer
tollen Schwimmschule. Dynamische Schwimmlehrer bringen den Kindern
innerhalb von vierzehn Tagen das Schwimmen bei. Mit Schwimmgarantie
natürlich. Sonst nicht Geld zurück, aber zusätzliche Schwimmstunden, bis es
der kleine Balg begriffen hat. Ich befrage Emil vorsichtig, ob er denn Lust habe,
einen Schwimmkurs zu besuchen. Er hat. Wenn eine ordentliche Belohnung für
ihn herausspringen würde, hätte er noch mehr Lust. Ich melde ihn an.
Es beginnt an einem Montag. Ich hole ihn vom Kindergarten ab und hetze – wie
immer – in Richtung Freizeitanlage, in der sich das magische Schwimmbecken
mit weniger Chlor und angeblich perfekter Wasserqualität befindet. Telefonisch
habe ich bereits das Wesentliche abgeklärt und hundertfünfzig Euro brav auf
das entsprechende Konto überwiesen. Parkplätze sind dort Mangelware und ich
drehe schon etwas nervös die dritte Runde. Da! Endlich. Es fährt jemand weg,
der sichtlich enorm viel Zeit oder keine Servolenkung hat. Ich zerre Emil aus
dem Auto und wir laufen Richtung Schwimmschule. Das Schwimmbecken und
die Garderoben befinden sich im Dachgeschoss. Es gibt einen Aufzug, der
allerdings maximal drei Personen befördert und außerdem sehr langsam fährt.
Wir beschließen zu Fuß zu gehen. Mit einem Puls von hundertachtzig und
bereits anaerob öffne ich die Türe zum Schwimmparadies. Heißer Dunst fährt
uns entgegen. Hysterische, weinende Kinder ziehen sich am nassen Boden ihre
Badeanzüge oder Badehosen aus und zwängen sich noch feucht in ihre
Kleidung.
Es herrscht eine schreckliche Stimmung. Die Eltern beziehungsweise
Großelternteile sind alle völlig entnervt, schwitzen und versuchen – wenn schon
nicht sich selbst – zumindest ihre Kinder oder Enkelkinder zu beruhigen.
Es gibt hier zwei viel zu kleine Garderoben. Diejenigen, die sich gerade
ausziehen, und die, die sich gerade anziehen, treten sich gegenseitig auf die
Füße. Die einzige Toilette, die sich im Dachgeschoss befindet, ist
überschwemmt und gänzlich überlastet. Kinder schreien, dass sie nicht oder
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nicht mehr schwimmen gehen wollen, und verschwitzte Erwachsene reden
ihnen ein, dass die Lehrerin so lieb und es so wichtig sei, noch vor dem
Sommer schwimmen zu können.
Emil presst sich an mich und will doch nicht schwimmen gehen. Die Belohnung
ist ihm egal. Im Leben draußen und mit überdimensionalen Schwimmflügeln ist
er die absolute Wasserratte. Hier drinnen, in der Sauna, ist er zu gar nichts
bereit. Krampfhaft versuche ich mir in Erinnerung zu rufen, welche meiner
Freundinnen mir diese Schwimmschule empfohlen hat. Es ist der reinste
Horror. Und das empfinden nicht nur die Erwachsenen so. Das dreißig Grad
warme Wasser tut das Seine dazu, dass es sich hier drinnen wie fünfzig Grad
anfühlt. Andererseits soll das warme Wasser ein Verkrampfen der Muskulatur
verhindern und den Kindern während der fünfzig Minuten Unterricht einfach
mehr Spaß ermöglichen.
Endlich. Emil hat seine Badehose an und schleicht schüchtern zur
Schwimmlehrerin. Leise und geknickt stellt er sich vor und kontrolliert angstvoll
mit einem Blick über seine Schulter, ob ich auch nicht den Schwimmbereich
verlasse. Trotzdem. Eltern sind während der Schwimmstunde unerwünscht,
was ich ja auch nicht wirklich schlecht finde. Es bedeutet für mich dreißig
Minuten Freiheit. Toll! Zehn Minuten brauche ich, um diesem verplanten
Gebäudekomplex zu entfliehen, zehn Minuten, um ins heiße Dachgeschoss
zurückzukehren. Die Infrastruktur um diese Freizeitanlage ist eher dürftig. Es
gibt ein kleines Café, das halbwegs nett wirkt, und ein Miniatureinkaufszentrum,
in dem sich seltsame Geschäfte befinden. Zehn Tage lang werde ich jetzt diese
Umgebung genießen dürfen. Welch Freude. Dazwischen rufe ich zweimal
Florian an. Er ist alleine zu Hause geblieben und sieht wahrscheinlich nonstop
fern. Ich flüchte.
