Dauerkrise überwinden - für Bauern, Umwelt und die Tiere!

Der kritische Agrarbericht 2016
Dauerkrise überwinden – für Bauern, Umwelt und die Tiere!
Deutschlands fataler Einfluss in der EU-Agrarpolitik und die
ungenutzten Möglichkeiten für agrarpolitische Verbesserungen
von Ulrich Jasper
Sowohl auf EU-Ebene als auch auf nationaler Ebene kann und muss die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) anders umgesetzt werden als bisher. Denn die aktuellen Regelungen bewirken, dass
mit den Märkten für Milch und Schweinefleisch zwei bedeutende Bereiche der Landwirtschaft in
einer Dauerkrise stecken. Änderungen bzw. wirksame Ergänzungen der Marktordnung im Milchbereich, Änderungen im Tierschutzrecht und die Ausnutzung der Optionen zur Umschichtung von
EU-Agrargeldern in Deutschland sind notwendig, um die Ziele »kostendeckende Erzeugerpreise«,
»Umbau der Tierhaltung« und »Stärkung bäuerlicher Betriebe« zu erreichen. Es ist vor allem die
deutsche Bundesregierung, die immer wieder ein Zurückfahren der Überschussproduktion in zentralen Bereichen des europäischen Agrarmarktes verhindert – und stattdessen eine Exportoffensive
forciert, die die Probleme eher verschärfen als lösen wird.
Die Europäische Union befindet sich gesamtpolitisch
in einer angespannten Situation, das betrifft sowohl
außenpolitische als auch innenpolitische Herausforderungen und nicht zuletzt nach wie vor den wirtschaftlichen Zusammenhalt. Fliehkräfte gibt es innerhalb
einiger Mitgliedstaaten und auch zwischen Mitgliedstaaten. Vor diesem Hintergrund ist nicht zu erwarten,
dass die im Jahr 2016 anstehende Halbzeitüberprüfung
des mehrjährigen Finanzrahmens 2014–2020 der EU
schon zu großen Änderungsvorschlägen führen wird.
Wer das Paket jetzt aufmacht, bekommt es nur schwerlich wieder zugeschnürt. Das gilt auch für den größten
Haushaltsposten: die EU-Agrarpolitik.
Die EU-Kommission und die Mehrheit im Agrarministerrat sind von der zwischenzeitlichen Idee abgerückt, in den Jahren 2016/2017 eine echte Halbzeitbewertung der im Jahr 2013 beschlossenen Reform der
GAP durchzuführen. Die Grundverordnungen für
Direktzahlungen und Marktordnung gelten als tabu.
Selbst die so viel bemühte Forderung nach »Vereinfachung« prallt ab, sobald sie eine Änderung an den
Basis-Verordnungen erfordert. Denn das würde zu einem öffentlichen Ringen zwischen den Agrarministern
der Mitgliedstaaten und innerhalb des Europäischen
Parlaments führen, was von anderen Ressorts zu gerne
als günstiger Moment zum Zugriff auf die Agrargelder
verstanden würde.
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Also Deckel drauf und abwarten – so lautet die augenblickliche Strategie. Das kommt einigen Interessen
in der Agrar- und Ernährungswirtschaft sehr gelegen,
denn sie profitieren von den jetzt bestehenden Regeln.
Auf der Verliererseite sind dagegen die meisten Bauern
in Europa und in den Entwicklungsländern sowie Umwelt, Tiere und nicht zuletzt die Verbraucher.
