amnestyjournal1115.

www.amnesty.de/journal
das magazin fÜr die menschenrechte
4,80 euro
amnesty journal
10/11
2015
oktober/
noVember
willkommen
in
deutschland
Überwältigende hilfsbereitschaft, grenzenloser hass:
was flÜchtlinge mitten in europa erwartet
terror gegen terror
nigerias militär im kampf
gegen boko haram
aufklärung unerwÜnscht
mexikos verschwundene
studenten
frankfurter buchmesse
indonesien ringt mit
seiner Vergangenheit
INHALT
titel: willkommen
in deutschland
16 Willkommen in Deutschland
Trotz großer Anstrengungen sind die
Behörden mit der Unterbringung der
Flüchtlinge überfordert.
19 Überfälliger Perspektivwechsel
Auch die Politik muss sich jetzt auf die
Seite der Bedrohten stellen.
20 Alles, was geht
Willkommensinitiativen leisten Außerordentliches, auch dort, wo sie mit
Widrigkeiten und Anfeindungen kämpfen.
24 »Die Mitte ist Teil des Problems«
Rechtsextreme Einstellungen sind in allen
Schichten der Gesellschaft verbreitet,
sagt Sozialpsychologe Oliver Decker.
27 Gefangen im Niemandsland
Rückschiebung, Ausbeutung,
Misshandlung: Flüchtlinge sind auf
der Balkanroute unmenschlichen
Bedingungen ausgesetzt.
28 Europas Grenze
Beim Thema Flucht und Asyl reagieren
europäische Regierungen mit Abwehr
und Abschottung.
30 Wo sich die Gesellschaft spiegelt
Rassisten nutzen Online-Netzwerke, um
gegen Flüchtlinge zu hetzen und rassistische Aktionen zu organisieren. Nur durch
Verbote wird sich daran nichts ändern.
34
2
16
20
themen
kultur
34 »Die Wahrheit lassen wir
uns nicht nehmen«
Der Völkermordprozess gegen Guatemalas
Ex-Diktator Efraín Ríos Montt soll wiederholt werden.
50 Imagination und
grausame Vergangenheit
Indonesien ist Gastland der Frankfurter
Buchmesse. Gleichzeitig jähren sich die
Massaker, denen vor 50 Jahren Hunderttausende zum Opfer fielen.
38 »Feinde des Islams«
In Bangladesch ist erneut ein religionskritischer Blogger umgebracht worden.
40 »Mit Willkür kann man
Boko Haram nicht besiegen«
Amnesty-Researcher Daniel Eyre über
mutmaßliche Kriegsverbrechen.
42 Aufklärung unerwünscht
Zweifel an Ermittlungen zu den 43
verschwundenen Studenten in Mexiko.
44 »Strafen helfen nicht«
Ein Interview zum Thema Sexarbeit.
46 Im falschen Film
Lange Haftstrafen für einen Filmemacher
und einen Ökologen in Russland.
48 »Die härteste Entscheidung
meines Lebens«
Dem libyschen Journalisten Salah Zater
blieb nur noch die Flucht.
42
54 Romane rühren an Tabus
Indonesische Schriftstellerinnen setzen
sich kritisch mit dem Suharto-Regime
auseinander.
57 Monolog mit China
Was hat der sogenannte »Menschenrechtsdialog« mit China gebracht?
58 »Gerechtigkeit ist möglich«
»Das Kongo Tribunal« ist das jüngste
Theaterprojekt des Schweizer Regisseurs
und Autors Milo Rau.
60 Viel Pragmatismus, wenig Strafe
Was ist »Transitional Justice«?
Und warum ist sie so erfolgreich?
63 Die Produktion von
Menschenrechtsverletzungen
»Landraub« ist ein eindrucksvoller
Dokumentarfilm über Vertreibungen
bei der Jagd nach Agrarflächen.
50
amnesty journal | 10-11/2015
es sind dramatische
bilder …
Titelbildgestaltung: Heiko von Schrenk
rubriken
04 Weltkarte
05 Good News:
Erstaunlicher Rückzieher
06 Panorama
08 Interview:
Dinara Yunus
09 Nachrichten
11 Kolumne:
Sabine Küper-Büsch
12 Einsatz mit Erfolg
13 Selmin Çalışkan über
die Grenzen des Erträglichen
61 Rezensionen:
Bücher
62 Rezensionen:
Film & Musik
64 Briefe gegen das Vergessen
66 Aktiv für Amnesty
67 Impressum
… die uns täglich erreichen. Flüchtlinge, die verzweifelt
versuchen, die Grenze zu Ungarn oder den Nachbarstaaten zu überwinden, die auf Straßen und Wiesen übernachten, weil sie nicht mehr weiter wissen. Europa macht
dicht: Rund ein Vierteljahrhundert nach dem Fall des
Eisernen Vorhangs kontrollieren europäische Staaten
wieder ihre Grenzen und errichten Zäune. Doch die Maßnahmen verschärfen die Lage der Hilfesuchenden nur,
ohne die Probleme zu lösen.
Auch in Deutschland ist die Lage angespannt. Viele Bürgerinnen und Bürger zeigen eine überwältigende Hilfsbereitschaft, heißen Flüchtlinge willkommen und unterstützen sie vor Ort. Zugleich brennen fast täglich Unterkünfte
und kommt es zu rassistischen Übergriffen. Mittlerweile
sind Gesetzesänderungen geplant, die grundlegende
Rechte einschränken, die in der Allgemeinen Erklärung
der Menschenrechte ebenso verankert sind wie im Grundgesetz: Es ist die Aufgabe jedes Staates, die Würde und
Rechte jedes Menschen zu garantieren. Dazu gehören
selbstverständlich das Recht auf Asyl und der Schutz vor
Verfolgung.
Wie dringend Menschen auf den Schutz vor Verfolgung
angewiesen sind, zeigt das Porträt des libyschen Journalisten Salah Zater in dieser Ausgabe (Seite 48). Nach
kritischen Berichten über lokale Milizen musste er um
sein Leben fürchten. Amnesty und andere Organisationen
unterstützten ihn dabei, der unmittelbaren Gefahr zu entkommen.
Zudem berichten wir in diesem Heft über die Frankfurter
Buchmesse (siehe Seite 50), deren Gastland in diesem
Jahr Indonesien ist. Gleichzeitig jähren sich die Massaker, denen vor 50 Jahren Hunderttausende zum Opfer
fielen. Viele indonesische Autorinnen und Autoren setzen
sich in ihren Büchern kritisch mit dieser Vergangenheit
auseinander.
Nicht zuletzt ein Hinweis in eigener Sache. Ramin
Nowzad, ehemaliger Volontär des Amnesty Journals,
ist nach einem längeren Aufenthalt beim Journal der
Schweizer Amnesty-Sektion wieder in
unsere Redaktion zurückgekehrt. In den
kommenden Ausgaben wird er sie hier
begrüßen.
Fotos Seite 2: Christian Ditsch | Gustav Pursche | Knut Henkel
Edgard Garrido / Reuters | Anne-Cecile Esteve / AJAR
Foto Editorial: Amnesty
inhalt
|
editorial
Anton Landgraf ist Redakteur des Amnesty Journals.
3
WELTKARTE
usa Die Foltervorwürfe scheinen längst belegt, nun prüft das US-Militär erneut, was sich
während der Stationierung einer Spezialeinheit
in den afghanischen Orten Nerkh and Maidan
Shahr zwischen November 2012 und Februar
2013 abspielte. Amnesty hatte bereits 2014
die Aussagen von Augenzeugen und Betroffenen veröffentlicht: Insgesamt zwölf US-Soldaten sollen Zivilisten gefoltert haben und für das
Verschwindenlassen und die Tötung von bis zu
18 Menschen verantwortlich sein. Bis heute
warten Betroffene und Angehörige auf Aufklärung und eine Verurteilung der Täter. �
iran Eigentlich hätte sich das höchste Gericht noch zu seinem Fall äußern wollen, aber
da war Behrouz Alkhani bereits hingerichtet
worden. Dem 30-jährigen Iraner kurdischer
Abstammung wurde Unterstützung kurdischer
Oppositionskräfte und »Feindschaft zu Gott«
zur Last gelegt. Nach der Exekution weigerten
sich die Behörden, seinen Leichnam der Familie auszuhändigen. Etwa 700 Menschen
wurden allein in diesem Jahr im Iran hingerichtet, nur in China waren es mehr. �
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paraguay Ein elfjähriges Mädchen brachte
Mitte August per Kaiserschnitt ein Kind zur
Welt. Mainumby war im Alter von zehn Jahren
schwanger geworden, nachdem ihr Stiefvater
sie mehrfach vergewaltigt hatte. Die Behörden
untersagten ihr trotz der physischen und psychischen Risiken einen Schwangerschaftsabbruch, für den sich vor allem ihre Mutter eingesetzt hatte. Mainumby und das Neugeborene sind in einem stabilen Zustand. Die Gegner
des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch führen Mainumby nun als Beispiel dafür an, dass
Mädchen in ihrem Alter ohne Risiko entbinden
könnten.
burundi Ob mit Batteriesäure oder Eisenstangen – burundische Sicherheitskräfte foltern
immer häufiger Inhaftierte, um Geständnisse
und Aussagen zu erpressen. Dies dokumentiert Amnesty in einem neuen Bericht, der auf
Gesprächen mit Folteropfern und Polizisten
beruht. »Die Zeugenaussagen sind niederschmetternd und verstörend. Folter und Misshandlungen sind auch laut burundischer Verfassung verboten«, sagte die Ostafrika-Expertin
von Amnesty, Sarah Jackson. »Die burundische Regierung muss sofort handeln. Sie
muss die Verantwortlichen vor Gericht stellen
und die Folteropfer entschädigen.«
4
israel Mordechai Vanunu, Israels bekanntester Whistleblower, ist erneut ins Visier der Justiz geraten: Der 60-Jährige wurde Anfang September für eine Woche unter Hausarrest gestellt, weil er dem israelischen TV-Sender
Channel 2 ein Interview gegeben hatte und damit nach Ansicht der Behörden gegen Auflagen verstieß. Vanunu saß 18 Jahre hinter Gittern, davon elf Jahre in Einzelhaft. 1986 hatte
er in einer britischen Zeitung Informationen
über Israels geheimes Atomwaffenprogramm
enthüllt. Im selben Jahr wurde er von Agenten
des Mossad in Rom entführt und in Israel vor
Gericht gestellt. Amnesty betrachtet Vanunu
als gewaltlosen politischen Gefangenen.
amnesty journal | 10-11/2015
GOOD NEWS
Foto: Amnesty
myanmar Nach einer Amnestie des Präsidenten wurden Anfang August vier Vertreter der
Rohingya-Minderheit aus der Haft entlassen.
Sie waren im April 2013 festgenommen worden, als sie gegen eine von der Regierung geplante Bevölkerungsregistrierung demonstriert
hatten, bei der die Rohingya nicht als offizielle
Minderheit erfasst wurden. Amnesty hatte
kritisiert, dass die vier Männer ausschließlich
wegen ihres Einsatzes für die Anerkennung
ihrer Bevölkerungsgruppe inhaftiert wurden.
In letzter Instanz hatten die Männer noch im
März Haftstrafen von bis zu acht Jahren
erhalten. �
»Wohnen ist ein Menschenrecht«. Amnesty-Aktion in Amsterdam.
erstaunlicher rÜckzieher
햴
Ausgewählte Ereignisse vom 6. August bis 11. September 2015
weltkarte
serbien Die Häuser der Roma im Belgrader Bezirk Zemun
werden nicht zwangsgeräumt. Die serbische Regierung hat
die zuständigen Behörden aufgefordert, die erlassene Abrissanordnung zu stoppen. Erst müsse geklärt sein, wo die 130
Menschen zukünftig leben können.
Im Juli sah das noch anders aus: Die 53 Familien waren
angewiesen worden, ihre Häuser wegen fehlender Baugenehmigungen selbst abzureißen und zwar innerhalb eines Tages
nach Erhalt der Anordnung. Eine Vorwarnung hatten sie nicht
erhalten. Die Bewohner ignorierten das Schreiben. Schließlich drohten die Behörden, die Häuser zwangsweise zu räumen und abzureißen. Damit wären die Betroffenen von einem auf den anderen Tag obdachlos geworden.
Die Roma hatten seit mehr als 15 Jahren auf dem Areal
gelebt, das zwischen zwei Gleistrassen liegt und der serbischen Bahn gehört. Sie waren aus dem Kosovo geflohen, als
Roma zunehmend Opfer gezielter Entführungen, Morde und
Vergewaltigungen wurden. Nur wenige der Tausenden Vertriebenen fanden eine neue, sichere Existenz. Wie die Anwohnerinnen und Anwohner des Belgrader Bezirks leben viele
Roma nach wie vor unter äußerst prekären Bedingungen und
erleben täglich Diskriminierung.
Umso erstaunlicher ist der Sinneswandel der Politik, die
Räumung zu stoppen, verbunden mit dem Vorhaben, zukünftige Räumungen nur in Übereinstimmung mit geltenden
Menschenrechtsstandards vornehmen zu wollen. Hierzu zählt
neben einem angemessenen Ersatz auch ein ordnungsgemäßer Räumungsbescheid. Eine von der Regierung eigens dafür
eingesetzte Arbeitsgruppe soll Standards erarbeiten, wie diese Kriterien künftig eingehalten werden können.
Wegen Zwangsräumungen von Roma standen die serbischen Behörden und auch die Regierung in Belgrad wiederholt in der Kritik, etwa nach der Räumung der mitten in Belgrad gelegenen Siedlung Belvil vor mehr als drei Jahren. Der
Großteil der Menschen, die damals betroffen waren, lebt
seither in behelfsmäßigen Containersiedlungen weitab von
Schulen, sozialen Einrichtungen und Beschäftigungsmöglichkeiten. Amnesty hatte dies in einem Bericht scharf kritisiert, in Zemun könnte es nun anders laufen.
5
Foto: George Osodi / Panos PIctures
nigeria: fragwÜrdige sanierung
Der nigerianische Präsident Muhammadu Buhari kündigte einen Treuhandfonds an, der mit der Sanierung
des ölverseuchten Ogonilands betraut werden soll. Am Fonds beteiligt seien Betroffene aus dem Ogoniland,
Regierungsvertreter, Ölfirmen sowie die Vereinten Nationen. Wieviel Geld Shell und andere Konzerne dem
Fonds zur Verfügung stellen werden, ist noch nicht klar. Nach wie vor reagieren die Ölkonzerne auf Lecks
in Pipelines im gesamten Nigerdelta unzureichend. Es bestehen daher Zweifel daran, dass die verheerenden
Ölverschmutzungen der vergangenen Jahrzehnte professionell und entschlossen gereinigt werden.
Zuletzt dokumentierte Amnesty Verschmutzungen an Stellen, die als frisch saniert galten.
6
amnesty journal | 10-11/2015
PANORAMA
libanon: alles andere als mÜll
»Du stinkst« lautete der Slogan, mit dem die Bewohner Beiruts wochenlang gegen das Behördenversagen
bei der Müllentsorgung und das eklatante Ausmaß der Korruption protestierten. Nach der Schließung
einer Deponie hatte sich der Müll in den Straßen getürmt und war wiederholt im Meer, in Seen und auf
Feldern entsorgt worden. Die Sicherheitskräfte gingen gegen die vorwiegend friedlichen Demonstrierenden
mit teils exzessiver Gewalt vor: Allein am 22. und 23. August mussten sich 343 Protestierende ambulant
ärztlich versorgen lassen, weitere 59 kamen ins Krankenhaus. Die Polizisten setzten Wasserwerfer,
Gummigeschosse und Tränengas ein, zudem schossen sie mit scharfer Munition in die Luft
und schlugen Demonstrierende zusammen.
Foto: Bilal Hussein / AP / pa
panorama
7
INTERVIEW
DINARA YUNUS
for Peace and Democracy« und beschäftigt sich schon seit mehr
als 30 Jahren mit Menschenrechten in Aserbaidschan – sie
kennt die Situation in den Haftanstalten. Das Gefängnis des
Ministeriums für Nationale Sicherheit ist eine komplett andere
Einrichtung und berüchtigt wegen der Anwendung von Folter.
Foto: Ralf Rebmann
Wie geht es Ihren Eltern gesundheitlich?