Ein schneller Espresso, dazu eine Kopfwehtablette und ich eile wieder zurück
zum Freizeitkomplex. Ich laufe zu Fuß, da erneut eine Gruppe Erwachsener auf
den winzigen Aufzug wartet. Emil erwartet mich bereits mit gedämpfter
Begeisterung.
„Komm, zieh dich schnell um“, sage ich. „Hier drinnen ist es so heiß. Lass uns
schnell nach Hause fahren. Im Auto kannst du dich dann mit einer Banane
stärken.“
Da seine Haare nass sind, müssen wir zwei Stockwerke tiefer die
Erwachsenengarderoben des Fitnesscenters benützen, weil es eben nur dort
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Haarföhns
gibt.
Außerdem
bekomme
ich
in
den
Garderoben
des
Dachgeschosses sowieso Platzangst und Schweißausbrüche, sodass ich
darüber gar nicht unglücklich bin. Schnell laufe ich zwei Stöcke abwärts und
zerre Emil hinter mir her. Geschafft. Zumindest die erste Stunde. Der Einstieg
ist immer entscheidend. Emil ist ruhig und nicht euphorisch, wie ich es mir im
Idealfall erwartet hätte.
Tag zwei in Sachen Schwimmen lernen. Emil fühlt sich nicht so gut und hat
nicht wirklich Lust, schwimmen zu lernen. Ich vermute, er wird krank. Na, das
kann ich jetzt brauchen. Statt Mitgefühl habe ich unzählige Gedanken im Kopf,
überlege, was es für uns bedeutet, wenn Emil angeschlagen zum Schwimmkurs
geht. Und so ist es dann auch. Emil hat nicht so mitgearbeitet, wie er es hätte
tun sollen, und zu Hause zeigte das Fieberthermometer bereits achtunddreißig
Grad an. Außerdem tut ihm das linke Ohr weh. Ohrenschmerzen und
Schwimmen verträgt sich gar nicht. Alles habe ich mir eingeteilt. Es ist ein
Jammer. Am nächsten Vormittag gehen wir zum Kinderarzt und Emil wird
tatsächlich ein Antibiotikum verschrieben. Zwei Wochen soll er ganz bestimmt
nicht schwimmen gehen. So schicke ich die Bestätigung des Arztes an das
Fitnesscenter und verschiebe den Schwimmkurs um drei Wochen. Mit Ach und
Krach bekomme ich einen Platz für Emil. Im Klartext heißt das, dass wir bei Tag
drei des Schwimmkurses einsteigen und die Philosophie der Schwimmschule
da nicht wirklich aufgeht. Sollte doch der Unterricht zweimal an jeweils fünf
aufeinander folgenden Tagen stattfinden. Aber Emil wird das schon machen. Er
ist immerhin die sportliche Hoffnung unserer Familie.
Ich komme an Tag drei zehn Minuten früher und schaue gespannt durch die
Glastüre. Ich kann Emil einfach nicht im Wasserbecken entdecken. Wie auch.
Wenn Herr Fritsche junior doch am Beckenrand sitzt und so tut, als gehöre er
nicht dazu. Ich breche dreist die strengen Regeln der Schwimmschule und
reiße die Glastüre auf. Immerhin zahle ich für diesen Kurs und mein Sohn
macht nicht mit.
„Wieso ist Emil denn nicht im Wasser bei den anderen Kindern?“, frage ich den
Schwimmlehrer und bemühe mich, dabei freundlich zu sein.
„Er sagt, ihm tut die Zehe weh. Ich habe sie mir angesehen. Der große
Zehennagel ist ein bisschen blau. Vielleicht hat er sich ja kürzlich verletzt.“
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Ich schnappe nach Luft. Emil kommt mit hängenden Schultern und mit sichtlich
schlechtem Gewissen zu mir. Ich zerre ihn in die Garderobe mit subtropischem
Klima und frage ihn, was er hat.