Änderungen sind allerdings zum Teil auch möglich,
ohne die Basis-Verordnungen aufzuschnüren. Das gilt
auf der EU-Ebene etwa für Regeln in Marktkrisen bei
der Milch. Und auf nationaler Ebene besteht die Möglichkeit, EU-Zahlungen umzuschichten hin zu kleineren und mittleren Betrieben sowie zugunsten von Förderprogrammen für umweltschonende Wirtschaftsweisen und tiergerechte Haltungsverfahren. Sogar die
deutschen Regeln zur Umsetzung des Greenings lassen
sich verbessern, wenn der politische Wille dazu aufgebracht wird. Nicht zuletzt kann das Fachrecht, etwa
zum Tierschutz, auf europäischer wie deutscher Ebene
weiterentwickelt werden, ohne einen Kampf um EUHaushaltsmittel auszulösen. Alles dieses ist möglich
und aus mehreren Gründen dringend geboten.
Bedrohliche Tiefstpreise
Den ersten Reformdruck spürt ein Großteil der Betriebe seit Monaten tagtäglich. Mit Milch und Schwei-
Agrarpolitik und soziale Lage
nefleisch stecken zwei wichtige
Bereiche der deutschen und auch
Abb. 1: Milchpreisentwicklung in der EU (Cent pro Liter)
europäischen Landwirtschaft nun40
40,01
mehr seit über einem Jahr in einem
37,53
eklatanten Preistief. Für die (kon36,32
ventionellen) Milchbauern und
34,43
Schweinehalter gehen die auffällig
31,86
30,54
lang anhaltenden Tiefstpreise an
30
29,30
die Existenz ihrer Betriebe. In beiden Märkten setzte der Preisverfall
um bis zu 35 Prozent bei Milch bzw.
2014
2015
bis zu 25 Prozent bei Mastschwei20
Februar
Mai
August November Februar
Mai
August
nen im Spätsommer 2014 ein. Das
Jahr 2015 war mehr oder weniger
durchgängig von sehr niedrigen
Erzeugerpreisen gekennzeichnet,
Abb. 2: Entwicklung der Preise für Schlachtschweine (Euro/100 kg)
die im November 2015 sowohl bei
180
Milch als auch beim Schweinefleisch ihre vorläufigen Mehrjah165
restiefpunkte erreichten.
In Norddeutschland zahlte die
150
größte deutsche Molkerei, das als
139.61/100 kg
Genossenschaftsmolkerei gelten135
de Deutsche Milchkontor (DMK),
120
den Bauern nur noch 25 Cent je
Jan. Jan. Feb. März April Mai Juni Juli Aug. Sep. Okt. Nov. Dez.
Liter Milch, und deren angestrebter niederländischer Fusionspartim Durchschnitt 2010–2014
2014
2015
ner DOC Kaas sogar nur noch
23 Cent je Liter.¹ Das sind 14 bzw. Quelle: EU-Kommission 
elf Cent weniger, als sie noch im
Frühsommer 2014 an die Bauern auszahlten (Abb. 1). ren worden. Zentrale Instrumente gibt es zwar immer
Ähnlich, nur etwas schneller, fiel der Schweinepreis: noch und sie werden – bis auf die Exportsubventiovon 1,70 Euro je Kilogramm Schlachtgewicht im Juni nen – auch noch bzw. wieder eingesetzt, aber auf einem
2014 auf 1,32 Euro im Dezember 2014, klebte dann bis deutlich niedrigeren Preisniveau, das umgerechnet bei
Ende 2015 mit nur leichten Schwankungen an der Mar- unter 21,5 Cent je Liter Milch liegt.² Ein Zurück zu der
ke von 1,40 Euro fest und fiel im November 2015 auf alten Preisstützung aber, also ein nennenswertes An1,30 Euro pro Kilogramm (Abb. 2). Zu diesen Preisen heben des Stützungsniveaus, das heute »Sicherheitskann kein Liter Milch und kein Kilo Schweinefleisch netz« genannt wird, wird es nicht geben. Das wäre auch
kostendeckend erzeugt werden. Die Betriebe fahren grundfalsch, weil das vor allem zu immensen Lagerdurch die Bank Verluste ein. Die finanzielle Situation beständen auf Kosten der Steuerzahler führen würde,
der Betriebe in der Milchviehhaltung und Schweine- was das Preistief noch weiter verlängert, weil die Ware
haltung ist so angespannt wie seit Jahren nicht mehr. auch wieder ausgelagert und in den Markt gebracht
Das Ganze geht an ihre ökonomische Substanz.
werden muss. Und es gibt schon Lagerbestände genug.