Mein Vater sitzt seit seiner Festnahme in Einzelhaft. Er hat
starken Bluthochdruck und braucht dringend ärztliche Versorgung. Während der Urteilsverkündung verlor er das Bewusstsein. Es wurden Sanitäter gerufen, aber das Verfahren ging
weiter, obwohl er starke Schmerzen hatte. Meine Mutter hat
ebenfalls Bluthochdruck. Noch gefährlicher sind ihr Diabetes
und ihre Hepatitis C. Sie benötigt eine spezielle Diät und Medizin, die sie seit ihrer Inhaftierung jedoch nur von uns bekommen hat. Lokale Ärzte haben sie nicht behandelt. Mittlerweile
hat sie 16 Kilogramm an Gewicht verloren. Ihr Zustand hat sich
auch verschlimmert, weil sie von einer Wärterin und einer
Mitgefangenen körperlich angegriffen wurde.
»es ist noch zeit,
ihr leben zu retten«
Die bekannte aserbaidschanische Menschenrechtlerin Leyla
Yunus und ihr Ehemann Arif Yunus wurden nach mehr als
einem Jahr in Haft am 13. August 2015 wegen »Steuerhinterziehung« und »Betrug« zu langen Gefängnisstrafen verurteilt.
Der Gesundheitszustand von beiden ist kritisch. Ein Gespräch
mit ihrer Tochter Dinara Yunus.
Sie leben seit 2009 in den Niederlanden, wo sie politisches Asyl
erhalten haben. Sind Sie in Kontakt mit Ihren Eltern?
Nein, seit der Festnahme meines Vaters im August 2014
hatten wir keinen Kontakt. Auch mit meiner Mutter habe ich
keinen direkten Kontakt. Meine Eltern sind zudem in unterschiedlichen Gefängnissen untergebracht. Das Gefängnis meines Vaters untersteht dem Ministerium für Nationale Sicherheit
und nicht dem Justizministerium, wie im Fall meiner Mutter.
Über die Anwälte meiner Eltern erhalte ich jedoch Informationen.
Warum wurden sie in unterschiedliche Gefängnisse gebracht?
Das weiß ich nicht. Es könnte darum gehen, meine Mutter
unter Druck zu setzen. Sie ist Vorsitzende der NGO »Institute
8
Am 13. August 2015 wurde Ihre Mutter zu achteinhalb Jahren,
Ihr Vater zu sieben Jahren Haft verurteilt. Wie haben Ihre Eltern
das Urteil aufgenommen?
Sie wussten, dass es ein hartes Urteil werden würde. Sie
wussten, dass sie für ihre Menschenrechtsarbeit bestraft würden. Das Verfahren war alles andere als fair. Die Regierung bestraft meine Eltern, indem ihre Gesundheit gefährdet wird, bis
zu dem Punkt, an dem sie sterben könnten. Am letzten Prozesstag hat mein Vater gesagt, dass er sehr stolz sei, an der Seite
meiner Mutter zu stehen – auch in dieser schwierigen Zeit.
Ich denke, er hatte die Befürchtung, dass dies das letzte Mal
gewesen sein könnte, dass sie sich sahen.
Die aserbaidschanische Regierung ging in den Monaten vor den
Europaspielen 2015 massiv gegen die Zivilgesellschaft vor. Ist
Kritik überhaupt noch möglich?
Viele haben Angst. Aserbaidschan könnte als ein Land enden, dem man von außen nicht mehr ansieht, was im Inneren
passiert. Die Regierung ist gegen alle prominenten kritischen
Stimmen vorgegangen, Menschenrechtsanwälte, Journalisten
und Aktivisten. Auch meine Eltern wurden in dieser Zeit festgenommen. Es ist noch Zeit, ihr Leben zu retten, wenn sich
europäische Regierungen endlich vehement für ihre sofortige
Freilassung einsetzen. Europäische Politiker dürfen ihre Augen
nicht vor dem verschließen, was derzeit in Aserbaidschan
geschieht.
Fragen: Ralf Rebmann amnesty journal | 10-11/2015
»Ich möchte ein neues Leben in
Frieden beginnen … Sie behandeln
uns wie Tiere; schlimmer als Tiere.«
DINA, 46, IN DEM AMNESTY-BERICHT »ZÜGE INS NIRGENDWO –
UNGARNS HARTES WILLKOMMEN FÜR FLÜCHTLINGE«
spur des todes
Im Jemen bekämpfen sich die Bürgerkriegsparteien ohne
jede Rücksicht auf zivile Opfer. Dies geht aus einem neuen Amnesty-Bericht hervor. Recherchen der Organisation ergaben,
dass bei Luftangriffen des von Saudi-Arabien geführten Militärbündnisses und bei Kämpfen zwischen Huthi-Rebellen und deren Gegnern am Boden in den vergangenen Wochen Hunderte
Unbeteiligte getötet oder verletzt wurden, darunter viele Kinder.
In dem Bericht heißt es, durch die Städte Taiz und Aden
ziehe sich eine »Spur des Todes und der Zerstörung« aufgrund
der »rechtswidrigen Angriffe, von denen viele Kriegsverbrechen
darstellen«. Die Luftangriffe richteten sich gegen Wohngebiete,
Schulen und Moscheen. So seien bei acht Bombardements der
Militärkoalition mehr als 140 Zivilisten getötet worden, darunter
viele Kinder und Frauen. Zudem feuerten Huthi-Rebellen und
regierungstreue Kämpfer in dicht besiedelten Gebieten Raketen
ab. Vier Fünftel der Menschen im Süden des Landes benötigen
humanitäre Hilfe, da sie keinen Zugang zu sauberem Wasser
und Elektrizität haben. Amnesty rief den UNO-Menschenrechtsrat auf, die mutmaßlichen Kriegsverbrechen zu untersuchen
und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
Im Jemen kämpfen die Truppen von Präsident Abd-Rabbu
Mansour Hadi mit Unterstützung einer arabischen Militärkoalition seit Monaten gegen die Huthi-Rebellen und die mit ihnen
verbündeten Armee-Einheiten des ehemaligen Staatsoberhaupts
Ali Abdullah Saleh. Der seit Jahren schwelende Konflikt zwischen den Huthis und der Zentralregierung war im Januar eskaliert, als die Aufständischen aus dem Norden des Landes Sanaa
eroberten. Als sie Ende März auf die südliche Hafenstadt Aden
vorrückten, floh Hadi nach Saudi-Arabien und bat das Königreich um Hilfe. Seither fliegt ein von Saudi-Arabien geführtes
Militärbündnis regelmäßig Luftangriffe auf Stellungen der Rebellen im Jemen. Nach UNO-Angaben wurden in dem Konflikt
bislang mindestens 4.300 Menschen getötet, die Hälfte davon
Zivilisten.
Foto: Tyler Hicks / The New York Times / Redux / laif
jemen
Saudische Bomben. Zerstörter Straßenzug in Sa’da im Nordwesten des Jemen, einer Hochburg der Huthi-Rebellen. interView
|
nachrichten
9
IN DER FAVELA VON
acari SCHEINT
ES SICH BEI
9 VON 10
antiterrorgesetz gebilligt
ägypten Präsident Abdel Fatah al-Sisi hat Mitte
August ein neues Antiterrorgesetz unterzeichnet,
das der ägyptischen Verfassung und internationalen
Menschenrechtsstandards widerspricht. Die Unterzeichnung erfolgte unmittelbar vor dem zweiten
Jahrestag einer Polizeioperation in Kairo, bei der
Protestcamps der Muslimbrüder auf den Plätzen
Rabaa al-Adaweya und Nahda aufgelöst worden
waren. Dabei waren mindestens 600 Personen getötet und unzählige weitere festgenommen worden.
Das Vorgehen der Sicherheitskräfte wurde bis heute
nicht untersucht.
Das neue Gesetz gibt den Sicherheitsorganen
weitreichende Vollmachten zur Unterdrückung
jeglicher Kritik an der Regierung, schränkt die
Meinungs- und Versammlungsfreiheit weitreichend
ein und zementiert die Straflosigkeit für Angehörige
der Sicherheitskräfte. Damit leistet es weiteren
Menschenrechtsverletzungen Vorschub. Amnesty
International fordert die ägyptische Regierung auf,
das Gesetz wieder abzuschaffen oder grundlegend
zu überarbeiten.
16%
ALLER
TÖTUNGSDELIKTE.
TÖTUNGEN DURCH DIE MILITÄRPOLIZEI UM
aussergerichtliche hinrichtungen
ZU HANDELN.
Quelle: Amnesty
1.519
PERSONEN WURDEN IN DEN
VERGANGENEN FÜNF JAHREN IN RIO
DE JANEIRO VON polizisten im
dienst GETÖTET – DAS SIND FAST
niemand wird Verschont
In kaum einem anderen Land werden so viele Menschen zum Tode verurteilt wie in Saudi-Arabien. In einem aktuellen Bericht wirft Amnesty dem Land eine »erschreckend willkürliche Anwendung der Todesstrafe« vor. Demnach betrifft fast die
Hälfte aller Todesurteile Ausländer, die weder die Sprache beherrschen noch die Gesetze kennen. Zunehmend werden Menschen
wegen Delikten zum Tode verurteilt, die nicht den internationalen
Straftatbestand des »sehr schweren Verbrechens« erfüllen. Todesurteile werden unter anderem wegen Fremdgehens, Raubüberfalls,
Vergewaltigung, Zauberei oder »Abfall vom Glauben« verhängt.
Auch bei Drogenvergehen droht die Todesstrafe: 2010 lag der
Anteil der wegen Drogendelikten vorgenommenen Hinrichtungen
noch bei vier Prozent, in der ersten Jahreshälfte 2015 bereits bei
47 Prozent.
Generell werden Geständnisse oft unter Folter oder Misshandlungen erpresst, vor Gericht aber dennoch als gültige Beweise
gewertet. In grober Verletzung der UNO-Kinderrechtskonvention
werden zudem regelmäßig minderjährige Straftäter zum Tode verurteilt. Geistig Behinderte werden von der Todesstrafe ebenfalls
nicht verschont. Nach Schätzungen von Amnesty wurden seit
Januar 1985 mindestens 2.208 Menschen in Saudi-Arabien
hingerichtet. Die meisten von ihnen wurden enthauptet.
saudi-arabien
mexiko Er war aus dem Bundesstaat Veracruz nach
Mexiko-Stadt geflohen, doch seine Häscher ließen
nicht locker: Am 31. Juli 2015 wurde der Fotojournalist Rubén Espinosa in der mexikanischen Hauptstadt erschossen, mit ihm starben die Menschenrechtsaktivistin Nadia Vera sowie drei weitere Frauen. Espinosa hatte die massiven Menschenrechtsverletzungen in Veracruz dokumentiert. »Wer die
schlechte Regierung von Gouverneur Javier Duarte
kritisiert, wird attackiert«, erklärte er. Nachdem der
31-Jährige immer wieder verfolgt worden war, ging
er in die vermeintlich sichere Hauptstadt. Man fand
die fünf Personen ermordet in einer Wohnung, vor
ihrem Tod waren sie gefoltert worden. Mexiko zählt
weltweit zu den gefährlichsten Staaten für Journalistinnen und Journalisten. Nach Angaben der mexikanischen Generalstaatsanwaltschaft wurden in den
vergangenen 15 Jahren 103 Pressemitarbeiter ermordet, 25 sind verschwunden.
10
Foto: Oscar Martinez / Reuters
wer kritisiert, wird attackiert
Trauermarsch. Demonstrantin mit Rubén-Espinosa-Maske im mexikanischen Xalapa.
amnesty journal | 10-11/2015
Zeichnung: Oliver Grajewski
kolumne
sabine
kÜperbÜsch
der
proVozierte
bÜrgerkrieg
Nach den gescheiterten Koalitionsverhandlungen eskaliert die Gewalt in der Türkei keineswegs unerwartet. Die Eskalation wurde gezielt provoziert – vor allem
von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, dessen »Partei für Gerechtigkeit und
Fortschritt« (AKP) bei den Wahlen im Juni die absolute Mehrheit verloren hatte.
Die pro-kurdische »Demokratiepartei des Volkes« (HDP) zog mit 80 Sitzen erstmalig in die Nationalversammlung in Ankara ein und wurde gleich drittstärkste
Partei. Nun soll am 1. November neu gewählt werden. Die türkischen Medien
verbreiten derzeit fast täglich Beschuldigungen wie »Achtzig Sitze haben sie
und alles ist schlimmer geworden« oder »Terrorbefürworter sitzen in unserem
Parlament«. Objektive Nachrichten gibt es in der Türkei nicht mehr. Die Medien
werden entweder direkt von der AKP kontrolliert oder mit Gerichtsverfahren und
Gewalt auf Linie gebracht. Anfang September stürmte ein Mob gleich zweimal
hintereinander das Redaktionsgebäude der Tageszeitung »Hürriyet«. Die Polizei,
sonst nicht zimperlich beim Zurückdrängen von Demonstranten, greift in solchen Fällen immer erst in letzter Minute ein. »Hürriyet« hatte gewagt, die Zusammenhänge zwischen den gescheiterten Koalitionsverhandlungen und Erdoğans Destabilisierungspolitik zu thematisieren.
Die Eskalation der Gewalt folgt perfiden Mustern. Die Hintergründe des Selbstmordattentates in Suruç auf junge prokurdische Aktivisten, die beim Wiederaufbau im syrischen Kobane helfen wollten, sind nach wie vor ungeklärt. 34 Menschen starben, mehr als 70 wurden zum Teil schwer verletzt. Die Türkei verkündete der Weltöffentlichkeit, den »Islamischen Staat«, dem das Attentat zugeschrieben wurde, wirksam bekämpfen zu wollen. Doch die türkische Luftwaffe
fliegt seit Ende Juli fast ausschließlich Bombenangriffe gegen PKK-Stellungen
im Nordirak. Die PKK hatte nach dem Anschlag in Suruç zwei türkische Polizisten erschossen. Die Organisation wirft der Polizei vor, mit der Terrormiliz IS kollaboriert zu haben.
Den Friedensprozess mit den Kurden kündigte die Türkei daraufhin auf. Die
HDP wird trotz einer stringenten Friedenspolitik systematisch diffamiert, gegen
die Parteispitze ermittelt die Staatsanwaltschaft. Und im Osten der Türkei will
die Regierung offenbar gezielt Gewalt schüren – wie in Cizre, einer Stadt nahe
der syrischen und der irakischen Grenze. Die Regierung erklärte lapidar, dass sich
in Cizre PKK und Militär bekämpften. Doch Augenzeugen berichten, dass zunächst türkische Sicherheitskräfte und regierungstreue Milizen mit scharfer Munition auf unbewaffnete Demonstrierende geschossen hätten. Erst daraufhin hätten
Jugendliche, die der PKK nahestehen, sogenannte Volksverteidigungskräfte gegründet, die Sprengsätze zündeten. Die Sicherheitskräfte rückten mit Panzerfahrzeugen an und schossen auch auf Zivilisten mit scharfer Munition. Die türkische
Regierung erklärte am 14. September, bis zu 32 Kämpfer der PKK seien während
der neuntägigen Ausgangssperre in Cizre getötet worden. Am selben Tag wurden
dort sechzehn Menschen beerdigt. Fünf der Toten waren älter als siebzig, vier unter fünfzehn, darunter ein 35 Tage altes Baby, das aufgrund der Ausgangssperre
an medizinischer Unterversorgung starb. Die zehnjährige Cemile verblutete, weil
sie beim Spielen auf der Straße aus einem gepanzerten Fahrzeug angeschossen
worden war. Die Eltern hatten ihre Kinder aufgrund der Ausgangssperre nicht in
ein Krankenhaus bringen können. Vergeltungsschläge der PKK, wie der Angriff auf
eine Militäreinheit in Dağlıca an der irakischen Grenze, bei dem 16 Soldaten getötet wurden, tragen zur Eskalation der Gewalt bei. Eigentlicher Auslöser ist jedoch die aggressive Politik der türkischen Regierung. Erdoğan destabilisiert die
Region – zum eigenen Machterhalt.
Die Autorin ist Journalistin und lebt in Istanbul. nachrichten
|
kolumne
11
Foto: Zach Gibson / The New York Times / Redux / laif
»schritt fÜr schritt wird es besser«
Endlich in Sicherheit. Mohamed Soltan vor seinem Appartment in Falls Church im US-Bundesstaat Virginia. Fast zwei Jahre lang wurde der USStaatsbürger Mohamed Soltan in einem
ägyptischen Gefängnis festgehalten und
misshandelt. Mit einem 16-monatigen
Hungerstreik protestierte er gegen seine
Haft. Nun durfte er in die USA ausreisen.