„Mir ist vor einer Woche bei Omi ein Stock auf die Zehe gefallen. Damals hat es
schon sehr wehgetan. Und irgendwie löst sich der Nagel, schau mal Mami!“,
heult er mich an und tut sich gerade furchtbar leid.
Mein Blick auf die Zehe, die Schuld hat, dass er die dritte Schwimmstunde nur
vom Beckenrand verfolgt hat, bestätigt, dass sie blau ist. Darunter bildet sich
bereits ein neuer Nagel. Der alte Nagel ist gerade im Begriff, sich zu
verabschieden. Emil findet das nicht lustig und nimmt wahrscheinlich an, er
verliert in der nächsten Woche auf dramatische Art und Weise, langsam und
qualvoll gleich sein ganzes Bein. Großeltern und Mütter anderer Kinder glauben
sich einmischen zu müssen und heucheln Mitgefühl. Nichts wie weg von hier.
Zu Hause angekommen, widme ich mich ganz der großen Zehe meines kleinen
Sohnes. Zuerst aber stürzt sich Florian auf Emil. Er hat großes Mitgefühl. Ist er
doch selbst eine große Memme und hat Mitleid mit allen, die Schmerzen
simulieren, andeuten oder wirklich erleiden. Ich erkläre Emil, dass ich ihm jetzt
den alten, kaputten Nagel abschneiden werde. Er wimmert und weint und ist
hysterisch. Schrecklich. Dann ist er ab. Der Nagel. Emil ist plötzlich wieder
normal und bedankt sich wie ein Politiker, dass ich ihn quasi gerettet habe. Tag
vier im Schwimmkurs steht nichts mehr im Wege.
Tag vier im Schwimmkurs. Fast Halbzeit. Emil findet nicht wirklich Anschluss
bei den Kindern, was ganz ungewöhnlich ist. Die Schwimmfortschritte gehen
schleppend voran und ich bezweifle, dass er im Sommer schwimmen kann. Die
Kinder beginnen mit jeweils vier Styroporringen an den Armen, die als
Schwimmhilfe dienen. Sukzessive werden diese verringert und sollen im
Idealfall zum Schluss komplett wegfallen. Sprich – das Kind kann schwimmen.
Manche Kinder schwimmen bereits mit einem Ring pro Seite, andere mit zwei.
Und Emil? Schwimmt gemütlich mit drei Stück pro Seite. Man könnte ja im
Becken ertrinken. Ich merke, wie ein Konkurrenzkampf in der subtropischen
Kabine aufkeimt. Eine jung gebliebene Großmutter einer Schülerin macht sich
besonders wichtig und analysiert jedes Kind. Dazwischen erzählt sie von ihrem
Schrebergartenhaus und eigenen Kindheitserlebnissen. Außerdem erwähnt sie,
dass sie dreimal verheiratet war. Zum Glück kommen rechtzeitig die grölenden
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Kinder aus der Schwimmhalle und ich und die anderen Mütter müssen uns
dieses Geschwatze nicht mehr anhören.
Am Tag fünf bilden sich zwei Gruppen. Es verbrüdern sich diejenigen mit den
unfähigen Kindern und denen, die noch immer nicht bleiben wollen, und die mit
den erfolgreichen Musterschwimmern mit nur einem oder keinem Styroporring.
Es ist Halbzeit und ein paar der Erziehungsberechtigten laufen bei vierzig Grad
mit Filmkameras und Fotoapparaten umher. Sollte ich Emil vielleicht zur
Erinnerung mit drei Ringen fotografieren? Bloß nicht!
Das Wochenende ist da und wir alle brauchen Erholung. Immerhin stehen uns
noch fünf harte Schwimmtage bevor. Es schwimmt sich zwar für Emil mit dem
neuen, unfertigen Zehennagel um einiges besser, es will aber nicht wirklich sein
Metier werden.
Die Entspannung, die eigentlich noch gar nicht richtig eingetreten ist, endet in
dem Moment, als ich – in eine dicke Kuscheldecke eingehüllt und Zeitung
lesend – von Emil eine Spur zu süß gefragt werde: „Mami, Zahnpaste macht
doch die Zähne sauber, oder?"
„Ja sicher, es befreit den Zahn von dem Belag mit den bösen Bakterien, das
weißt du doch, Emil!"