Die EU bestimmt nicht die Erzeugerpreise für
landwirtschaftliche Erzeugnisse oder legt sie gar fest. Mengen, Exporte und Bestände steigen
Für Schweinefleisch gilt das schon immer, und für
Milch gab es zwar bis Anfang der 2000er-Jahre eine Unstrittig ist, dass der starke Preisverfall verursacht
aktive Preisstützungspolitik der EU, aber nicht direkt worden ist durch ein Auseinanderfallen von steigendem
auf Ebene der Milcherzeuger, sondern auf Ebene der Angebot und abnehmender kaufkräftiger Nachfrage,
Standard-Molkereiprodukte Milchpulver und Butter wobei hier vor allem eine Kaufzurückhaltung Chinas
vor allem über die Instrumente staatliche Intervention, und der Importstopp Russlands für tierische ErzeugFörderung von privater Lagerhaltung (hier der Molke- nisse aus der EU nach den EU-Sanktionen gegen das
reien) und Exportsubventionen. Mit Umsetzung der Vorgehen Russlands in der Ukraine genannt werden.
1999 beschlossenen Agenda 2000 und der folgenden
Die Milcherzeugung stieg in der EU im Jahr 2014
Reformen ist diese Preisstützung stark zurückgefah- gegenüber dem Vorjahr ungewohnt stark um vier Pro35
Der kritische Agrarbericht 2016
zent auf 160 Milliarden Kilogramm Milch, und trotz
Preiseinbruch wächst die EU-Menge 2015 weiter um
rund ein Prozent.³ Auch bei Schweinefleisch gab es
2014 einen Anstieg in der EU-Erzeugung, hier um zwei
Prozent auf 22,8 Millionen Tonnen bzw. 255 Millionen
Tiere, der sich im Jahr 2015 sogar noch verstärkt hat
(plus 2,7 Prozent).⁴
Diesem deutlichen Anstieg in der Erzeugung steht
ein stagnierender Absatz im europäischen Binnenmarkt gegenüber. Das Mehr an Milch und Schweinen
ist strategisch auf steigende Exporte ausgerichtet. Bei
den Molkereiprodukten Butter, Vollmilchpulver und
vor allem bei Magermilchpulver (plus 59 Prozent) zog
der Export im Jahr 2014 in der Tat stark an, während
weniger Käse ausgeführt wurde (minus acht Prozent).
Wenn auch mit abgeschwächten Zahlen, setzte sich
die Exportzunahme vor allem bei Milchpulver 2015
fort, während die Käseausfuhr weiter zurückging (minus fünf Prozent). Anders ist der Exportverlauf beim
Schweinefleisch: Der ist im Jahr 2014 (nach einem
zweijährigen Anstieg) um 13 Prozent stark zurückgegangen, aber 2015 um über sieben Prozent wieder
gestiegen.
Bei Milch wie beim Schweinefleisch haben laut Statistiken die gestiegenen Exporte aber die mehr erzeugten Mengen nicht aufgefangen, was auf wachsende
Lagerbestände schließen lässt. Oder anders ausgedrückt: Selbst zu den Tiefstpreisen, die den Bauern gezahlt werden, sind die Mehrmengen nicht insgesamt
auf dem Weltmarkt loszuschlagen. Es wird höchste
Zeit, bei uns die Mengen gezielt zurückzufahren.