Mohamed Soltan ist seit Anfang Juni wieder in den USA. Der politische Aktivist
saß 21 Monate in einem ägyptischen Gefängnis. Aus Protest gegen seine Haftbedingungen trat er in einen Hungerstreik,
der 16 Monate andauerte. Bleibende Organschäden hat er nicht, aber sein Körper müsse sich erst wieder darauf einstellen, dass die Tortur vorbei sei, sagt der
27-Jährige: »Schritt für Schritt wird es
besser, auch mit dem Schlafen.«
Mohamed Soltan wurde im August
2013 festgenommen, als Sicherheitskräfte in das Haus seiner Familie eindrangen
auf der Suche nach seinem Vater, einem
bekannten Mitglied der Muslimbruderschaft. Als sie ihn nicht fanden, nahmen
sie stattdessen den Sohn sowie drei seiner Freunde mit. Amnesty setzte sich mit
einer »Urgent Action« für ihn ein. Auch
die US-Regierung forderte eine Freilassung aus humanitären Gründen, denn
Mohamed Soltan besitzt auch die USamerikanische Staatsbürgerschaft.
Mit einem Hungerstreik protestierte er
12
gegen seine willkürliche Inhaftierung und
die Haftbedingungen. Erst verweigerte er
Fleisch, dann Kohlehydrate und schließlich auch Milchprodukte. Zur Strafe landete er in Einzelhaft.
Während seiner Haft wurde Mohamed
Soltan wiederholt misshandelt. Gleich bei
seiner Ankunft verprügelten ihn das Sicherheitspersonal und Mitgefangene zwei
Stunden lang mit Stöcken, Peitschen und
Gürteln. Über diese und andere Foltererfahrungen berichtete er nach seiner Freilassung der »New York Times«: Schlafentzug durch Dauerbeleuchtung und Blitzlicht, Selbstmordaufforderungen durch
die Wärter, die auch Rasierklingen unter
seiner Zellentür durchschoben, weitere
Schläge. Einmal wurde ihm über Nacht
ein krebskranker Mitgefangener zum Sterben in die Zelle gelegt.
Ein Gericht verurteilte Mohamed Soltan im April 2015 zu lebenslanger Haft.
Ihm wurden die Finanzierung eines Sitzstreiks sowie die »Verbreitung falscher Informationen zur Destabilisierung des Landes« vorgeworfen. Dies sind nach internationalen Standards keine Straftaten, aber
Mohamed Soltan ist nicht der einzige,
der aufgrund solcher Anschuldigungen in
Ägypten inhaftiert wurde. Viele der Protestierenden, die 2011 Hosni Mubarak
aus dem Amt vertrieben, sind inzwischen
inhaftiert, stellt ein Amnesty-Bericht fest:
»Die Massen auf den Straßen sind zu
Massen hinter Gittern geworden«. Offizielle Zahlen fehlen, aber Schätzungen
gehen inzwischen von bis zu 41.000 Protestierenden aus, die inhaftiert, angeklagt
oder verurteilt wurden.
Dass Mohamed Soltan nun wieder in
Freiheit ist, hat er wohl der Tatsache zu
verdanken, dass er die doppelte Staatsangehörigkeit besaß. Nach seiner Verurteilung legte er seine ägyptische Staatsbürgerschaft ab. Als Ausländer wurde er
schließlich in die USA ausgewiesen, wo
er aufgewachsen war und später Wirtschaft studiert hatte, bevor er für einen
Job nach Ägypten ging.
Nicht nur seine drei Freunde sitzen
noch in Haft, sondern auch sein Vater,
der inzwischen zum Tode verurteilt wurde. Amnesty fordert die Behörden auf,
alle Personen, die ausschließlich wegen
friedlicher Ausübung der Meinungs- und
Versammlungsfreiheit inhaftiert wurden,
bedingungslos freizulassen. Amnesty appelliert auch an die internationale Gemeinschaft, nicht den gleichen Fehler zu
machen wie zu Zeiten Mubaraks, als sie
Menschenrechtsverletzungen in Ägypten
über Jahrzehnte duldete.
Text: Andreas Koob
amnesty journal | 10-11/2015
Weltweit beteiligen sich Tausende Menschen mit Appellschreiben an den »Urgent Actions«, den »Briefen gegen
das Vergessen« und an Unterschriftenaktionen von Amnesty
International. Dass dieser Einsatz drohende Menschenrechtsverletzungen verhindert und Menschen in Not hilft, zeigen
diese Beispiele.
amnestie statt straflager
Yury Rubtsou war über seine Freilassung aus einer
belarussischen Strafkolonie selbst überrascht. Nach einer
von Präsident Alexander Lukaschenko erlassenen Amnestie
kamen er und fünf weitere Oppositionelle Ende August vorzeitig frei. Rubtsou war 2014 festgenommen worden, weil er
auf einer Kundgebung ein T-Shirt mit einer aufgedruckten
Rücktrittsforderung an Lukaschenko getragen hatte. Während
des Verfahrens, bei dem er zu einer Verwaltungshaftstrafe
von 25 Tagen verurteilt wurde, hatte er den Richter kritisiert,
woraufhin er in einem weiteren Verfahren zu zweieinhalb
Jahren Haft in einem Straflager verurteilt wurde.
belarus
sanktionen nach folter
philippinen Zwei Polizisten, die Alfreda Disbarro in Polizeige-
wahrsam folterten, sind um einen Dienstgrad herabgestuft
worden. Ihnen wurden Körperverletzung und Verstöße gegen
die Dienstpflicht nachgewiesen. Disbarro hatte mit Erfolg
eine Verwaltungsbeschwerde eingereicht – ein Vorgang, der
sonst nur äußerst selten Konsequenzen nach sich zieht. Amnesty drängt darüber hinaus auf eine Verurteilung der Polizisten nach dem philippinischen Antifoltergesetz und setzt sich
weiterhin für die nach wie vor inhaftierte Mutter ein.
lebendig zurÜckgekehrt
syrien Fast dreieinhalb Jahre galt Mazen Darwish als vermisst. Mitte August wurde der bekannte syrische Menschenrechtsanwalt freigelassen. Er war im Februar 2012 vom Geheimdienst der syrischen Luftwaffe verschleppt worden. Trotz
Nachfragen erhielten weder seine Familie noch seine Rechtsbeistände Auskunft über seinen Verbleib. Darwish ist Mitbegründer des »Syrian Centre for Media and Freedom of Expression«. Er hatte zu Anfang des Bürgerkriegs kritisch über
das Vorgehen der Sicherheitskräfte berichtet und für die
Freilassung politischer Gefangener demonstriert. Amnesty
hatte sich seit seinem Verschwinden für ihn eingesetzt. Während seiner Haft zeichnete ihn sowohl die englische Sektion
der Schriftstellerorganisation PEN als auch die UNESCO für
sein Engagement für die Meinungs- und Medienfreiheit aus.
aus der haft entlassen
demokratische republik kongo Der Aktivist Bienvenue Matumo
ist nach mehrtägiger Haft wieder frei. Der kongolesische Geheimdienst hatte ihn Anfang August inhaftiert, nachdem er
an einer Veranstaltung teilgenommen hatte, die unter anderem vom nationalen Jugendparlament organisiert worden war.
Die Gründe seiner Inhaftierung sind nicht bekannt, er wurde
auch nicht angeklagt. Der Aktivist ist mit zwei gewaltlosen
politischen Gefangenen befreundet, die seit März in Haft sitzen und die er seither regelmäßig im Gefängnis besucht.
einsatz mit erfolg
selmin Çalişkan Über
die grenzen des
erträglichen
Foto: Amnesty
einsatz mit erfolg
Nie war es so deutlich wie heute: Die europäische
Flüchtlingspolitik ist gescheitert. Und was machen
die Regierungen der EU-Staaten? Sie streiten, zögern, vertagen sich. Allein in Bezug auf weitere Abschottungsmaßnahmen herrscht Einigkeit. So sollen
Länder, in denen Roma und Homosexuelle ständiger
Diskriminierung ausgesetzt sind, nun zu »sicheren
Herkunftsstaaten« erklärt werden. Die Grenzschutzagentur Frontex, die in einem menschenrechtlichen
Vakuum ohne substanzielle Kontrolle agiert, soll
ausgebaut werden. Selbst eine engere Kooperation
mit sogenannten »Drittstaaten entlang der Fluchtrouten« wird angestrebt: afrikanische Länder, aus
denen selbst Tausende Menschen fliehen müssen,
weil der Staat selber der Verfolger ist. Die EU-Mitgliedstaaten verweigern schutzbedürftigen Menschen aus Syrien oder Eritrea weiterhin einen sicheren Zugang zu einem fairen Asylverfahren – und treiben die Flüchtlinge damit in die Hände jener
Schlepper, die man militärisch noch stärker bekämpfen will. Ungarn schießt mit Tränengas und errichtet Stacheldrahtzäune, an der griechisch-türkischen Grenze steht längst einer, in ganz Europa fallen die Schlagbäume. Europa setzt eine seiner größten Errungenschaften aufs Spiel: die Freizügigkeit.
An alledem ist auch Angela Merkel nicht unbeteiligt
– jene Politikerin, die derzeit weit über die europäischen Grenzen hinaus als Heilsbringerin der Flüchtenden verehrt wird und sich dazu bekannt hat, Menschen in Not helfen zu müssen. Die fatale EU-Abschottungspolitik der vergangenen Jahre wäre nicht
möglich gewesen, hätte Berlin ihr nicht zugestimmt,
sie sogar vorangetrieben. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, endlich umzudenken und die eigene Durchsetzungskraft auf europäischer Ebene für eine menschenrechtskonforme Flüchtlingspolitik zu nutzen.
Am 3. Oktober feiern wir den Tag der deutschen Einheit. Es ist das 25. Mal seit dem Fall der Mauer.
Grenzen überwinden – so lautet denn auch das diesjährige Motto. Wer zu den Feierlichkeiten aus dem
Ausland anreisen möchte, sollte seinen Ausweis bei
sich führen. Erst recht, wenn man »zu dunkel« aussieht. Es wird wieder kontrolliert.
Selmin Çalışkan ist Generalsekretärin der deutschen Amnesty-Sektion.
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TITEL
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amnesty journal | 10-11/2015
Willkommen in
Deutschland
Viele Bürgerinnen und Bürger zeigen
eine überwältigende Hilfsbereitschaft
angesichts der extremen Lage von
Flüchtlingen. Zugleich nimmt aber
auch die Zahl der Anschläge auf
Unterkünfte drastisch zu. Und viele
europäische Regierungen beginnen
wieder, Grenzen zu kontrollieren
und Zäune zu errichten.
»Wenn es so weitergeht, werden wir alle krank.«
Notaufnahmelager in einer Turnhalle der TU Chemnitz.
Foto: Christian Ditsch
15
»Wie geht es Dir?« Deutschunterricht auf der Wiese vor der Flüchtlingsunterkunft in Heidenau.
Willkommen
in Deutschland
Sie leben in Baumärkten, Turnhallen, Zelten oder sogar unter freiem Himmel:
Trotz großer Anstrengungen sind die Behörden mit der Unterbringung
der zum Teil traumatisierten Flüchtlinge oftmals überfordert.
Derweil gehen die rassistischen Anschläge weiter.
Von Heike Kleffner (Text) und Christian Ditsch (Fotos)
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amnesty journal | 10-11/2015
E
ine Wiese, auf der sich an diesem letzten heißen Augustabend kleine Gruppen von jungen Männern, Frauen und Kindern aus Syrien, dem Irak und Afghanistan
niedergelassen haben. In einer der Gruppen sitzt Periwan* aus Syrien mit Kai und lernt Deutsch. Auf einer tragbaren
weißen Tafel notiert der schlaksige 19-Jährige immer neue Sätze.
Das achtjährige Mädchen, ihr Onkel Hozan Kadr und die anderen Flüchtlinge schreiben sorgfältig mit: »Wie geht es Dir? Mir
geht es gut.« Dann sprechen sie die Sätze nach und lachen. Kai
sei »the best teacher of the world«, ruft einer der jemenitischen
Männer, der bis zu seiner Flucht selbst als Englischlehrer gearbeitet hat. Und Deutschland »the land of my dreams«, das Land
seiner Träume. Alle aus der Gruppe nicken – und dennoch: Diese Wiese, mitten in der 16.000-Einwohnergemeinde Heidenau,
ist nicht nur Ort von ersten Begegnungen mit Anwohnern wie
Kai. Der junge Deutschlehrer kennt viele, die nach Periwans Ankunft Ende August auf dieser Wiese standen und »Nein zum
Heim« brüllten. Gerade deshalb setzt er sich für alle sichtbar
mit den Flüchtlingen auf das heruntergetrampelte Gras. Die
Grünfläche neben dem ehemaligen Baumarkt, in dem die zierliche Periwan, ihr Onkel und sechshundert weitere Flüchtlinge
seit dem 23. August untergebracht sind, markiert aber auch eine
unsichtbare Grenze: Wer die Schnellstraße zum gegenüberliegenden Einkaufszentrum überquert, muss damit rechnen, beleidigt, angespuckt und bedroht zu werden.
Seine Nichte habe sich auf ihrem Feldbett panisch an ihn geklammert, als sie am Abend ihrer Ankunft die »Ausländer
Raus«-Parolen, Feuerwerkskörper, Steinwürfe, Sirenen und klirrende Flaschen hörten, berichtet Hozan Kadr. Er selbst habe sich
in der stickigen Baumarkthalle wie im Gefängnis gefühlt – eingesperrt und unsicher. Die Tage des rassistischen Hasses und
der zurückweichenden Polizisten, die Besuche von Vize-Kanzler
Sigmar Gabriel und Bundeskanzlerin Angela Merkel, das von
»Dresden Nazifrei« organisierte und erst nach bundesweiten
Protesten durchgesetzte »Willkommensfest« – diese erste Woche
in Heidenau liegt jetzt hinter den unfreiwilligen Bewohnern des
Baumarkts. Die Hälfte kommt aus Syrien, auch Afghanen bilden
eine größere Gruppe. Ein Sechstel sind Kinder, die meisten zwischen sechs und zwölf Jahre alt.
Er sei Deutschland sehr dankbar, dass die Flucht ein Ende
und er mit seiner Nichte endlich ein festes Dach über dem Kopf
habe, sagt Hozan Kadr. Und dennoch: Die nahezu fensterlose
Baumarkthalle, in der Plastikplanen die langen Reihen von Feldbetten unterteilen, die knapp bemessenen Sanitäreinrichtungen, die stickige Luft, ein ständiger Geräuschteppich wirkt auf
viele entmutigend. Bislang haben alle aus Kais Deutschkurs lediglich ein kopiertes Papier, das sie als »registrierte Asylbewerber« ausweist und eine Plastikkarte für die Essensausgabe. Der
Mangel an Privatsphäre, die Ungewissheit über das weitere Verfahren und die bislang fehlende medizinische Erstuntersuchung machen allen hier Sorgen: »Wenn es so weitergeht, werden wir alle krank. Entweder, weil es unter uns Menschen mit
ansteckenden Krankheiten gibt, oder weil wir krank im Kopf
werden«, sagt Hozan Kadr.
Durch Europa gelaufen
Solange das Wetter noch gut ist, bleiben ihnen die Wiese und der
angrenzende Parkplatz als Fußballplatz und Open-Air-Klassenzimmer. In Syrien lebte Periwan in einem kurdischen Dorf nahe
der irakischen Grenze. Eine Schule hat sie nie besucht. Arabisch
zu lesen und zu schreiben, hat die Achtjährige in einem Flücht-
willkommen in deutschland
lingslager im Nordirak gelernt, in das sie mit ihrer Familie geflohen war, nachdem der »Islamische Staat« ihr Dorf angegriffen
hatte. Hier traf sie auch Hozan Kadr wieder. Der 26-Jährige wollte eigentlich seine Radiologen-Ausbildung beenden. Stattdessen
arbeitete er in einem medizinischen Team zur Unterstützung
der kurdischen Peschmerga im Kampf gegen den »Islamischen
Staat« – bis er sich gemeinsam mit Periwans Familie zur Flucht
nach Europa entschloss. An der Grenze zwischen dem Nordirak
und der Türkei wurden Hozan Kadr und Periwan im Gedränge
zwischen türkischen Soldaten und Hunderten Flüchtlingen von
den Eltern des Mädchens getrennt. Seitdem, sagt Hozan Kadr, ist
die Achtjährige »fast immer gelaufen«.
