Begriff der Wirtschaftsverfassung Begriff der Wirtschaftsverfassung

29.04.2015
Europarecht II (2)
Sommersemester 2015
Prof. Dr. Marc Bungenberg, LL.M.
Begriff der Wirtschaftsverfassung
• Summe des verfassungsrechtlichen Instrumentariums zur Gestaltung der Wirtschaft
• Möglicher Inhalt: Normierung eines bestimmten Wirtschaftssystems oder Rahmenordnung zur Ausfüllung durch den politischen Prozess; abzuleiten aus dem Normenbestand, nicht umgekehrt
• Verhältnis sozialstaatlicher und sonstiger regulativer Politiken zu wirtschaftlichen Freiheit des Individuums
Begriff der Wirtschaftsverfassung
• Wirtschaftssystem = Wirtschaftsordnung
– Marktwirtschaft – Privatautonomie, Privateigentum, Berufs‐ und Gewerbefreiheit, Vertragsfreiheit
– Plan‐ oder Zentralverwaltungswirtschaft –
wesentliche wirtschaftliche Entscheidungen sind in der Hand des Staates zentralisiert, der auch alleiniger Eigentümer der Produktionsmittel ist
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29.04.2015
Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes
WRV: Abschnitt „Das Wirtschaftsleben“ (Art. 151 ff.)
GG: kein eigenständiger Abschnitt über das Wirtschaftsleben
Der Streit um die Wirtschaftsverfassung
• E. R. Huber – These von der „gemischten Wirtschaftsverfassung“
• H. Krüger – Staat darf in das Wirtschaftsleben eingreifen und sich nicht auf ein bestimmtes Wirtschaftssystem festlegen
• H. C. Nipperdey – verfassungsrechtliche Institutionalisierung der „sozialen Marktwirtschaft“
Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes
• Diskussion um Zulässigkeit bzw. Festschreibung bestimmter wirtschaftlicher Ordnungsmodelle seit Erlass des Grundgesetzes (1949)
• Prägung der Diskussion durch die ordo‐liberale „Freiburger Schule“ (Walter Eucken u. a.)
– Verwirklichung der Freiheit des Einzelnen umfassend in allen Ordnungen, gesellschaftlich‐politisch wie auch ökonomisch
– Maximale Freiheitsverwirklichung gegen wirtschaftliche Macht des Staates wie Dritter
– Konstitution und Regulierung der Wettbewerbswirtschaft durch den Staat (Ordnungspolitik)
Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes
Die Rechtsprechung des BVerfG
BVerfGE 4, 7 ff. – Investitionshilfe soll der Energiewirtschaft unter die Arme greifen. Sie soll in ein Sondervermögen einfließen, aus dem die Unternehmen vergünstigte Kredite in Anspruch nehmen sollen. „[17 f.] Die
wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes besteht lediglich darin, daß sich der Verfassungsgeber nicht ausdrücklich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden hat. Dies ermöglicht dem Gesetzgeber die ihm jeweils sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik zu verfolgen, sofern er dabei das Grundgesetz beachtet“
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Wirtschaftsverfassung und Grundgesetz
• Einzelaussagen des GG: auch die „Öffnung des GG“
• Systemfestlegung durch das Europarecht
• Art. 23, 24 GG
• EU‐V, AEUV: offene Marktwirtschaft Bis Lissabon: Gemeinsamer Markt (Art. 2 EG); Binnenmarkt (Art. 14 II EG, Art. 26 II AEUV)
• Marktfreiheit, Marktgleichheit, unverfälschter Wettbewerb
Europäische Wirtschaftsverfassung ‐
das EG‐Recht als „Verfassung“?
• EGV als „Verfassungsurkunde“ der EG (EuGH, Rs. 294/83, Les Verts/Europäisches Parlament)
• Verfassungsfunktionen des EGV
– Organisation, Begrenzung und Legitimation von Herrschaftsgewalt
• Verfassungselemente
– Organisationsregeln und Grundfreiheiten/Grundrechte
• Rechtfertigung des Verfassungsbegriffs für die EG
Systementscheidung der Wirtschaftsverfassung der EU
• Ausdrückliches Bekenntnis zu einer marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung (ausdrücklich eingefügt aber erst durch den Vertrag von Maastricht);
• Rechtliche Qualität streitig; objektives Prinzip, Entfaltung in subjektivrechtlichen speziellen Gewährleistungen; Verbot des Systemwechsels
• Ausprägungen
– Zollunion
– Binnenmarkt – Gemeinschaftsgrundrechte – Wettbewerbsrecht
– WWU
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Europäisches Wirtschaftsrecht
•
Wirtschaftsrecht als das „Herz“ des Unionsrechts
Europäische Integration als zentral wirtschaftsfokusierter Prozess
– Besonderheit: 3 Ebenen von Beteiligten
• Mitgliedstaaten
• Einzelne
• EU
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Relativierungen, Spielräume und Durchbrechungen der marktwirtschaftlichen Grundausrichtung
• Relativierungen der Wirtschaftsfreiheiten durch Anerkennung nicht‐ökonomischer Belange (Umwelt‐
und Verbraucherschutz, Grundrechte (Menschenwürde, Meinungsfreiheit etc.))
• Gestaltungsspielräume für Mitgliedstaaten und nationalen Gesetzgeber, unterschiedlich weitreichend
• Durchbrechungen: Gemeinsame Agrarpolitik, Industriepolitik, protektionistische Elemente der gemeinsamen Handelspolitik
• Regel‐Ausnahme‐Verhältnis zwischen Markwirtschaft und Intervention
Historische Entwicklung der Wirtschaftsverfassung der EG/EU
• EGKSV (1951/1952 – 2002); Vergemeinschaftung der kriegswichtigen Industrien der 6 Gründungsstaaten
• EWGV und EAGV (1957): Leitbild „Gemeinsamer Markt“, basierend auf einer Zollunion (Vorgabe des GATT) und den Grundfreiheiten
• Verwirklichung der Zollunion 1968
• Aber: Fortbestehen einer Vielzahl „nichttarifärer“ Handelshemmnisse
• Binnenmarktkonzept (Einführung durch die EEA bis 1992)
• Vertrag von Maastricht (WWU) – Leitbild der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb und Währungsunion
• Verträge von Amsterdam und Nizza
• Jetzt: Vertrag von Lissabon
– Einführung einer Wirtschaftsregierung??
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