EU in der Verantwortung
Bei der Milch hatte das Europäische Parlament auf
den Verordnungsentwurf der Kommission hin einen
konkreten Vorschlag in die Verhandlungen um die
vergangene Reform der GAP eingebracht. In seinem
am 13. März 2013 vom Plenum beschlossenen Verhandlungsmandat sah das Hohe Haus »Maßnahmen zur Beseitigung schwerer Ungleichgewichte auf dem Markt
für Milch und Milcherzeugnisse« vor.⁵ Ab dem 1. April
2015, also nach Auslaufen der Milchquotenregelung in
der EU, sollte die EU-Kommission die Möglichkeit bekommen, bei schweren Marktkrisen für eine befristete
Zeit einen finanziellen Anreiz an solche Milcherzeuger
einzuführen, die ihre Erzeugungsmenge gegenüber der
Vorjahresmenge um mindestens fünf Prozent reduzieren. Gleichzeitig sollte die Kommission eine Abgabe
von Milcherzeugern erheben können, die ihre Milchmenge im gleichen Zeitraum um mindestens fünf
Prozent erhöhen. Bei der Anwendung der Maßnahme
sollte die Kommission die Entwicklung der Produktionskosten, insbesondere der Betriebsmittelkosten der
Milchbauern, berücksichtigen.
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Eingebracht hatte diesen Vorschlag der französische konservative Abgeordnete und Berichterstatter
für die Gemeinsame Marktordnung Michel Dantin.
Der damalige Agrarkommissar Dacian Cioloş zeigte sich offen dafür, dieses Instrument aufzunehmen.
Gescheitert ist der Vorschlag am Agrarministerrat.
Insbesondere das deutsche Bundesministerium unter
damaliger Leitung von Ilse Aigner stellte sich quer und
lehnte ihn kategorisch ab, auch auf Druck aus der deutschen, stark exportorientierten Milchindustrie und
dem Deutschen Bauernverband.
Hätte Deutschland die Forderung aus dem EUParlament dagegen unterstützt und im Agrarrat mit
Frankreich und anderen dafür gestritten, enthielte die
Basis-Verordnung der EU zur Gemeinsamen Marktorganisation nun ein Anreizsystem zur gezielten Verringerung der Menge in einer schweren Marktkrise.
Das Instrument sah keinen Automatismus vor, sondern
legte die Regelung ausdrücklich in die Verantwortung
der Kommission. Es beschrieb also eine Handlungsoption. Selbst das war dem Bundesministerium zu viel.
Die im European Milk Board (EMB) organisierten Milchbauernverbände (darunter aus Deutschland
der Bundesverband Deutscher Milchviehhalter und
die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft)
fordern weiterhin ähnliche Maßnahmen. Kurzfristig
sollten die europaweit rund 820 Millionen Euro Superabgaben, die aus der Überlieferung von Milchquoten
im allerletzten Quotenjahr 2014/2015 resultieren, eingesetzt werden, um daraus auf EU-Ebene einen Anreiz zur freiwilligen und kurzfristigen Reduzierung der
Milchmenge um einige Prozent zu finanzieren.
Auch das wurde und wird vom Bundesministerium
für Ernährung und Landwirtschaft strikt abgelehnt; stattdessen forderte es eine Beihilfe für Liquiditätsdarlehen,
eine frühere Auszahlung der Direktzahlungen und Gelder für eine Exportoffensive für Molkereiprodukte. Damit setzte sich das Bundesministerium auf EU-Ebene
auch durch, doch es ist mitnichten davon auszugehen,
dass damit auch ein nennenswerter Beitrag zur Linderung der Marktkrise und der existenzbedrohlichen
Situation auf den Milchviehbetrieben erreicht wird.
Umso wichtiger ist es auch 2016, mengenbegrenzende Maßnahmen auf der Stufe der Milcherzeugung
weiter zu verfolgen und die Bundesregierung wenigstens zu einem gewissen Einlenken zu bewegen. Erste
derartige Maßnahmen ließen sich über die in der EUMarktordnungs-Verordnung 2013 neu geschaffenen
Eingriffsmöglichkeiten der EU-Kommission im Falle
von Marktstörungen bzw. -krisen installieren.⁶
Was tun am Schweinemarkt?