Hozan Kadr und seine Nichte hoffen jetzt auf ein Lebenszeichen von den Eltern des Mädchens und darauf, dass Periwan in
einer richtigen Schule Deutsch lernen kann. Wann dies der Fall
sein wird, kann keiner der dreißig Helfer des Roten Kreuzes sagen, die die Flüchtlinge im Schichtbetrieb betreuen. Zwischen
sechs Wochen und drei Monaten blieben die Flüchtlinge derzeit
in den Notunterkünften, heißt es bei der für die Unterbringung
zuständigen Landesdirektion Sachsen. Erst dann haben sie einen Anspruch auf mindestens sechs Quadratmeter pro Person,
ein Mindestmaß an Privatsphäre. Erst dann dürfen Flüchtlingskinder in Sachsen zur Schule gehen. Auch verlässliche Prognosen über die Dauer der Asylverfahren kann derzeit niemand
treffen. Die Dresdener Anwältin Kati Lang hat die Erfahrung gemacht, dass eine Verfahrensdauer von sechs Monaten bis zu einem Jahr bei syrischen Flüchtlingen inzwischen normal geworden ist. »Das Nadelöhr« sei derzeit das Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge, das in ganz Sachsen lediglich über eine Außenstelle in der Zentralen Erstaufnahmestelle in Chemnitz verfügt.
Es ist sowohl für die Annahme der Asylanträge als auch für die
Anhörung und die Entscheidung über die Anträge zuständig. Lediglich bei Asylsuchenden aus sogenannten »sicheren Herkunftsländern« gebe es sehr schnell negative Entscheidungen.
Seit den rassistischen Angriffen sind Polizeibeamte in
Mannschaftswagen vor dem Baumarkt in Heidenau stationiert.
Während Periwan und ihr Onkel von ihrer Flucht berichten, setzen die Polizisten plötzlich ihre Helme auf und rennen los. Wenig später berichtet ein Bekannter von Hozan Kadr, es habe eine
Prügelei bei der Essensausgabe gegeben. Andreas Heinz, Amnesty-Mitglied und Leiter der Klinik für Psychologie und Psychiatrie an der Berliner Charité, kennt Berichte von Gewaltausbrüchen in Massenunterkünften: »Hier sind die Flüchtlinge einerseits in Sicherheit, andererseits verlieren sie plötzlich die Kontrolle über ihr Leben«, sagt er. Depressionen und Rückzugstendenzen seien häufige Symptome. Wenn Menschen mit unterschiedlichsten Traumata und Gewalterfahrungen auf engstem
Raum zusammenleben, steige der Stresspegel für alle enorm.
Zeltstädte, Turnhallen, Baumärkte
»Rein technisch gesprochen«, sagt Kai Kranich, Pressesprecher
des Roten Kreuzes Sachsen, »ist der Baumarkt in Heidenau eine
bessere Lösung als die Unterbringung in Turnhallen oder in Zelten.« Es gebe genügend Platz für die Essensausgabe, abtrennbare Bereiche, Stromanschlüsse und Heizmöglichkeiten müssten
nicht extra installiert werden und der Boden werde bei Regen
nicht zur Schlammwüste wie beispielsweise in den Notunterkünften in Chemnitz. »Von menschenwürdig sind wir noch weit
entfernt«, meint Kranich. »Wir wollen keine Zelte, aber die Alternative wäre derzeit vielerorts, dass Menschen auf der Straße
schlafen müssten.«
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»Wenigstens ein Dach über dem Kopf.« Erstaufnahmestelle des Landes Thüringen in Eisenberg.
Hozan Kadr und Periwan überlegen, ob ein Ausflug nach
Dresden eine »Pause vom Camp« bringen könnte. Doch der Fußweg bis zum Bahnhof, die Frage, ob sie unter der Residenzpflicht
für Asylbewerber überhaupt den Landkreis verlassen dürfen
und die Fahrtkosten – nach einer Flucht über Tausende Kilometer scheint Dresden plötzlich eine Weltreise von Heidenau entfernt. »Mein letztes Geld hat der Schlepper bekommen«, erzählt
Hozan Kadr. Das wöchentliche Taschengeld von 33 Euro, das alleinstehende Asylbewerber bekommen, gibt es in Sachsen erst
nach der medizinischen Erstuntersuchung. »Und zu Fuß zu gehen, erscheint mir hier nicht sehr sicher.«
Vier Brandanschläge und 49 Aufmärsche vor Flüchtlingsunterkünften, 61 Angriffe auf Flüchtlinge, die Hälfte davon Körperverletzungen, hat die Amadeu Antonio Stiftung in den ersten
acht Monaten des Jahres allein in Sachsen registriert. In Heidenau und zwei weiteren Unterkünften wurden Security-Mitarbeiter entlassen, nachdem sie als Neonazis enttarnt wurden. Hinzu
komme ein großes Dunkelfeld nicht angezeigter Bedrohungen
und Gewalttaten, sagt Andrea Hübler von der Opferberatung
der Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie in Sachsen. Hübler erinnert daran, dass in Orten wie
Freital oder Meißen den Brandanschlägen monatelange »Nein
zum Heim«-Kampagnen vorausgegangen waren, denen Kommunen und Strafverfolgungsbehörden nicht entschieden genug
entgegengetreten seien.
Reis und Fladenbrot
Fero, ein 19-jähriger kurdischer Medienaktivist aus Damaskus
und die zehn Jahre älteren Hassan und Suleiman aus Bagdad,
die seit zwei Wochen mit knapp 950 weiteren Geflüchteten in
der »Dresdener Zeltstadt« leben, sind sichtlich glücklich, als ih-
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nen im kleinen Garten des kurdischen Kulturvereins im Dresdener Stadtteil Pieschen ein Stuhl und ein Teller mit Reis, Fladenbrot und gekochtem Rindfleisch angeboten werden.
So unterschiedlich wie ihre Fluchtgründe ist jetzt auch ihr
Umgang mit dem Leben in den Zelten. Hassan, bis vor wenigen
Wochen noch Leiter einer Bankfiliale, hat seine Flucht mit dem
Smartphone so präzise dokumentiert wie vor ein paar Monaten
noch die Kontobewegungen seiner Kunden und postet jetzt Fotos auf Facebook. Suleiman, der Lebensmittelingenieur aus Bagdad, der in einem der zahllosen illegalen Gefängnisse schiitischer Milizen interniert war und sah, wie seinem jüngeren Bruder glühende Zigaretten auf dem Hodensack ausgedrückt wurden, berichtet leise, wie ängstlich er war, als ihm deutsche Polizisten Plastikfesseln anlegten. Fero, der zu einem Kollektiv syrischer Aktivisten gehörte, die im Internet Menschenrechtsverletzungen im Bürgerkrieg dokumentieren, floh erst, als er an den
»Islamischen Staat« verraten und seine Cousins bei einem ISMassaker in Tal Abyad ermordet wurden. Er träumt von einem
Journalistik-Studium in Deutschland – um dann irgendwann
»in einem demokratischen Syrien« als Journalist arbeiten zu
können.
Einig sind sich die drei in ihrem Wunsch nach einer warmen
Dusche. »Wir schämen uns, anderen zu nahe zu kommen, weil
wir stinken«, sagt Hassan. Die anderen beiden nicken und fügen
hinzu, dass sie »auf gar keinen Fall« nach Heidenau oder in eine
Turnhalle nach Chemnitz umverteilt werden wollen. Dort leben
250 Männer und drei Jungen. »Schau dir meinen Käfig an«,
meint ein Zwölfjähriger und zeigt auf übereinandergestapelte
Feldbetten mitten in der Halle.
Im knapp 180 Kilometer entfernten Eisenberg wartet Kerstin
Dämmrich, die kommissarische Leiterin der Zentralen Erstauf-
amnesty journal | 10-11/2015
nahmeeinrichtung in Thüringen, auf Nachrichten über die zu
diesem Zeitpunkt noch im Budapester Bahnhof festsitzenden
Flüchtlinge. Sie bereitet sich darauf vor, den bevorstehenden
Ausnahmezustand zu bewältigen. Für den Nachmittag ist ein
Unwetter vorhergesagt. Die ehemalige Polizistin warnte schon
vor zwei Jahren, dass die Flüchtlingszahlen steigen würden und
es an Ressourcen mangele.
Während die Neuankömmlinge vor der Pforte warten, versucht Dämmrich diejenigen, die auf dem Gelände nicht in Gebäuden oder Containern, sondern in Zelten untergebracht sind
oder im Freien warten, nach Suhl zu bringen. Doch die Nachricht, dass sich in der dortigen Unterkunft mit über 1.200
Flüchtlingen eine Massenschlägerei ereignete, hatte sich schnell
verbreitet. Es dauert, bis die Menschen überzeugt werden können, in die Busse einzusteigen, die sie in die voll belegte ehemalige Kaserne in Suhl bringen sollen. »Dabei haben sie dort wenigstens ein Dach über den Kopf«, sagt Kerstin Dämmrich erschöpft.
Mehr als 150 Menschen kommen täglich in Eisenberg an –
manche werden von Schleppern an der nahen A4 ausgesetzt
und dann von der Polizei gebracht, andere kommen mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder aus der Umverteilung zwischen
den Bundesländern. Längst sind in Eisenberg die Grenzen der
Unterbringungsmöglichkeiten erreicht. Kerstin Dämmrichs
Traum: mindestens zehn weitere Vollzeit-Mitarbeiter – und
mehr Anerkennung für ihr Team, dessen Überstunden sie schon
gar nicht mehr zählen kann. Und Zeit, »um mal wieder mit den
Menschen, die hier ankommen, zu sprechen«.
Im Baumarkt von Heidenau warten die Flüchtlinge Mitte
September immer noch auf die medizinische Erstuntersuchung.
Hozan Kadr und Periwan träumen inzwischen von warmen Decken. Mit einer Menschenkette geben die Flüchtlinge öffentlich
bekannt: »Wir frieren.« Auf ein Schild hat ein syrischer Mann
geschrieben: »We die slowly – wir sterben langsam.« Einige
Stunden später marschieren erneut 250 Leute mit »Nein zum
Heim«-Parolen durch Heidenau.
* Alle Namen von der Redaktion geändert.
Die Autorin ist Journalistin und betreut seit über zehn Jahren das Rechercheprojekt »Todesopfer rechte Gewalt seit 1990«. Überfälliger
Perspektivwechsel
Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht eine
Flüchtlingsunterkunft angezündet wird. Flüchtlinge und die, die für Flüchtlinge gehalten werden, müssen befürchten, bedroht, beleidigt
oder geschlagen zu werden. Die Brutalität und
der Hass, die sich ihnen gegenüber entladen,
fußen auf einer jahrzehntelangen Verharmlosung und Verleugnung rassistischer Einstellungen in allen Teilen der Gesellschaft. Die rassistische Gewalt fühlt sich bestärkt durch eine Politik, die lange Zeit einseitig auf Abschottung gesetzt und Flüchtlinge überwiegend als Bedrohung und Problem thematisiert hat. Gegenwärtig sind Anzeichen für einen überfälligen Perspektivwechsel erkennbar, wie die beispiellose
und großartige Hilfsbereitschaft der Bevölkerung. Diese Ehrenamtlichen brauchen gleichwohl Unterstützung: Zivilgesellschaftliche Programme zur Rassismusprävention müssen dauerhaft gefördert und flächendeckend ausgebaut
werden. Flüchtlinge müssen angemessen
untergebracht und versorgt sein – auch medizinisch und psychologisch – und an der Gesellschaft teilhaben können.
Damit ist es aber nicht getan: Denn Rassismus ist kein Monopol von gewalttätigen
Neonazis, die sich als Vollstrecker einer schweigenden Mehrheit fühlen, was die in weiten
Kreisen salonfähigen »Ich habe nichts gegen
Flüchtlinge, aber …«-Sätze mehr als deutlich zeigen. Wenn rassistische Ressentiments sich als
»Ängste besorgter Bürgerinnen und Bürger«
tarnen, darf es kein Verständnis dafür geben.
Statt verharmlosend von Feindlichkeit gegenüber vermeintlich Fremden zu sprechen, muss
die Politik sich klar auf die Seite der Bedrohten
stellen und ihre Ängste ernstnehmen. Das ist
auch menschenrechtlich geboten. Denn von
Rassismus Betroffene tragen weltweit ein besonders hohes Risiko, in ihren Menschenrechten verletzt zu werden – deshalb haben Staaten
eine besondere Verantwortung für ihren
Schutz. Lange genug ging es um die Frage, wie
viele Flüchtlinge kommen. Jetzt muss die Frage
in den Mittelpunkt rücken, wie wir sie gut aufnehmen.
Dorothee Haßkamp ist Sprecherin der Themenkoordinationsgruppe Antirassismus der deutschen AmnestySektion.
Leben in der Zeltstadt. Hassan.
willkommen in deutschland
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»Damals gab es Essensund Kleidermarken, aber
nicht die Hilfe, die es heute
gibt: Das macht einen
deutlichen Unterschied.«
Moro, Berlin-Moabit
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amnesty journal | 10-11/2015
Alles, was geht
Überall in Deutschland setzen sich Menschen für Flüchtlinge ein und leisten
Außerordentliches. Auch dort, wo sie mit Widrigkeiten und Anfeindungen
zu kämpfen haben. Von Andreas Koob (Text) und Gustav Pursche (Fotos)
S
ie duzen sich untereinander und loten aus, was sie gemeinsam mit Flüchtlingen verändern können. Überall
in Deutschland engagieren sich Menschen vor der eigenen Haustür und bestimmen damit, was im ganzen
Land passiert. Den Meinungsmachern, die von einem drohenden Stimmungsumschwung in Anbetracht steigender Flüchtlingszahlen sprechen, beweisen die Engagierten täglich das
Gegenteil. Der Rassismus ist damit nicht aus der Welt, aber ihm
bleibt weit weniger Raum. Solange die Freiwilligen aktiv bleiben,
geschieht selbst an Orten, wo Hass und staatliches Versagen
nicht zu übersehen sind, verblüffend viel Gutes.
Berlin-Moabit: Was Ehrenamtliche leisten,
wenn die Behörden versagen
Moro schreibt seinen Namen auf ein Stück Paketband, das er auf
sein buntes Hemd klebt. Es ist sein erster Tag als Helfer, hier auf
dem weitflächigen Gelände des Landesamts für Gesundheit und
Soziales in Berlin-Moabit. Ohne Umschweife geht es los: Er betreut mit fünf anderen Helferinnen und Helfern die Ausgabe der
gespendeten Kindersachen, die »Moabit Hilft« gesammelt hat.
Nur ein dünner Faden sperrt den Zugang zum Areal der Kleiderausgabe ab, das einem winzigen Flohmarkt gleicht: Kinderkleidung liegt nach Größe sortiert auf hohen Stapeln, daneben
stehen Kinderwagen und Buggys. Nur drei bis vier Flüchtlinge
dürfen auf einmal rein, um dann selbst aussuchen zu können.
So wie Moro kommen unzählige Menschen hierhin, um mitzumachen – manche täglich, manche an ihren arbeitsfreien Tagen, einige schon seit mehreren Wochen, andere zum ersten
Mal. »Moabit hilft« leistet Beachtliches: Ehrenamtliche organisieren und verteilen Essen und Getränke, übersetzen und betreuen Kinder. Auch eine medizinische Versorgung gibt es für
die zum Teil verletzten und traumatisierten Flüchtlinge.
Völlig erschöpft warten sie vor der zentralen Erstaufnahmestelle, stunden-, manchmal auch tagelang, erst auf ihre Wartenummer, dann auf ihre Registrierung, bevor sie einer Berliner
Flüchtlingsunterkunft zugeteilt werden. Für die vielen hundert
Menschen, die das weitläufige Areal jeden Tag und bei jedem
Wetter füllen, ist dieser Zustand eine wahnsinnige Geduldsprobe. Die meisten von ihnen tragen kaum etwas bei sich.
»Für jedes Kind gibt es ein Paar Schuhe, ein Oberteil, eine
Hose. Mehr nicht, damit es für alle reicht«, erklärt Moro immer
wieder, abwechselnd auf Arabisch, Französisch, Englisch und
Deutsch, wenn er die Leute in den Bereich mit den Spenden
lässt. Er ermahnt jene, die mehr wollen, genauso wie jene, die
sich zu wenig nehmen. Das macht er unaufdringlich und zugleich so bestimmt, dass er sich nicht wiederholen muss.
Für ihn sei es logisch, hier zu helfen, sagt Moro, der Anfang
der neunziger Jahre selbst als Flüchtling nach Deutschland kam.
»Das war, als Amadeu Antonio Kiowa in Eberswalde totgeprügelt
wurde«, sagt Moro, der auch selbst rassistische Gewalt erlebte.
»Damals gab es Essens- und Kleidermarken, aber nicht die Hilfe,
die es heute gibt: Das macht einen deutlichen Unterschied.«
»Der Staat muss in diese
Aufgaben hineinwachsen,
das kann er nicht nur
Freiwilligen überlassen.«
Ole, Freital
willkommen in deutschland
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Spenden zu verteilen, ist nur eine der vielen Aufgaben der
Freiwilligen. Über Wochen hinweg koordinierten und organisierten Ehrenamtliche alles, was Flüchtlinge hier an Unterstützung bekamen. Mit Spenden und Hilfsbereitschaft arbeiteten
sie gegen einen Zustand an, den die Initiative als »unterlassene
Hilfeleistung in katastrophalem Ausmaß« bezeichnet. Mitten in
Berlin werde fundamental gegen Menschenrechte verstoßen.