„Ja, aber – wie kommt es dann, dass wenn ich etwas anderes mit Zahnpaste
reinigen möchte, das dann gar nicht sauber wird?"
Mit einem Ruck zerstöre ich mein Kuschelgelage und frage hellhörig: „Was
wolltest du denn reinigen, Emil?"
„Die Boxen vom Fernseher im Gästezimmer.“
Auf dem Weg dorthin falle ich beinahe auf die Nase, so rutschig sind die
selbstgestrickten
Socken
meiner
Schwiegermutter.
Ich
dachte,
der
Schwimmkurs sei schon schlimm genug. Von wegen. Hat man hier denn
niemals Ruhe? Ich brauche ein Date, ich benötige Ablenkung, etwas Gutes zu
Essen, Zuwendung und Liebe oder am besten einen Orgasmus. Außerdem
habe ich nichts anzuziehen und neue Schuhe brauche ich auch.
Kniend versuche ich mit einer weichen Nagelbürste die Boxen des Fernsehers
von der Zahnpaste zu befreien. Emil und Florian spielen so brav wie niemals
zuvor in ihren Zimmern. Es ist ein Unterfangen, das mehrere Stunden
beanspruchen wird, merke ich. So ganz gelingt es mir nicht, den Fernseher von
dem Desaster zu befreien. Ach, was soll’s. Ich tröste mich mit dem Gedanken,
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dass an dem Wochenende nach Ende des Schwimmkurses die Kinder bei
meinen Eltern sind. Ich werde Erholung brauchen und es mir mit Jürgen so
richtig gemütlich machen.
Die nächsten fünf Schwimmtage verlaufen ähnlich wie die Woche davor. Emil
trennt sich nicht von den blöden Styroporringen und der Junge, der noch nie
gerne kommen wollte, bricht mit einer völlig entnervten Mutter den Kurs ab. Ich
traue mich sogar zu behaupten, in den Augen des Fünfjährigen ein diabolisches
Glitzern erkennen zu können. Und die Großmutter des Multitalents – bereits
ohne Ringe – klatscht ihre Enkeltochter zu Beginn der Schwimmstunde
regelrecht ein und hat in Wirklichkeit die Trainerrolle an sich gerissen.
Ich habe mir in dem grauenvollen Shoppingcenter Dessous, die ich nicht
brauche, und eine Jeans und einen Pulli gekauft, die mir eigentlich gar nicht so
richtig gefallen.
Am letzten Schwimmtag ist die Bude dermaßen gerammelt voll, dass ich
beinahe kollabiere. Es gibt Urkunden und Süßigkeiten für alle, auch für die, die
noch mit einem Styroporring schwimmen, also auch für Emil. Er ist zu recht
etwas geknickt und nimmt die Geschenke mit schlechtem Gewissen entgegen.
„Wie war das mit der Schwimmgarantie?“, rede ich leise vor mich hin und stapfe
zur Rezeption. Ich könne mit Emil eine Einzelstunde vereinbaren, das koste
jedoch etwas. Soll es doch etwas kosten. Ich habe genug von dem Zirkus. Ich
will, dass Emil schwimmen kann. Ich will, dass er mit einem positiven Gefühl
und einem Erfolgserlebnis die heiligen Schwimmhallen verlässt. Also gut,
einmal noch.
„Baywatch“ ist nichts dagegen. Eine Schwimmlehrerin jenseits der vierzig mit
überdimensionalen Silikonbrüsten und rotem Schwimmtrikot empfängt mich.
Ihre aufgespritzten Lippen verzerren sich zu einem Lächeln: „Das wird schon.
Spätestens morgen kann er es. Sie werden sehen!“
Ihr Wort in Gottes Ohr. Nach einem sinnlosen Spaziergang hole ich Emil das
letzte Mal – so hoffe ich – ab. Er grinst über beide Ohren und ist entspannt wie
nie zuvor. Haben es ihm die Brüste angetan? Vielleicht hat er jetzt ein Trauma?
„Er kann schwimmen!“, schallt es aus dem Mund der Baywatch-Schnecke.
Und wirklich. Emil schwimmt hektisch, aber immerhin ohne Styroporringe.
Unglaublich – wir haben es geschafft! Eine Tortour geht zu Ende. Leute, bringt
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euren Kindern das Schwimmen selber bei. Das kann ich nur allen empfehlen!
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