Was im Milchmarkt funktionieren kann, lässt sich im
Schweinemarkt nicht umsetzen. Während die Milch-
Agrarpolitik und soziale Lage
viehbetriebe längerfristige Verträge mit den Molkereien haben und die Daten über Anlieferungsmengen für
jeden Milchviehbetrieb vorhanden sind, bestehen im
Schweinemarkt kaum feste Lieferverträge. Allein das
schon macht im Schweinemarkt andere Ansätze erforderlich als im Milchmarkt. Dabei werden auch unter
Schweinehaltern Stimmen lauter, die als preiswirksame Maßnahme ein gewisses Rückfahren der Menge
fordern, wobei noch unausgesprochen bleibt, wie das
erreicht werden soll.⁷
Was in der Hand der Politik liegt, das sind indirekt
mengenwirksame Instrumente. Das betrifft das Genehmigungsrecht, also den Zuwachs an weiteren Stallkapazitäten wirksam zu begrenzen, vor allem aber sind
es Regelungen im Bereich des Tierschutzes im Schweinestall. Wenn allein der Platz, der einem Schwein zur
Verfügung stehen muss, EU-weit angehoben wird,
bewirkt das eine EU-weite Reduzierung der Tierzahlen. Die deutschen Vorgaben liegen bereits über
denen der EU, aber sie sind aus Tierschutzsicht immer noch unzureichend. Bei einer harmonisierenden
Anhebung in der EU würde der Tierbestand sinken,
aber die Erzeugungskosten je Schwein würden steigen.
Doch ist es keine Frage, ob die Tierschutzanforderungen angehoben werden, sondern nur noch wann und
in welchem Umfang. Es sollte daher dringend darüber
gesprochen werden, beides – mehr Zugehen auf den
Tierschutz und Reduzierung des Überangebots – zusammen gezielt anzugehen. Diesen Prozess zunächst
auf deutscher Ebene zu organisieren, ist mindestens
vom zuständigen Bundesministerium zu erwarten;
bisher passiert hier allerdings nichts.
Baustelle Direktzahlungen
Verbinden ließe sich die Erhöhung der Tierschutzstandards auch mit einem erheblich stärkeren Einsatz der
vorhandenen Gelder aus dem EU-Agrarhaushalt, indem
Mittel umgeschichtet werden in Maßnahmen zur Förderung von Tierschutzmaßnahmen in den Betrieben.
In Deutschland gibt es solche Förderangebote ausschließlich in der sog. Zweiten Säule der Agrarpolitik, also
in den Programmen der Bundesländer zur Förderung
der Ländlichen Entwicklung. Finanziert werden diese
Programme in aller Regel durch eine Kombination von
EU-Mitteln, Bundes- und Landesmitteln. In Betracht
kommen dabei vor allem zwei Maßnahmen: die Investitionsförderung sowie die Förderung von Haltungsverfahren mit besonderen Tierschutzanforderungen.
Für die Investitionsförderung insgesamt (nicht
nur Stallbauten) sind in den 13 Länderprogrammen
zusammen 16 Prozent der Gesamtgelder der Zweiten Säule für die Jahre 2014 bis 2020 eingeplant (circa
2,7 Milliarden Euro).⁸ Die Investitionsförderung für
Stallbauten sollte dringend an hohe, weil nur dann
zukunftsfeste Tierschutzstandards gebunden werden.
Denn sonst fördern EU, Bund und Länder weiterhin
z. B. Schweineställe, die eine tierschutzgerechte Haltung von Schweinen mit ungekürztem Ringelschwanz
nicht ermöglichen. Die Kürzung des Ringelschwanzes
wird aber nach EU-Recht – und im Grunde auch nach
deutschem Tierschutzgesetz – nur als Ausnahme geduldet, sofern vorher alle Möglichkeiten durchgeführt
wurden und ausgeschöpft sind, die das Schwanzkürzen
überflüssig machen. Für die Qualifizierung der Fördermaßnahmen sind – je nach Bundesland unterschiedlich – zunächst keine zusätzlichen Mittel erforderlich,
weil schon hinreichend Mittel eingeplant sind.