»Amtlich scheint alles völlig unorganisiert, die Helfenden
hingegen sind erstaunlich organisiert«, sagt Moro in einer kurzen Pause am frühen Nachmittag. Plötzlich schallen Sprechchöre über das Gelände. Gut sechzig Flüchtlinge protestieren dagegen, dass heute keine weiteren Wartenummern ausgegeben werden. Die Anspannung, die aus dem Warten entsteht, entlädt sich.
Einer der Männer, der eben noch skandiert hat, wird jetzt von
zwei Polizisten verfolgt. »Ich schwör dir, du kriegst Pfeffer«,
droht ein Polizist, der mit dem Mann rangelt und ihm Pfefferspray vor das Gesicht hält. Der Mann zieht sich zurück, er wird
morgen wiederkommen müssen. Dann werden auch die Helferinnen und Helfer wieder da sein. Ab 8 Uhr, wenn es neue Wartenummern gibt und es an so wenig wie möglich fehlen wird,
solange Moabit hilft.
dort tobte, und sprachen mit den Flüchtlingen. Zuletzt fuhren
sie zu den Asylsuchenden in Heidenau, als sich bei einem Willkommensfest viele erstmals nach den rassistischen Randalen
wieder ins Freie begaben. Angepöbelt wurden Ali und Ole auch
dort, aber das kennen die beiden inzwischen.
Nauen: Wie es nach dem Brandschlag auf
die geplante Unterkunft weitergehen kann
Es hat gebrannt in Nauen. Um 6 Uhr las Nico die Nachricht auf
Facebook. Da war die Turnhalle, in der die Flüchtlinge ab der
kommenden Woche provisorisch unterkommen sollten, schon
abgebrannt. Jetzt, zwölf Stunden später, steht er in einer Menschentraube von mehr als 400 Leuten, die zu einer spontanen
Mahnwache gekommen sind. An diesem Abend erkennt man
viele der in der Willkommensinitiative Engagierten an ihren
knallorangenen Warnwesten.
Die Kleinstadt ist jetzt Teil einer erschreckenden Chronik: 45
Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte haben Pro Asyl und
die Amadeu Antonio Stiftung bis Anfang September gezählt. Im
gesamten Vorjahr waren es 36. Die ersten Ermittlungsergebnisse
in Nauen deuten auf eine detailliert geplante Tat hin. So manche
Freital: Was trotz Rassisten
vor der Tür noch möglich ist
Auf dem grünen Gartentisch steht eine üppig gefüllte Schale
mit Lammfleisch und Couscous. Ali* und Ole greifen zu. Sie sitzen hinter der Freitaler Flüchtlingsunterkunft, deren hintere
Fassade zum Garten hin der Hausfront gleicht, vor der sich wochenlang rassistischer Protest formierte.
Bäume spenden Schatten. Zehn Leute sitzen im Stuhlkreis
mit Ali und Ole, teils sind es Flüchtlinge, teils Unterstützende.
Sie plauschen und planen. Heute ist Zeit zum Austausch, morgen folgt eine Aktion: Sie wollen ein bisher ungenutztes Zimmer
zum Aufenthaltsraum für Kinder und Familien umgestalten.
Auch sonst gibt es Sport, Begleitung zu Behörden oder Sprachkurse. Es ist eine Arbeit, wie sie viele Engagierte auch andernorts leisten, die sich hier in Freital aber in einem besonders
menschenfeindlichen Umfeld behaupten muss.
Seit dem Frühjahr häufen sich die Übergriffe auf Flüchtlinge. Ende Juni erschien auch Pegida-Initiator Lutz Bachmann vor
dem umfunktionierten Hotel. Immer mehr Rechte und Rassisten waren präsent. Die ersten Leute, denen der hagere Ali in
Freital begegnete, gehörten jenem Mob an. Er war schockiert
darüber, wie sie ihn den Hass spüren ließen. Zehn Tage lang
ging der syrische Anwalt nicht vor die Tür. »Ich bin nach wie vor
sehr vorsichtig, mit wem ich hier rede«, sagt Ali, der sich bei seiner Flucht vier Mal ins Schlauchboot gesetzt hatte, bis er es endlich nach Europa schaffte.
Auch die Menschen, die die Flüchtlinge unterstützten, wurden mehr und mehr zur Zielscheibe von Gewalt: Rechte drängten etwa ein Auto der Helfenden von der Straße, um es mit einem Baseballschläger zu demolieren. Auch Ole hat nicht vergessen, wie sie herumpöbelten, als er begann, hier mitzumachen.
Es hat den Dresdner aber nicht abgehalten, sich zu engagieren.
Er begleitet die Leute ins Krankenhaus, wenn die Sozialarbeiter
wie so oft nicht aufzufinden sind, und schickt auch noch das
zwanzigste Fax, wenn es Probleme mit offiziellen Dokumenten
gibt. »Der Staat muss in diese Aufgaben hineinwachsen, das
kann er nicht nur Freiwilligen überlassen«, meint Ole.
Wenn Zeit bleibt, machen er und Ali auch Ausflüge. So waren
sie vor der Dresdner Zeltstadt, als der rechte Mob statt in Freital
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»Das alles sollte losgehen,
sobald die Menschen da
sind.« Nico, Nauen
amnesty journal | 10-11/2015
»Wir versuchen die
Lage grundsätzlich
zu verändern.« Bethi (re.),
Eisenhüttenstadt
im Ort erinnert die Tat an eine Serie von Brandanschlägen, die
rechte Jugendliche zwischen 2003 und 2004 in Nauen und
Umgebung auf türkische und vietnamesische Restaurants
verübten.
Schon als die Stadtverordnetenversammlung im Februar zur
lokalen Flüchtlingsunterbringung tagte, hatten Rechte die Sitzung mit Parolen unterbrochen. Das Parteibüro der Linken war
zuletzt wiederholt attackiert worden und auch Nico wurde
jüngst auf rechten Webseiten bedroht. Trotzdem standen die
Engagierten in den Startlöchern. Deutschkurse, Patenschaften,
Unternehmungen waren angedacht. »Das alles sollte losgehen,
sobald die rund 120 Menschen da sind«, sagt Nico. Wann und wo
die Asylsuchenden nun in Nauen unterkommen, ist auch zwei
Wochen nach dem Brandanschlag noch völlig unklar. Nur dass
mehr Menschen sie unterstützen wollen, scheint sicher. Bei einem ersten Treffen der Aktiven wird es eng im Raum.
Eisenhüttenstadt: Wie die eigene Heimerfahrung
zum Mittel für Veränderung wird
Schnurstracks schreitet Bethi über das Gelände der Erstaufnahme für Flüchtlinge in Eisenhüttenstadt. Kurz darauf sitzt sie einer Gruppe von Frauen gegenüber und fragt: »Habt ihr Angst
vor Übergriffen, wenn ihr nachts auf die Toilette geht?« Ohne
Umschweife wirft sie Fragen wie diese in die Runde, was die
Frauen zunächst verblüfft. Der Raum füllt sich, inzwischen sitzen elf Bewohnerinnen in dem kleinen Zimmer des Wohncontainers, dicht an dicht auf den sechs Betten, die fast lückenlos
aneinandergereiht die eine Hälfte des Zimmers füllen.
willkommen in deutschland
Bethi gründete im Jahr 2002 mit anderen Aktivistinnen die
Initiative »Women in Exile«, um auf die besonders schutzlose
Situation von Frauen in Unterkünften aufmerksam zu machen.
Bethi hat ihr großes schwarzes Notizbuch auf dem Schoß liegen
und den Stift im Anschlag. Aber auf ihre ersten Fragen bekommt sie keine Antworten. Vom Flur hallt grelles Kindergeschrei herüber. Unbeirrt fragt Bethi weiter: »Könnt ihr nachts
gut schlafen?« Es folgt Kopfschütteln und plötzlich ist das Gespräch in vollem Gange. Die Frauen berichten ihr von rassistischen Anwohnerinnen und Anwohnern, von wochenlangen
Stromausfällen und fehlenden Rückzugsräumen. Jetzt füllt sie
die Seiten in ihrem dicken Notizbuch.
»Wir versuchen diese unwürdigen Bedingungen politisch zu
artikulieren«, sagt Bethi. »Women in Exile« agiere auf einer anderen Ebene als die Willkommensinitiativen. »Aber wir ergänzen uns sehr gut: Wir versuchen die Lage grundsätzlich zu verändern«, während die Mehrheit der Initiativen konkrete Abhilfe
schaffe und das Allernötigste tue. Bethi hat selbst sieben Jahre
mit ihren beiden Kindern in einem Heim in Prenzlau gelebt. An
diese Zeit denkt sie nur ungern zurück. Trotzdem verbringt sie
in den Unterkünften Berlins und Brandenburgs erneut viel Zeit
und vernetzt sich mit geflüchteten Frauen. Jeden Mittwoch besuchte sie in den vergangenen Monaten eine andere Unterkunft.
Dass sich die Situation für Flüchtlinge derzeit wieder verschärft, erfüllt sie mit Sorge. Zwar erhielten die meisten Flüchtlinge statt Gutscheinen und Sachleistungen inzwischen endlich
Bargeld, aber kaum sei das umgesetzt, stelle es die Politik schon
wieder infrage. Auch die Trennung zwischen schutzbedürftigen
und nicht schutzbedürftigen Flüchtlingen führe »nicht nur zu
Rassismus vor den Unterkünften, sondern auch in den Unterkünften, wo die hohe Aus- und Überlastung ohnehin Probleme
mit sich bringt«.
Gemeinsam mit den Frauen schaut sich Bethi auch in den
anderen Gebäuden der weitläufigen Erstaufnahme um. Mit der
Kamera in der Hand steht sie auf den glitschig dreckigen Fliesen
einer Herrentoilette, die auch Frauen und Mädchen nutzen
müssen, seit ihr Sanitärbereich wegen eines Defekts vor drei
Wochen geschlossen wurde. Auch zum Duschen müssen sie zu
den Männern ausweichen, ohne dass es irgendeinen Sichtschutz
oder Türen gibt. Bethis Kamera verschwindet wieder im Rucksack. Die Situation im Bad wird bald wohl nicht mehr nur den
Bewohnerinnen Probleme bereiten, sondern auch den Verantwortlichen.
* Name von der Redaktion geändert.
Der Autor ist Volontär des Amnesty Journals.
Sie wollen selbst aktiv werden? Hier finden Sie Tipps sowie Kontakte zu
Gruppen vor Ort: www.proasyl.de/mitmachen
23
»Die Mitte ist Teil
Fast täglich werden Flüchtlingsunterkünfte überfallen, die Zahl der Angriffe ist dramatisch
angestiegen. Rechtsextreme Einstellungen sind in allen Schichten der Gesellschaft
verbreitet, hat der Sozialpsychologe Oliver Decker von der Universität Leipzig festgestellt.
Die Uni Dresden fürchtet um ihren Ruf, weil viele ausländische Wissenschaftler wegen der rassistischen Umtriebe nicht
mehr in die Stadt kommen wollen. Fühlen Sie sich in Leipzig
noch wohl?
Ich fühle mich hier sehr wohl.
Wieso haben sich Bewegungen wie Pegida oder Legida ausgerechnet in Städten wie Dresden oder Leipzig etablieren können, die immer als sehr weltoffen galten?
Man darf nicht den hohen Anteil derjenigen vergessen, die
für Pegida- und Legida-Demonstrationen aus dem Umland anreisten. Natürlich gibt es auch in Leipzig eine rechtsextreme Szene und Einwohner, die, vielleicht ohne es selbst zu wissen, rassistisches und rechtsextremes Gedankengut teilen. Aber ihr Anteil ist, wie im gesamten Bundesgebiet, in den Städten geringer
als auf dem Land – auch in Leipzig und Dresden.
Gilt im Osten Deutschlands die Faustregel: Je weniger Ausländer in der Region leben, desto höher ist die Ablehnung?
In der Forschung wurden deutliche Belege für die sogenannte »Kontakthypothese« gefunden: Menschen mit Kontakt zu Migrantinnen und Migranten haben in der Regel weniger Vorurteile. Es gibt aber auch Menschen, die ihre Vorurteile selbst im
Kontakt mit stigmatisierten Menschen nicht aufgeben. Gerade
diejenigen, die autoritär orientiert sind oder davon ausgehen,
dass die Zugehörigkeit zu Gruppen wichtig ist, profitieren wenig
von Kontakten mit denen, die sie abwerten. In Bayern haben wir
beispielsweise die Situation, dass trotz eines hohen Anteils von
Migrantinnen und Migranten, rechtsextreme und ausländerfeindliche Einstellungen weit verbreitet sind.
Was verbindet Sachsen und Bayern?
Entscheidend für die politische Kultur sind sozialräumliche
und historisch gewachsene Unterschiede. Manche Regionen im
eigentlich wirtschaftlich starken Bayern sind von Veränderungen bedroht, die die ostdeutschen Bundesländer schon durchlaufen haben, etwa die Abwanderung von hochqualifizierten
»Bis zur Hälfte der
Bevölkerung teilen,
je nach politischer Lage,
rassistische Positionen.«
24
jungen Menschen aus ländlichen Regionen. Was auf den ersten
Blick als Gemeinsamkeit zwischen Sachsen und Bayern ins Auge
fällt, ist die starke hegemoniale Position einer Partei über Jahrzehnte. Die Normalität einer – auch kontroversen – öffentlichen
Debatte und eine parlamentarische Auseinandersetzung über
unterschiedliche Positionen, mit der Aussicht auf wechselnde
Mehrheiten, ist Luft, die die Demokratie zum Atmen braucht.
Das trifft eben nicht nur auf ostdeutsche Bundesländer zu.
In Bayern wäre das die Dominanz der CSU?
Zum Beispiel. Ministerpräsident Horst Seehofer ist sicher
kein Rassist. Aber wenn Großprojekte der CSU, wie zum Beispiel
die Maut oder das Betreuungsgeld, scheitern, dann kann man
beobachten, dass »rigorose Maßnahmen« gefordert und ausländer- oder migrationsfeindliche Inhalte bedient werden. Auch
die Forderung der CSU nach einer Deutschpflicht für Migranten
hing mit weit verbreiteten Ressentiments zusammen. Sogar Vertreter demokratischer Parteien bedienen diese – oder leugnen
sie. Der frühere sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf
etwa erklärte während seiner Amtszeit, dass es in Sachsen keinen Rechtsextremismus gäbe. Diese faktische Relativierung
antidemokratischer Einstellungen setzte sich lange Zeit fort. Am
Beispiel der Pogrome in der sächsischen Kleinstadt Mügeln
kann man gut zeigen, wie die Probleme in Sachsen 20 Jahre lang
verschleiert wurden. Das hatte zur Folge, dass rassistische Einstellungen – weil toleriert – als akzeptabel erscheinen, und das
macht es heute schwierig, angemessen auf die zunehmende
Artikulation der extremen Rechten zu reagieren.
Sind Rechtsextremismus und extreme ausländerfeindliche
Einstellungen mittlerweile gesellschaftsfähig geworden?
Mit unseren »Mitte«-Studien zur rechtsextremen Einstellung dokumentieren wir seit 2002, wie weit verbreitet diese
Orientierung ist. Deshalb auch der Studientitel: »Die Mitte.«
Denn die Mitte der Gesellschaft ist kein Schutzraum der Demokratie, sondern selbst Teil des Problems. Hinzu kommt seit vergangenem Jahr wieder die Gewalt gegen Migranten. Pogromartige Ausschreitungen hatten wir bereits in den neunziger Jahren,
es war eine Situation, die der heutigen nicht unähnlich ist. Dabei wird körperliche Gewalt von zumeist jüngeren Männern
ausgeübt. Für diese muss es aber ein Umfeld geben, das Gewalt
als Mittel der politischen Auseinandersetzung befürwortet. Und
da der Anteil von Menschen, die rassistische Positionen vertreten, in der Bevölkerung groß ist, fühlen sich extrem-rechte Gewalttäter durch unterschiedliche soziale Gruppen legitimiert. Es
sind eben nicht nur sozial Deklassierte, die rechtsextreme Einstellungen aufweisen. Vielmehr teilen bis zur Hälfte der Bevölkerung, je nach politischer Lage, rassistische Positionen.
amnesty journal | 10-11/2015
Foto: Gustav Pursche
des Problems«
»In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?« Mahnwache nach dem Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft in Nauen, 25. August 2015.