Anders sieht das bei der Förderung aus, die nicht
auf bauliche Maßnahmen abzielt, sondern die tagtägliche Praxis tiergerechter Haltungsverfahren mit
Zahlungen pro Tier oder pro Tierplatz honoriert.
Für solche Maßnahmen, etwa die Weidehaltung von
Milchkühen oder die Schweinehaltung auf Stroh, sind
in Deutschland nur 0,8 Prozent (circa 135 Millionen
Euro) der Gesamtmittel der Zweiten Säule eingeplant;
solche Maßnahmen werden bisher nur in NordrheinWestfalen, Niedersachsen/Bremen und Baden-Württemberg angeboten. Um echte Anreize in der Fläche
zu setzen, müssten die Förderangebote deutlich erhöht
und ausgeweitet, d. h. von allen Bundesländern aufgenommen und umgesetzt werden. Das ist mit erheblich
mehr Finanzmitteln verbunden, die in nennenswertem
Umfang nur durch eine Umschichtung innerhalb des
Agrarhaushalts zu erreichen sind. Das fordert auch
der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik beim
Bundeslandwirtschaftsministerium in seinem viel beachteten Gutachten vom März 2015 zur Tierhaltung.⁹
Umschichtung in die Zweite Säule
Die EU-Verordnung über die Direktzahlungen gibt
jedem Mitgliedstaat die Möglichkeit, bis zu 15 Prozent
der Gelder, die ihm von der EU für Direktzahlungen
zur Verfügung gestellt werden, umzuschichten in die
Förderprogramme der Zweiten Säule. Deutschland
nutzt das Instrument mit 4,5 Prozent Umschichtung
in den Jahren 2015 bis 2019 nur ansatzweise. Eine mögliche Erhöhung ist im EU-Recht ausdrücklich vorgesehen: Bis zum 1. August 2017 kann – und sollte – die
Bundesregierung an die EU-Kommission melden,
dass hier mit Wirkung ab dem Jahr 2018 die Umschichtung auf 15 Prozent erhöht wird.¹⁰ Dank einer
Übereinkunft zwischen der Bundesministerin für
Umwelt und dem Bundesminister für Landwirtschaft
äußert sich die Bundesregierung bisher dazu stets mit
der Formulierung, dass sie »2016/2017 eine ergebnisoffene Überprüfung durchführen« werde.¹¹ Die Bundesländer sollten über Anträge im Bundesrat der Bundesregierung eine klare Richtung für diese »Prüfung«
mit auf den Weg geben.
37
Der kritische Agrarbericht 2016
Vorrangflächen in Deutschland
bestätigt die Erwartung, dass vor
allem Zwischenfrüchte gewählt
gewichtet nach ökologischer
worden sind: Nach der reinen
Aufforstung
Wertigkeit – in 
Fläche machen Zwischenfrüchte
Kurzumtriebungewichtet nach ha in 
Gehölze
68 Prozent der Ökologischen Vorrangflächen aus; unter BerücksichLeguminosen
tigung der »ökologischen« GewichZwischenfrüchte
tungsfaktoren beträgt der Anteil
Landschaftsimmer noch 40 Prozent. Brachen
elemente
machen ungewichtet 16 Prozent
Terrassen
und mit Gewichtung 32 Prozent
aus. Leguminosen kommen auf
Streifen zus.
zwölf Prozent bzw. mit GewichWaldrandstreifen
tung auf 16 Prozent im bundesweiten Durchschnitt. Noch dahinter
Pufferstreifen
liegen die Landschaftselemente mit
Feldrandstreifen
2,4 bzw. sieben Prozent (Abb. 3).¹⁴
Wer zu einer anderen Nutzung
Brachen
der Ökologischen Vorrangflä0
10
20
30
40
50
60
70
chen kommen will, die einen höheren ökologischen Beitrag als
Zwischenfrüchte leistet, der kommt nicht umhin,
Umschichtung für kleinere und mittlere Betriebe
Verbunden werden sollte die Ausschöpfung der Um- die Anrechenbarkeit von Zwischenfruchtanbau auf
schichtung in qualifizierte Maßnahmen der Zweiten Ökologischen Vorrangflächen (und ausschließlich
Säule damit, dass gleichzeitig der Zahlungsaufschlag hier!) einzuschränken. Eine relativ einfache, aber
für die ersten Hektare je Betrieb spürbar angehoben wirksame Möglichkeit dazu besteht darin, den Einwird. Denn auch diese Umschichtung wird den Mit- satz von Wirtschaftsdüngern hier einzuschränken.
Fazit: Die EU-Agrarpolitik in all ihren Facetten biegliedstaaten vom geltenden EU-Recht eröffnet: Sie
können bis zu 30 Prozent der (nach der Umschichtung tet auch zwischen großen Reformdebatten viele Mögin die Zweite Säule verbleibenden) Direktzahlungsmit- lichkeiten, um ihre Wirkung im Sinne von Bauern und
tel einsetzen, um den Betrieben für die ersten Hektare Verbrauchern, Umwelt und Tierschutz erheblich zu
je Betrieb (bis maximal zur Durchschnittsgröße der verbessern. Sie gilt es zu nutzen.
Betriebe im Land, in Deutschland 46 Hektar) eine wesentlich höhere Direktzahlung zu gewähren als für die
weiteren Hektare.¹²
Folgerungen
Forderungen
Deutschland setzt auch dieses Instrument nur an■ Die katastrophalen Erzeugerpreise für Milch und
satzweise um; statt 30 Prozent werden nur sieben Prozent hierfür umgeschichtet.¹³ Der Aufschlag darf nach
Schweinefleisch erfordern ein aktives Handeln auch
EU-Recht bis zu 65 Prozent der durchschnittlichen
der EU-Agrarpolitik. Die Bundesregierung muss ihre
Zahlungen im Land je Hektar betragen, also rund
Blockade aufgeben und einen unterstützenden Bei180 Euro. Das EU-Recht bietet also großen Spielraum,
trag dazu leisten.
■ Im Milchmarkt sind kurzfristige Kriseninstrumente für
um die EU-Gelder so einzusetzen, dass mehr davon
beim bäuerlichen Mittelstand ankommt und weniger
eine freiwillige Reduzierung der Milcherzeugung bei
bei den sehr flächenstarken Ackerbaubetrieben. Auch
gleichzeitiger Deckelung der Gesamtmenge einzuführen.
■ Im Schweinemarkt gilt es, den Abbau des preishier müssen die Bundesländer über den Bundesrat
aktiv werden, denn die Bundesregierung sieht hierzu
drückenden Überangebots mit einer Anhebung von
bisher noch nicht einmal Prüfbedarf.
Tierschutzstandards zu verbinden.
Abb. 3: Ökologische Vorrangflächen 2015
&
■
Greening verbessern
Nicht zuletzt steht in Deutschland auch die Auswertung und Bewertung des Greenings, d. h. vor allem
auch die vom deutschen Gesetzgeber gewählte Form
der Umsetzung an. Die Übersicht über die angemeldeten Flächenarten für den Nachweis der Ökologischen
38
■
Der Umbau der Tierhaltung ist auch durch einen
Umbau der Förderung zu unterstützen.
Auch dafür sind die Möglichkeiten des EU-Rechts für
Umschichtungen auf nationaler Ebene in Deutschland
auszuschöpfen. Dazu müssen 2016 die Vorbereitungen
starten.