Nach jahrzehntelanger Vergangenheitsbewältigung in
Deutschland könnte man ein anderes Ergebnis erwarten …
Man muss dafür auch die Entwicklung des politischen Klimas und der Kultur in der Bundesrepublik Deutschland betrachten. An deren Anfang stand ein Ende, das von vielen Deutschen schmerzlich empfunden wurde: Das Ende der Herrenrasse-Ideologie des Nationalsozialismus, die jeden Volksgenossen
automatisch als Mitglied einer höherwertigen Volksgemeinschaft definierte. Stattdessen hätte Schuld anerkannt und
Scham ausgehalten werden müssen. In der Nachkriegszeit füllte
der Wirtschaftsaufschwung, symbolisiert durch die harte DMark, die Lücke im Selbstwert und eine Aufarbeitung des Mordens fand nicht statt. Wir bezeichnen dieses Phänomen als narzisstische Plombe, die nach dem Zusammenbruch des NS-Staates wieder ein neues Selbstwertgefühlt garantierte, von Schuld
und Scham ablenkte und zugleich den neuen Staat und die Gesellschaft in Westdeutschland legitimierte. Die Gesellschaft integrierte und legitimierte sich, indem sie dem Einzelnen das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer starken Nation, zu einer starken
Wirtschaftsmacht verschaffte.
In Westdeutschland hat in den späten sechziger und den
siebziger Jahren dann ein Liberalisierungsschub eingesetzt, und
es kam zu einer intensiven Auseinandersetzung mit Nazideutschland. Aber bis heute zeigt sich immer wieder, die nationalsozialistische Vergangenheit ist nicht, was ihr Name behauptet: vergangen.
willkommen in deutschland
Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist Deutschland ökonomisch ja tatsächlich eine Insel der Seligen.
Flüchtlinge werden dennoch als Bedrohung für diese starke
Wirtschaft gesehen. Aber sie lösen auch noch aus anderen Gründen Wut aus. Flüchtlinge werden von vielen Menschen wahrgenommen, als verfügten sie über Privilegien, die man sich selbst
in den vergangenen Jahren versagt hat. Deutschland hat nach
dem unsäglichen Asylkompromiss in den neunziger Jahren eine
gesellschaftliche Veränderung erlebt, die man als sukzessive
Entsolidarisierung beschreiben kann. Viele Menschen mussten
in ihrem Lebensalltag deutliche Abstriche bei Wünschen und
Ansprüchen hinnehmen – sei es bei ihrem sozialen Status, der
Verdichtung und Beschleunigung von Arbeitsprozessen oder bei
materiellen Bedürfnissen. Das provozierte zugleich auch autoritäre Aggressionen gegenüber jenen, die vermeintlich ein schönes Leben ohne Arbeit haben, die angeblich vom Staat alimentiert werden.
Gleichzeitig fordert doch die Wirtschaft, dass wir dringend
Zuwanderung brauchen.
Dabei handelt es sich um die andere Seite derselben Medaille. 1992 sagte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl bei
seiner Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag:
Deutschland ist kein Einwanderungsland. Mit viel Widerspruch
der Opposition musste er damals nicht rechnen. 20 Jahre später
erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem Integrations-
25
Liegt dem aktuellen Rassismus also ein ökonomisches Kalkül
zugrunde, in dem Sinne, wer nützlich ist und wer nicht?
Wirtschaftschauvinismus ist sicher ein wichtiger Aspekt.
Aber man darf auch nicht vergessen, dass in Deutschland
weiterhin eine starke ethnisch geprägte Vorstellung von Nationen existiert. Lange Zeit ging die Forschung davon aus, dass diese Vorstellung abnimmt. Das heißt, Rassismus wurde nicht
mehr biologisch begründet, sondern kulturell. Die Fremden
würden nicht in unseren Kulturkreis passen, seien kulturell
rückständig etc. Spätestens seit der Debatte um die Bücher von
Thilo Sarrazin aber kann man deutlich sehen, dass biologistische Argumente noch immer angeführt werden: Nach wie vor
existiert in vielen Köpfen die Vorstellung einer ethnisch geprägten Volksgemeinschaft, die von außen, von dem Fremden, bedroht wird. In der Auseinandersetzung um die Migrationsbewegung tauchen nun wieder der Begriff von Nation und Volk als
Schicksalsgemeinschaft auf, die sich gegen äußere Bedrohungen abgrenzen muss.
Wie kann man gegen diese Einstellungen vorgehen? Ist es
überhaupt möglich, eine Auseinandersetzung zu führen, ohne
diese Positionen aufzuwerten?
Wir leben in einer Demokratie und das bedeutet, dass die
Auseinandersetzung im politischen Raum geführt werden
muss. Das bedeutet aber auch, klare Kante zu zeigen und sehr
deutlich auf den antidemokratischen und rassistischen Gehalt
solcher Positionen hinzuweisen. Das alleine wird viel verändern. Trotzdem bleibt es eine große Herausforderung: Menschen sind nicht rassistisch, weil es ihnen an Informationen
fehlt. Die Ursachen liegen woanders. Aber man muss deutlich
machen, welche politischen Inhalte hegemonial sein müssen,
damit wir weiterhin in einer Demokratie leben können.
Auf welche Milieus muss man sich beziehen, wenn die Ressentiments bereits die bürgerliche Mitte stark beeinflussen?
Wir haben tatsächlich die Situation, dass zum Beispiel auch
viele SPD-Wähler Aussagen rechtsextremen Inhalts teilen. Die
nächste größere Gruppe, die diese Aussage teilt, tendiert dazu,
die CDU zu wählen. Insgesamt ist der Anteil der Menschen, die
rechtsextreme Aussagen teilen, in der Bevölkerung sehr hoch.
Das macht aber auch deutlich, dass viele Menschen mit rassistischen oder rechtsextremen Einstellungen etwas ganz anderes
verbinden als ihr eigenes Denken. Das heißt, sie teilen rechtsextreme Ansichten, halten sich selbst aber für Demokraten. Eine
der zentralen Aufgaben der politischen Auseinandersetzung
liegt darin, dass man im Zweifelsfall sogar den eigenen Anhängern erklären muss, dass ihre Einstellungen teilweise rechtsextreme oder rassistische Inhalte aufweisen. Dieser Aufgabe müssen sich die Parteien und andere gesellschaftliche Institutionen
stellen. Es gibt genügend Menschen, die bereit und willens sind,
26
in diese Auseinandersetzung zu treten. Und das wäre eine gute
Gelegenheit, um die wesentliche Frage zu stellen: In was für einer Gesellschaft wollen wir eigentlich leben?
Werden sich diese Auseinandersetzungen verschärfen?
Die extreme Rechte hat in den vergangenen Jahren neue
Strukturen verfestigen können, etwa die Organisierung ohne
Organisation in sogenannten Freien Kameradschaften. Das sind
gut vernetzte, oft neonazistische Gruppierungen mit hoher Gewaltbereitschaft. Gleichzeitig sind sie wegen ihrer Organisationsstruktur schwer zu fassen. Daher ist eine weitere Zuspitzung zu befürchten. Wie wir mittlerweile wissen, hat sich zum
Beispiel auch eine Terrororganisation wie der Nationalsozialistische Untergrund sehr lange halten können. Der gegenwärtige
Prozess gegen den NSU hat eines sichtbar gemacht: Diese
Rechtsterroristen hätte ohne einen entsprechenden Hintergrund nicht agieren können. Wir müssen damit rechnen, dass es
zu einer weiteren Radikalisierung kommen kann und damit
auch zu einem erneuten extrem-rechten Terror.
Wo sehen Sie langfristige Perspektiven?
Trotz der klaren Befunde und der gegenwärtigen Situation
bin ich nicht pessimistisch. Die Aufklärung geht langsam voran,
aber sie findet statt. Ein gesellschaftlicher Fortschritt, den man
nicht hoch genug einschätzen kann, ist beispielsweise die Einführung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit für
Kinder, indem Mitte der siebziger Jahre das Züchtigungsrecht
der Eltern abgeschafft wurde und dann kurz nach der Jahrtausendwende endlich Misshandlungen verboten wurden. Mangelnde Anerkennung, autoritärer Erziehungsstil und die Erfahrung von Gewalt in der Kindheit sind häufig Bedingung dafür,
warum Menschen im Erwachsenenalter Macht und Gewalt als
Mittel zur Durchsetzung von Interessen akzeptieren. Aber gerade die Einführung von Kinderrechten macht sichtbar, wie lange
es dauert, um demokratische Erziehungsbedingungen zu etablieren. Und es ist noch viel nachzuholen, etwa in Bildungseinrichtungen.
Aber kurzfristig bedarf es der unmittelbar politischen Auseinandersetzung. Es bringt nichts, wenn man nach Dresden
fährt, um mit »besorgten Bürgern« zu sprechen. Aber man kann
hinfahren und mit den Bürgern sprechen, die sachliche Auseinandersetzung suchen, klar machen, was an Positionen rassistisch und antidemokratisch ist.
Fragen: Anton Landgraf
interView
oliVer decker
Foto: privat
gipfel das genaue Gegenteil. Dass Einwanderung notwendig ist,
um die wirtschaftliche Stärke abzusichern, wird inzwischen anerkannt. Deswegen sind aber die Vorurteile und Aggressionen
nicht plötzlich weg. Sobald diese Migranten und Migrantinnen
den Verdacht wachrufen, dass sie der deutschen Wirtschaft
nicht genügend bieten können oder sie gar bedrohen, ziehen sie
weiterhin den Hass auf sich. Anerkennung von Menschen, weil
sie der eigenen Gruppe etwas bringen, ist keine. Das zeigt sich
dann an anderer Stelle, etwa bei der zunehmenden Abwertung
von ganz spezifischen Gruppen, insbesondere der Roma.
Oliver Decker forscht an der selbstständigen Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische
Soziologie der Universität Leipzig
und ist Gründungsmitglied des »Kompetenzzentrum für
Demokratieforschung und Rechtsextremismus«. Seit 2002
ist er an der Durchführung und Publikation der »Mitte«Studien zur rechtsextremen Einstellung und ihren Einflussfaktoren in Deutschland beteiligt. Die siebte und
jüngste Studie erschien 2014.
amnesty journal | 10-11/2015
Gefangen im
Niemandsland
Rückschiebung, Ausbeutung, Misshandlung: Ein Bericht von Amnesty
International dokumentiert die unmenschlichen Bedingungen, denen
Flüchtlinge auf der Balkanroute ausgesetzt sind. Von Stefan Wirner
willkommen in deutschland
Bisherige Route
Ungarn
Slowenien
Alternativen
Kroatien
BosnienHerzegowina
Serbien
Montenegro
Kosovo
Mazedonien
Albanien
Quelle: Amnesty
D
ie Aussagen der Flüchtlinge sind erschütternd. Ein
Afghane, der mit Frau und vier Kindern auf der
Flucht ist, schildert die Lage an der griechisch-mazedonischen Grenze: »Die ersten beiden Male, als wir
gefangen wurden, verbrachten wir die Nacht auf einer kleinen
Polizeistation, die Familien drinnen, die Männer draußen. Die
28 Männer wurden von der mazedonischen Polizei sehr schlecht
behandelt. Ich sah, wie Männer heftig geschlagen wurden. Sie
haben auch meinen 13-jährigen Sohn geschlagen. Und sie schlugen mich, als ich gerade mein Gesicht waschen wollte. Ich hatte
nichts getan.«
Ein aktueller Amnesty-Bericht dokumentiert Erfahrungen
von Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und anderen Ländern, die auf ihrem Weg nach Norden von Griechenland
durch Mazedonien und Serbien nach Ungarn kamen. Die Menschen sind vor Krieg, Gewalt und Armut geflohen, nehmen gefährliche Reisen auf sich, über Berge und durch Flüsse, bei Wind
und Wetter, oft ohne ausreichend Wasser und Nahrung. An den
Grenzen Griechenlands, Mazedoniens, Serbiens und Ungarns
aber erwarten sie menschenunwürdige Bedingungen und
Rechtlosigkeit. Spätestens, wenn sie Ungarn erreichen, das mittlerweile seine Grenze zu Serbien geschlossen hat, landen sie in
einer Sackgasse, im »Niemandsland Balkan«, wie der Bericht es
nennt.
Mehr als 100 Flüchtlinge wurden zwischen Juli 2014 und
März 2015 im Rahmen von vier Forschungsprojekten befragt.
Ihre Aussagen fügen sich zu einem erschreckenden Bild: An den
Grenzen der genannten Länder kommt es regelmäßig zu ungesetzlichen Rückschiebungen, sogenannten »push backs«. Die
Menschen werden von Sicherheitskräften misshandelt, willkürlich eingesperrt und finanziell ausgebeutet. Auch von den
Schleusern werden sie traktiert, betrogen oder im Nirgendwo
zurückgelassen. Die Gefahr, von bewaffneten Banden überfallen
zu werden, ist groß.
Diese Balkanroute war für die Flüchtlinge lange Zeit die
Hauptroute. Nach Schätzungen von Amnesty International kamen 2014 etwa 42.000 Menschen über Serbien nach Ungarn, allein im ersten Halbjahr 2015 waren es bereits mehr als 60.000.
Die Chance, auf dieser Route irgendwo Asyl zu bekommen, ist
äußerst gering. Im vergangenen Jahr hat Mazedonien zehn Asylbewerber anerkannt, Serbien einen einzigen.
»Flüchtlinge, die vor Krieg und Verfolgung in die EU fliehen
wollen, sitzen in Mazedonien und Serbien in der Falle«, sagt Selmin Çalışkan, Generalsekretärin von Amnesty International in
Deutschland. »Sie haben keine Chance auf ein faires Asylverfahren, das ihnen nach internationalem Recht zusteht.« Es dürfe
Griechenland
nicht sein, »dass die Europäische Union sich weiter abschottet
und ihre Verantwortung für den Schutz von Flüchtlingen auf die
Nachbarstaaten abschiebt«.
Tatsächlich ist es so, dass Mazedonien und Serbien, die keine
Mitgliedstaaten der EU sind, mit den Folgen einer EU-Flüchtlingspolitik zu tun haben, auf die sie selbst keinen Einfluss haben. Dabei haben beide Länder mit eigenen Problemen zu
kämpfen. Der Konflikt zwischen Serbien und dem Kosovo ist
nicht gelöst, in Mazedonien hat sich die innenpolitische Lage
nach einem blutigen Polizeieinsatz gegen angebliche albanische
Terroristen im Mai verschärft. Dennoch fordert Amnesty International von den beiden Ländern, unverzüglich Maßnahmen zu
ergreifen, damit die Rechte der Flüchtlinge respektiert und ordnungsgemäße Asylverfahren möglich werden. Die Rückschiebungen müssten eingestellt, Misshandlungen unterbunden und
bestraft werden, heißt es in dem Bericht.
Aber Forderungen werden vor allem auch an die EU gestellt.
Sie müsse endlich sichere Fluchtwege schaffen und Flüchtlingen
einen effektiven Zugang zum EU-Asylsystem ermöglichen. »Die
europäischen Politiker tragen sonst eine Mitverantwortung für
die vielen Kettenabschiebungen auf dem Westbalkan und die
schweren Menschenrechtsverletzungen in Serbien, Mazedonien
und Ungarn, sagte Çalışkan.
Der Bericht »Europe’s Borderlands: Violations against migrants and refugees in Macedonia, Serbia and Hungary« ist zu finden unter: www.amnesty.org
27
Europas Grenze
Beim Thema Flucht und Asyl reagieren europäische Regierungen mit Abwehr und
Abschottung. Überall in Europa werden Grenzen geschlossen und Zäune errichtet.
Vor allem Ungarn schürt Angst vor »Überfremdung« und »falschen Flüchtlingen«.
Von Ralf Rebmann und Andreas Koob
S
tacheldraht und Gatter schließen die letzte Lücke des
Grenzzauns an der ungarisch-serbischen Grenze nahe
Röszke. Das Dorf war zuletzt zum Nadelöhr geworden
für Flüchtlinge, die über die sogenannte Balkanroute
Richtung Norden flohen. Sie suchen sich nun andere Wege, denn
die ungarische Regierung will Flüchtlinge nach Serbien abschieben, das als sicheres Herkunftsland gilt. Für den illegalen Grenzübertritt drohen fortan Haftstrafen von bis zu fünf Jahren. Es
sind drastische Maßnahmen, die zugleich wenig verwundern:
Die rechtsnationale ungarische Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán hatte schon zuvor mit Plakaten eine landesweite Kampagne gegen Flüchtlinge initiiert. Aber auch über die
Grenzschließung hinaus bringt das osteuropäische Land erstaunlich viel Bewegung ins europäische Asylsystem.
Schon lange äußern ungarische NGOs Kritik an den Zuständen, denen Asylsuchende in Ungarn ausgesetzt sind. Die jüngsten Bilder, etwa aus Röszke, aus dem Lager in Bicske oder vom
Budapester Ostbahnhof, machten die menschenverachtende
Asylpolitik einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Flüchtlinge
wurden teilweise ohne Essen und Trinken, ohne sanitäre Anlagen und ohne Schlafmöglichkeiten festgehalten. Polizisten attackierten jene, die versuchten, der unerträglichen Situation zu
entkommen. Die verheerenden Konsequenzen der DublinRichtlinien, die seit Jahren vor allem in Griechenland deutlich
sichtbar sind, offenbarten sich nun auch in Ungarn, wo die Eskalation zudem politisch gewollt scheint.
Während diese Zustände die Regierungen in Österreich und
Deutschland zeitweise bewogen, Züge mit Asylsuchenden entge-
gen den Dublin-Regeln durchzuwinken und sogar Busse zu schicken, findet die Asylpolitik Ungarns vor allem in Osteuropa großen Anklang. Auch CSU-Chef Horst Seehofer lud Orbán zu sich
ein und signalisierte Sympathie.
»Ungarn fährt schon lange eine Abschottungspolitik nach
innen und außen«, stellt Andreas Zick fest, Leiter des Instituts
für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld. »In den meisten anderen europäischen Ländern orientiert man sich ebenfalls an einem überbordenden
Kontroll- und Sicherheitsparadigma.« Orbán sei nicht allein,
auch der britische Premierminister David Cameron habe schon
früher gegen Migration und Multikulti gewettert.
Diese ablehnende Haltung hatte Cameron zuletzt Ende Juni
bekräftigt. Mitarbeiter des Fährdienstes »MyFerryLink« hatten
den Eingang zum Euro-Tunnel sowie eine Zufahrtsstraße zum
Hafen von Calais blockiert. Die Aktion löste einen massiven Verkehrsstau aus. Hunderte Asylsuchende, die in der Nähe des Hafens in improvisierten Camps ausharrten, nutzten die Gelegenheit, um sich in den wartenden Lastwagen zu verstecken.
Die Entschlossenheit der Asylsuchenden, selbst unter Lebensgefahr nach Großbritannien zu gelangen, führte zu dramatischen Szenen. Im Laufschritt versuchten sie, die Hecktüren der
Lkws zu öffnen. Manche schafften es bis auf das Dach eines Anhängers, an dem sie sich festklammerten. Der Großteil flüchtete
jedoch vor intervenierenden Lkw-Fahrern und Polizeibeamten.
David Cameron forderte daraufhin »mehr Grenzschutz« und
bezeichnete Asylsuchende als »Schwarm«, der sich nach Großbritannien aufmache. Die britische Innenministerin warnte,
»Abschottungspolitik nach innen und außen.« Flüchtlinge im ungarischen Grenzort Röszke.
28
amnesty journal | 10-11/2015
dass Großbritanniens Straßen nicht »mit Gold gepflastert«
seien. Dem rhetorischen Rundumschlag folgten schon bald Ankündigungen, die Sozialleistungen von Asylsuchenden in Großbritannien zu kürzen und irregulär eingereiste Personen gegebenenfalls zu inhaftieren.
Dabei wurden im Vereinigten Königreich im ersten Quartal
2015 lediglich 7.335 Asylsuchende registriert – ein »Schwarm«
sieht anders aus. Dem Statistikdienst Eurostat zufolge beantragten im selben Zeitraum in der gesamten EU rund 185.000 Personen Asyl, davon 73.100 in Deutschland und 32.800 in Ungarn.
Und um die europäische Hysterie ins Verhältnis zu setzen, lohnt
sich ein Blick auf die Nachbarstaaten Syriens: Der Libanon hat
bereits mehr als eine Million syrische Flüchtlinge aufgenommen, die Türkei rund zwei Millionen.
Die reflexartigen Abwehrreaktionen europäischer Regierungen beim Thema Immigration, Flucht und Asyl sind nicht neu.
»In Europa hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg nie eine richtige Einwanderungs- und Immigrationspolitik entwickelt«, sagt
Konfliktforscher Zick. »Europa kommt mit den heutigen Wanderungen nicht zurecht. Wenn die Politik dann Stereotype über
Immigranten bedient, will sie sich als kontrollfähig zeigen.«
Die Instrumentalisierung echter oder behaupteter Missstände hat Konsequenzen. Steigende Asylzahlen werden so zur
»Flüchtlingskrise« und zu einem »Problem«, das »gelöst« und
»bekämpft« werden muss. Im Visier stehen dann wahlweise
»Wirtschaftsflüchtlinge« oder »kriminelle Schleuser«. Eine Meinungsumfrage des Eurobarometers vom Mai 2015 spiegelt diese
Rhetorik wider: 38 Prozent der Befragten gaben an, das »wichtigste Problem« der EU sei derzeit die »Zuwanderung«.
Hier können populistische Parteien ansetzen und gleichzeitig das subjektive Gefühl der Bedrohung und Überforderung befeuern – wie in Dänemark, wo bei den Parlamentswahlen im
Juni die rechtspopulistische Dänische Volkspartei als zweitstärkste Kraft ins Parlament einzog. Der Wahlkampf wurde von der
Frage dominiert, welche Partei am effektivsten gegen Asylsuchende vorgeht.
Ob Front National in Frankreich, Jobbik in Ungarn, Vlaams
Belang in Belgien oder UKIP in Großbritannien: Rechte Parteien
mit nationalistischer, anti-europäischer und auch rassistischer
Rhetorik sitzen in zahlreichen Parlamenten. Seit 2015 sind in
Finnland mit der Partei Wahre Finnen und in Griechenland mit
Anel rechtspopulistische Parteien an der Regierung beteiligt.
»Für den illegalen
Grenzübertritt
drohen fortan Haftstrafen
von bis zu fünf Jahren.«
In Frankreich, Großbritannien und Dänemark überflügelten
bei den Europawahlen 2014 rechtspopulistische Parteien sogar
die damals amtierenden Regierungsparteien. Auch wenn ihr tatsächlicher politischer Einfluss gering sein mag, rhetorisch können sie etablierte Parteien unter Druck setzen. Eine jüngst veröffentlichte Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung kommt zum
Schluss, dass sich »Ton und Inhalte in der Einwanderungs- und
Grenzkontrollpolitik« in diesen drei Ländern deutlich verschärft
haben – vor allem durch den »anhaltenden Druck von rechts«.
Die Entwicklung in Ungarn zeigt, wohin das führen kann.
Ralf Rebmann ist freier Journalist, Andreas Koob ist Volontär des Amnesty
Journals.
traiskirchen
Von »strukturellem Versagen« sprach eine Amnesty-Delegation, die am 6. August das Erstaufnahmezentrum im
österreichischen Traiskirchen besuchte. Rund 1.500
Menschen übernachteten im Freien. Die medizinische
Versorgung war unzureichend, die Sanitäranlagen verschmutzt. Besonders prekär war die Situation für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sowie weitere besonders
schutzbedürftige Gruppen wie schwangere Frauen, Familien, Kranke oder Folterüberlebende. Durch administrative
Fehler und eine mangelnde Versorgungslage »verletzt
Österreich derzeit Menschenrechtsstandards in der
Unterbringung und Verwaltung von Asylsuchenden«.
Foto: Craig Ruttle / Redux / laif
willkommen in deutschland
29
Wo sich die Gesell
Rassisten und »besorgte Bürger« nutzen die Online-Netzwerke, um gegen Flüchtlinge
zu hetzen und rassistische Aktionen zu organisieren. Politiker und Unternehmen
wie Facebook wollen nun härter gegen »Hate Speech« vorgehen. Doch Verbote
allein werden nicht ausreichen. Von Maik Söhler
D
iesmal also Freital. Oder Dresden. Auch im Westen
der Bundesrepublik brennen Unterkünfte für Asylbewerber. Neonazis zeigen in Dortmund den Hitlergruß. Hooligans rufen Nazi-Parolen in Köln. Die organisierte extreme Rechte in Deutschland ist wieder da. Nur teilweise neu sind die handelnden Personen, neu aber ist der Grad
der Vernetzung.
Es ist zur Mode geworden, Online-Netzwerken, Videoportalen, Foren und Chat-Software eine Mitverantwortung für die
Vernetzung von Neonazis, Rassisten und »besorgten Bürgern«
zuzusprechen, die Flüchtlinge bedrohen, attackieren und die
Proteste in fast allen Regionen organisieren. Und diese Mode
hat durchaus ihre realen Ursprünge. Zuletzt forderte Bundesjustizminister Heiko Maas das Online-Netzwerk Facebook
wegen der Quantität und Qualität rassistischer, gegen Flüchtlinge gerichteter Beiträge zum Handeln auf. Facebook scheint
einsichtig zu sein und kündigte an, bei solchen Posts aufmerksamer zu reagieren.
Die Ankündigung erfolgt spät. Schon die von diffus bis extrem rechts reichenden Demonstrationen in Dresden im Winter
2014/15 haben gezeigt, dass Pegida und ähnliche Vereinigungen
verstanden haben, wie man im Internet Interessierte anlockt
und Sympathisanten in ihrer Überzeugung bestärkt. PegidaAnhänger gründeten Facebook-Gruppe um Facebook-Gruppe,
breiteten dort ihren Hass aus und versuchten ihre Verachtung
darüber hinaus in die Kommentarspalten vieler Medienpräsenzen auf Facebook zu tragen.
Die Betreiber des Netzwerkes reagierten kaum auf Kritik,
Löschanträge für rassistische Posts wurden überwiegend abgewiesen, da Facebook ein US-Unternehmen ist und die Meinungsfreiheit in der US-Verfassung und ihren Zusätzen noch
stärker geschützt ist als im deutschen Grundgesetz. Ein Sprecher
von Facebook betonte im August, Löschanträge aus Deutschland
würden meist in den USA bearbeitet. In den USA steht »Hate
»Akteure der
Zivilgesellschaft können
weitaus schneller und
effizienter handeln als
der Justizminister.«
30
Speech« unter Strafe, und dies spiegelt sich in den Nutzungsbedingungen von Facebook wider. »Hate Speech« ist jedoch im
Vergleich zu den klar definierten Paragrafen bezüglich nationalsozialistischer Hetze im deutschen Strafrecht ein recht schwammiger Begriff.
Es kann nicht schaden, wenn Justizminister Maas darüber
mit Facebook sprechen will. Denn auch in der jüngsten Debatte
über Flüchtlinge ist es wiederum dieses Netzwerk, das sich mit
heftiger Kritik auseinandersetzen muss. »Facebook – Der Platz,
wo Du Rassenhygiene fordern kannst, ohne belangt zu werden«,
schrieb die Autorin Marie von den Benken in einem vielbeachteten Artikel auf »Mobilegeeks.de«. Und weiter: »Facebook hält
nackte Brüste (…) offensichtlich für gefährlicher als einen Aufruf, Asylanten (…) nach Auschwitz zu deportieren und dort ›die
Duschen wieder anzustellen‹.«
Sascha Lobo, Deutschlands wohl bekanntester Blogger,
schrieb auf »Spiegel-Online«: »Facebook hat (…) ein völlig ungelöstes Hate Speech-Problem. Mit der Folge, dass die Aber-Nazis
dort beinahe ungehindert Stimmungen produzieren und verstärken können.« Als »Aber-Nazis« bezeichnet Lobo all jene, die
sagen, »Ich bin ja kein Nazi, aber …«. Wer sich mal die Mühe
macht, in die Facebook-Suche das Wort Heidenau einzugeben,
wird sie schnell finden: Gruppen wie »Heidenau Asyl-frei«,
»Widerstand Heidenau« und »Bürgerinitiative Heidenau – Nein
zu dieser Asylpolitik«.
Was diese Suche aber auch zeigt, ist, dass Akteure der Zivilgesellschaft weitaus schneller und effizienter handeln können
als der Justizminister. Denn all diese rechten Facebook-Gruppen
können ihre Propaganda nicht unbehelligt verbreiten. Hunderte
Facebook-Nutzer drücken hier ihren Protest gegen Rassismus
aus. Antifaschistische Gruppen, engagierte Bürger und Journalisten sind längst dazu übergegangen, die braunen Bereiche von
Facebook zu beobachten, zu dokumentieren, im Netzwerk zu
melden, eine Löschung zu fordern oder eine Polizeidienststelle
zu informieren.
Auch das ist Vernetzung, und sie funktioniert. »Jedes Like bei
Facebook zu einer entsprechenden volksverhetzenden Äußerung
ist strafbar, das bedenken viele User im scheinbar anonymen
Internet nicht«, sagte der designierte Abteilungsleiter Staatsschutz in Stuttgart, Hans Matheis, Ende August. Bis Ende Juli
habe es allein in Baden-Württemberg schon rund 1.000 Hinweise im Bereich Rechtsextremismus gegeben. »Ich rechne auch
mit weiter steigenden Zahlen.«
Andere Möglichkeiten, die Online-Kommunikation und
-Vernetzung rechtsextremer Gruppen im Netz zu stören, bestehen darin, rassistische Leserkommentare in Online-Medien an
die jeweiligen Redaktionen heranzutragen und auf ein rasches
amnesty journal | 10-11/2015
Foto: Mark Mühlhaus / attenzione / Agentur Focus
schaft spiegelt
»Ich bin ja kein Nazi, aber …« Heidenau, 28. August 2015.
Entfernen zu drängen. Häufig begehen rechtsextreme Blogs, Foren und Social-Media-Gruppen Urheberrechtsverstöße, indem
sie Texte, Textauszüge oder Fotos ihrer Gegner unautorisiert
übernehmen – das sind strafbare Handlungen. Man kann Firmen, die Online-Werbung schalten, darauf hinweisen, in welcher
Umgebung ihre Werbung auftaucht. Zuletzt war auch vermehrt
zu beobachten, dass rassistische Äußerungen von Facebook-Nutzern von Akteuren der Zivilgesellschaft an deren Arbeitgeber gemeldet werden; Entlassungen können die Folge sein.
Es ist wichtig, überall dort dagegenzuhalten, wo der Rechtsextremismus im Netz tobt. Auch Online-Netzwerke wie Twitter
haben ein Problem mit Neonazis und ihren Anhängern, doch
fällt es im Vergleich zu Facebook weitaus geringer aus, da Twitter-Nutzer früher, in größerer Anzahl und konsequenter gegen
rassistische und den Nationalsozialismus verherrlichende Äußerungen und Profile vorgehen und Twitter nach anfänglichem
Zögern mittlerweile häufig mit Sperrungen und Löschungen
reagiert.
»Wenn sich nichts ändert, wird Facebook als der bedeutendste Helfer einer Gesinnungskultur in die Geschichte eingehen, die jeder klar denkende Deutsche und jeder klar denkende
willkommen in deutschland
Mensch als die größte Katastrophe der Nachkriegsgeschichte
einordnen wird«, schreibt Marie von den Benken in ihrem Text
auf »Mobilegeeks.de«. Das ist zugleich übertrieben und wahr. Es
ist wahr, weil Facebook derzeit von allen größeren Netzwerken
am wenigsten gegen Rassismus unternimmt. Und es ist übertrieben, weil Facebook doch nur abbildet, was in der deutschen
Gesellschaft vorhanden ist – unabhängig vom Internet.
Rassismus, Antisemitismus, Hetze und Gewalttaten gegen
Flüchtlinge – all das zeigt sich in Deutschland seit Jahren und
Jahrzehnten. Als im August 1992 Neonazis mehrere Tage lang
ein Flüchtlingsheim in Rostock-Lichtenhagen angriffen, war das
Internet kaum mehr als ein Forschungsverbund von Universitäten und ein Kommunikationsnetz von US-Militärs; Facebook
wurde erst zwölf Jahre später gegründet. Die Bilder aus RostockLichtenhagen zeigen neben unendlichem Hass auch, dass damals kaum jemand ein Mobiltelefon hatte. Organisiert haben
sich Rechtsextreme trotzdem im großen Umfang. Bei aller berechtigten Aufregung um Rassismus im Netz sollte man das
nicht vergessen.
Der Autor ist Journalist.
31
Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung
jeder mensch ha
in anderen lände
Vor Verfolgung
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der Menschenrechte:
at das recht,
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und zu erhalten.
THEMEN
Zeugin des Genozids. Cecilia Vacana Galego hat in dem Jahrhundertprozess gegen Ríos Montt ausgesagt. Sie selbst wurde von Soldaten vergewaltigt.
34
amnesty journal | 10-11/2015
Der Völkermordprozess gegen Guatemalas Ex-Diktator
Efraín Ríos Montt soll im Januar 2016 wiederholt werden.