Agrarpolitik und soziale Lage
Das Thema im Kritischen Agrarbericht
X Ulrich Jasper: Deutschland fördert mit EU-Geld weiter Landkonzentration. Umsetzung der EU-Agrarreform in anderen Staaten
viel gerechter und grüner. In: Der kritische Agrarbericht 2015,
S. 17–24.
X Ulrich Jasper: Eine Reform mit großen Möglichkeiten. EUAgrarpolitik kann auf nationaler Ebene erheblich gerechter und
grüner werden. In: Der kritische Agrarbericht 2014, S. 24–30.
X Bernd Voß: Da ist noch viel mehr drin. Agrarminister von Bund
und Ländern nutzen die Möglichkeiten der EU-Agrarreform
nicht aus. In: Der kritische Agrarbericht 2014, S. 31–34.
X Der Kritische Agrarbericht 2013 war dem Schwerpunkt »Agrarreform« gewidmet.
Anmerkungen
 Grundpreise bei 4,0 Prozent Fett und 3,4 Prozet Eiweiß. Ohne
Mehrwertsteuer, ohne Zu- und Abschläge (z. B. S-Klasse), siehe:
www.topagrar.com/rind/Milchpreisbarometer-Nord-62188.html.
 Aktuelle Berechnungen nehmen vor: H. Thiele, E. Richarts
und H. Burchardi: Expertise Kriseninstrumente im Milchmarkt.
Institut für Ernährungswirtschaft Kiel. 2015, S. 13.
 EU-Kommission: Short-time outlook (October 7, 2015).
 Ebd.
 Beschluss des Europäischen Parlaments vom 13. März 2013 zur
Aufnahme von interinstitutionellen Verhandlungen über den
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments
und des Rates über eine gemeinsame Marktorganisation für
landwirtschaftliche Erzeugnisse (Verordnung »Einheitliche
GMO«) und zur Erteilung des entsprechenden Mandats.
B7-0080/2013. Art. 156a (neu).
 Verordnung (EU) 1308/2013 über eine gemeinsame Marktorganisation […], Artikel 219, Maßnahmen gegen Marktstörungen,
bzw. Artikel 221, Maßnahmen zur Lösung spezifischer Probleme.
 So unter anderem: Erik Thijssen, der Präsident der European Pig
Producers (EPP), in seinem Beitrag: Lasst uns mal Gedanken







machen über »Weniger ist Mehr«. DLG-Newsletter 36/2015
(www.dlg.org/3845.html). – Ähnlich: Schweinemarkt: Preissturz
in Europa – Interview mit ISN-Marktreferent Matthias Quaing.
Interessengemeinschaft der Schweinehalter Deutschlands e.V.
6. November 2015 (https://www.schweine.net/news/situationam-schweinemarkt.html).
BMEL-Präsentation: ELER-Förderung zur Entwicklung ländlicher
Räume. Stand 1. Januar 2015.
Wissenschaftlicher Beirat Agrarpolitik beim BMEL: Wege zu einer
gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung. Gutachten. Berlin 2015 (www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Ministerium/
Beiraete/Agrarpolitik/GutachtenNutztierhaltung.html).
Art. 14 Abs. 1 Verordnung (EU) Nr. 1307/2013.
So z. B. in: Bundestags-Drucksache 18/6293. Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Friedrich
Ostendorff u. a. vom 12. Oktober 2015, S. 5.
Art. 41-42 der VO (EU) Nr. 1307/2013.
U. Jasper: Deutschland fördert mit EU-Geld weiter Landkonzentration. Umsetzung der EU-Agrarreform in anderen Staaten
viel gerechter und grüner. In: Der kritische Agrarbericht 2015,
S. 17–24.
Bundestags-Drucksache 18/6529. Antwort der Bundesregierung
auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann u. a. vom 29. Oktober 2015.
Ulrich Jasper
Stellvertretender Geschäftsführer der
Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL). Er koordiniert bei der AbL das
Euronatur-AbL-Projekt »Auswirkungen der
EU-Agrarreform 2013«.
Bahnhofstraße 31, 59065 Hamm
E-Mail: [email protected]
39