Die Opfer kämpfen für die historische Wahrheit:
Die guatemaltekische Gesellschaft soll erfahren, wie die
Armee versuchte, das Volk der Ixil-Maya auszulöschen.
Von Knut Henkel (Text und Fotos)
»Die
Wahrheit
lassen
wir uns
nicht
nehmen«
Machete, Zange und einen Hammer hält Téburcio Utuy in der
Hand, als unser Kleinbus aus Nebaj an ihm vorbeifährt und ein
paar Meter weiter zum Stehen kommt. Soeben hat der 73-jährige
den Zaun repariert, der die Straße von der Weide trennt, auf der
seine Familie ein paar Ziegen und Schafe hält. Es ist früh am
Morgen. Der Nebel hat sich noch nicht ganz aus den Tälern rund
um Nebaj verzogen. Die kleine quirlige Provinzstadt ist das Tor
zum Ixil-Dreieck im Norden Guatemalas. Sechs Stunden Busfahrt sind es von Guatemala-Stadt bis in die bergige Region, wo
das Volk der Ixil-Maya in rund zwei Dutzend Dörfern lebt.
Xix ist eines davon und Téburcio Utuy ist hier aufgewachsen.
Er gehört zu den Alten des Dorfs und ist überaus beliebt. Nicht
nur, weil der kräftige Mann von etwas über 1,60 Meter stets gut
gelaunt und hilfsbereit ist, sondern auch weil er sich für die Zukunft seines Dorfes engagiert. Beim Bau der Straße und der
Schule hat er mit angepackt, später dafür gesorgt, dass das Dorf
wieder an die Trinkwasserversorgung angeschlossen wurde.
»Das war 1999. Drei Jahre waren wir da schon wieder hier und
hatten einen Teil des Dorfes wiederaufgebaut. Nun brauchten
wir den Wasseranschluss, denn den alten hatte die Armee zerstört«, erklärt er, stellt das Werkzeug in eine Ecke der Terrasse
und verschwindet in dem mintgrün gestrichenen Haus. Das
liegt auf einem Hügel und von dort hat man einen prächtigen
Blick über das grüne zerklüftete Tal. Wenig später tritt Téburcio
Utuy wieder aus der Tür, er hat die Gummistiefel gegen Straßenschuhe getauscht und reicht ein paar Stühle heraus, um sich mit
den Gästen auf der Terrasse in die milde Morgensonne zu setzen. Téburcio kann sich noch exakt erinnern, wie die Soldaten
zum ersten Mal ins Dorf kamen und nach den Guerilleros fragten. »Im Sommer 1980 war das, und wir wussten nicht einmal,
was das Wort bedeutet. Wir haben gefragt, ob es sich um Tiere
oder Menschen handelt?«, sagt er und lächelt. Als Händler war
er damals in der Region unterwegs, lieferte Salz und Zucker in
die abgelegenen Ecken des Ixil-Dreiecks, wo die rund 20.000
Angehörigen der Maya-Ethnie unter einfachsten Bedingungen
lebten. Viele der Dörfer sind in etwa so groß wie Xix, wo heute
rund 250 Ixil wohnen. An den Lebensverhältnissen hat sich in
den vergangenen dreißig Jahren kaum etwas geändert, erklärt
Téburcio Utuy mit einem bitteren Lächeln. »Aber nichts ist
mehr wie vor dem Februar 1982.«
Auftakt für die Massaker
Damals kamen die Soldaten dreimal hintereinander in das Dorf,
dessen Häuser verstreut entlang der Straße nach Nebaj liegen.
Téburcio Utuy hatte an diesem Tag Wache. »Wir trauten den Soldaten nicht mehr über den Weg, nachdem sie Padre José María
guatemala
35
»Das Urteil ist wie eine Bibel.«
Juan Velasco (links) und
Téburcio Utuy. Gran Cirera erschossen und in Chajul und Cocop Dutzende von
Ixil massakriert hatten.« In Chajul hatte im August 1980 das erste Massaker der Armee an der indigenen Ethnie stattgefunden –
nur weil die Ixil im Verdacht standen, die in der Region aktive
Guerilla zu unterstützen. Beweise dafür gab es nicht. Es reichte,
dass bekannt war, dass sich in den Reihen der Guerilla viele indigene Kämpfer fanden. Die hatten die Nase voll vom Rassismus
der Eliten, der latenten Diskriminierung und der Ausbeutung.
Das Gros der Überlebenden der Massaker aus Chajul und Cocop suchte damals Zuflucht in Xix. Juan Velasco war einer von
ihnen. Heute ist der 51-Jährige Koordinator der AJR (»Asociación
para la Justicia y Reconciliación«), der »Vereinigung für Gerechtigkeit und Versöhnung«, und regelmäßig in der Region unterwegs, um mit Opfern und Zeitzeugen zu sprechen. »Die Gerichte
haben Ende August entschieden, dass am 11. Januar 2016 der
zweite Prozess gegen den ehemaligen Diktator Efraín Ríos
Montt kommen soll. Dann müssen die Zeugen bereit sein«,
erklärt Velasco und fährt sich nachdenklich über den dünnen
Schnurrbart. Téburcio Utuy gehörte zu den 98 Zeugen, die im ersten Prozess gegen Ríos Montt aussagten. Das Gerichtsverfahren
endete Anfang Mai 2013 mit einem historischen Urteil: Der ExDiktator wurde zu achtzig Jahren Haft wegen Völkermord an
den Ixil-Maya und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit
verurteilt. »Dieses Urteil ist für uns Ixil wie eine Bibel. Endlich,
nach dreißig Jahren, hat man uns zugehört, uns geglaubt. Das
ist in Guatemala etwas vollkommen Neues«, sagt Téburcio Utuy.
Doch zehn Tage nach der Urteilsverkündung annullierte das
Verfassungsgericht das Urteil wegen vermeintlicher Formfehler.
Deshalb soll es im kommenden Januar eine Neuauflage des Jahrhundertprozesses geben.
Viele Menschen im Ixil-Dreieck wollen das erste Urteil
schlicht bestätigt sehen. Längst nicht alle hatten den Mut, für
Gerechtigkeit und Versöhnung einzutreten, wie es Don Téburcio, wie er respektvoll genannt wird, immer wieder gemacht hat.
Auch er hatte Angst vor Vergeltung, doch gehörte er im Jahr
2000 zu den Gründern der AJR und fährt immer noch regelmä-
36
ßig nach Nebaj, um sich politisch zu engagieren. »Wir müssen
der jungen Generation erzählen, was vor 33 Jahren in Xix und
den anderen Dörfern passiert ist«, sagt er.
Der Mord an dem spanischen Pfarrer José María Gran Cirera,
einem Befreiungstheologen, war rückblickend der Auftakt für
den Völkermord an den Ixil. Der Genozid fand vor allem unter
der Regie des von März 1982 bis August 1983 regierenden
Putsch-Generals Efraín Ríos Montt statt. In Xix hatte die Dorfgemeinschaft entschieden, Wachen aufzustellen, um nicht von der
Armee überrascht zu werden. Geholfen hat es nicht. »Ich schob
Anfang Februar 1982 Wache«, erinnert sich Téburcio Utuy. »Als
ich die Soldaten kommen sah, lief ich ins Dorf, schrie und blies
auf meiner Tröte, um die Leute zu warnen. Doch es war zu spät,
die Soldaten hatten die zwei Häuser am Ortseingang schon umstellt«, erzählt er mit belegter Stimme. »Der ersten Frau spalteten sie den Kopf mit einer Machete, die schwangere Bewohnerin
des zweiten Hauses hielten sie fest, schnitten ihr den Bauch auf,
warfen ihr ungeborenes Kind auf den Boden und zertrümmerten dessen Kopf. Ich habe alles gesehen, von einem Hügel aus.
Was hat ein Ungeborenes mit der Guerilla zu tun?«, fragt der
alte Mann.
Eine Antwort darauf hat er nie erhalten – auch nicht vor Gericht, als er seine Aussage machte. Zweimal kamen die Soldaten
in den folgenden Tagen des Februars 1982 noch nach Xix – insgesamt 57 Menschen wurden binnen zehn Tagen bestialisch
massakriert, Frauen, Kinder, Alte und Männer. »Es wurde kein
Unterschied gemacht und für uns war klar, dass wir nicht bleiben konnten. Sie wollten uns auslöschen«, sagt Téburcio Utuy. Er
war auch bei den Exhumierungen der Forensiker zugegen, die
viele Aussagen der Opfer vor Gericht bestätigten. Nach den Massakern flüchteten die Überlebenden, rund 1.000 Menschen, in
die unzugänglichen Berge von Santa Clara. Téburcio Utuy führte
den Marsch an, dank seiner Handelstätigkeit kannte er sich in
der Gegend gut aus. Die Armee verfolgte sie, warf Brandbomben
über den Wäldern nahe Xix ab, wollte die Flüchtenden auslöschen, die sich über einen Fluss vor den Flammen retteten. Meh-
amnesty journal | 10-11/2015
rere Dörfer passierte der Treck und schwoll an. »Am dritten Tag
des Marsches waren es 1.999 Menschen, die sich vor den Soldaten in Sicherheit bringen wollten. Wir hatten Sumalito passiert
und Visich erreicht, wo die Berge beginnen.« Über kleine, abgelegene Wege führte der pfiffige Mann, dessen Eltern und fünf
Geschwister bei einem der Massaker starben, die Flüchtlinge in
die damals noch sichere Berglandschaft um Santa Clara. Da gab
es einige wenige Dörfer, wo die Flüchtlinge um Aufnahme baten.
Auf fünf, sechs Dörfer wurde der Zug schließlich verteilt und
umgehend wurden »Milpas« angelegt, kleine Parzellen, auf denen Bohnen, Mais und Kartoffeln angebaut wurden. »Der Hunger war neben den Soldaten unser größter Feind«, erinnert sich
Juan Velasco, der zu den Flüchtlingen gehörte und in den Bergen
um Santa Clara aufwuchs. Mehr als 14 Jahre, vom Februar 1982
bis zum September 1996, lebte er in einem der Ixil-Flüchtlingslager in den Bergen, und manchmal gab es nichts zu essen, außer Früchten aus dem Wald und Wurzeln.
In die Arme der Armeepatrouille
Der Hunger war es auch, der Téburcio Utuy im Herbst 1983 aus
den Bergen in eines der Täler trieb, wo er mit zwei mutigen
Freunden Zuckerrohr schlagen wollte. Doch er lief einer Armeepatrouille in die Arme und konnte mit seinen Schreien nur noch
seine beiden Freunde warnen, die entkommen konnten. Der damals 41-Jährige wurde in ein nahegelegenes Armeecamp geschleppt und als vermeintlicher Guerillero gefoltert. »Sie wollten wissen, wo die Waffenlager und die Camps sind, wo die
nächsten Angriffsziele lagen. Doch ich habe immer nur wiederholt, dass wir vor ihnen in Todesangst in die Berge geflüchtet
waren. Dann haben sie mich gefoltert.« Heute trägt er ein künstliches Gebiss, auch die Brandnarben an den Beinen, am Kopf
und auf dem Bauch zeugen von der Folter. »Sie haben mich an
Armen und Beinen aufgehängt, so dass sich mein Bauch wie ein
Fußball hervorwölbte. Dann haben sie mich geschlagen, mit
Feuer traktiert. Irgendwann ist mein Bauch aufgeplatzt und die
Gedärme hingen heraus«, sagt er mit leiser Stimme und lässt
seinen Blick in die Ferne schweifen. Elf Monate war er in den
Händen der Armee, die ihn immer wieder aufgepäppelt, immer
wieder gefoltert hat.
Der sympathische Mann, der so hartnäckig für die historische Wahrheit eintritt, gehörte beim Prozess gegen Efraín Ríos
Montt zu den wichtigsten Zeugen, so Edgar Pérez, Anwalt der
Ixil in dem in Guatemala als Jahrhundertprozess bezeichneten
Verfahren. »Für Schlagzeilen hat auch gesorgt, dass die Opfer im
Anschluss an das Urteil keine Entschädigungszahlungen reklamiert haben, sondern wollten, dass ihre Geschichte niedergeschrieben wird und in den Schulbüchern Erwähnung findet«, so
der 46-jährige Jurist. Nach drei Jahrzehnten, in denen der Völkermord an den Ixil systematisch geleugnet wurde, ist es den
Opfern viel wichtiger, dass ihnen geglaubt wird. Das hat der Prozess, der im April und Mai 2013 in Guatemala die Schlagzeilen
beherrschte, zweifellos erreicht.
Das ist auch bei den jüngsten Protesten gegen die Korruption und gegen den mittlerweile verhafteten Ex-Präsidenten
Otto Pérez Molina kaum zu übersehen. Transparente, die den
Ex-General Pérez Molina für die Massaker an den Ixil mitverantwortlich machen, zeugen davon. Doch Juan Velasco und Téburcio Utuy ist das nicht genug. »Wir wollen, dass das illegal annullierte Urteil wieder in Kraft gesetzt wird, wir wollen, dass die historische Wahrheit nicht mehr angezweifelt werden kann«, sagen
sie unisono.
Ob der zweite Prozess tatsächlich stattfinden wird, daran
zweifeln viele Experten aufgrund der Verschleppungsstrategie
der Anwälte von Efraín Ríos Montt. Auch Edgar Pérez ist sich
nicht sicher. Guatemala befindet sich im Wandel und niemand
weiß, in welche Richtung es gehen wird. Doch Edgar Pérez hat
schon die Akten anderer indigener Ethnien Guatemalas auf dem
Schreibtisch. Die Ixil sind nicht die Einzigen, die in dem 36 Jahre
dauernden Bürgerkrieg erbarmungslos verfolgt wurden.
Der Autor berichtet als Journalist regelmäßig aus Lateinamerika.
guatemala
Nebaj
Guatemala-Stadt
»Erzählen, was passiert ist.«
Téburcio Utuy und seine Enkel.
guatemala
37
In Bangladesch ist erneut ein religionskritischer Blogger
umgebracht worden. Zuvor hatten Islamisten auf Facebook
seinen Tod gefordert. Von Bernhard Hertlein
Was darf man auf Facebook veröffentlichen? Diese Frage hat
auch Europa und Deutschland erreicht. Doch in einem Land wie
Bangladesch geht es dabei nicht nur um hasserfüllte Kommentare – es geht um Leben und Tod. Vier Blogger sind seit Jahresbeginn in dem südasiatischen Land umgebracht worden. Alle vier
waren Atheisten und Menschenrechtler, alle vier hatten zuvor
auf Facebook Morddrohungen erhalten. Facebook war darüber
informiert, unternahm jedoch nichts. Das kalifornische Unternehmen, das Fotos mit nackten Brüsten schnell löscht, reagiert
in solchen Fällen selbst nach Aufforderung nicht.
Auch die bangladeschischen Behörden tun in der Regel
nichts, wenn sie von solchen Drohungen erfahren. Niloy Neel,
ein 39-jähriger Blogger aus der Hauptstadt Dhaka, suchte mehrere Polizeistationen auf, nachdem er bemerkt hatte, dass er
nicht mehr nur virtuell, sondern auch ganz real auf der Straße
verfolgt wurde. Er wollte Anzeige erstatten und Schutz erhalten.
Doch alle Polizisten, die er ansprach, wimmelten ihn ab. Am
7. August 2015 wurde er in seiner Wohnung von mutmaßlichen
Mitgliedern der islamistischen Terrorgruppe Ansarullah überfallen und erstochen. Seine Frau Asa Moni hatten die Täter in
ein anderes Zimmer eingesperrt. Sie hörte die Schreie ihres
Mannes; helfen konnte sie ihm nicht.
Der Chef der bangladeschischen Polizei, AKM Shahidul Hoque, erklärte wenige Tage nach dem Mord, man werde dem Vorwurf nachgehen, Polizisten hätten sich geweigert, Niloy Neels
Anzeige anzunehmen. Doch haften blieb vor allem seine Mahnung, die Blogger sollten »keine Linien überschreiten«. Journalisten leiteten daraus ab, die Blogger sollten den Islam nicht zu
Nackte Brüste sind
auf Facebook Tabu.
Bei Todesdrohungen zeigt
sich das Unternehmen
weniger empfindlich.
38
scharf kritisieren. Dabei war 1971 die Trennung von Staat und
Religion neben Nationalismus, Demokratie und Sozialismus
eine der vier Säulen, auf denen die Staatsgründer Bangladesch
aufbauen wollten.
David Griffiths, bei Amnesty International für Südasien zuständig, übte scharfe Kritik an den Behörden: »Es darf nicht
sein, dass man mit seinem Leben bezahlt, wenn man eine Meinung hat und diese äußert. Die Regierung Bangladeschs steht
nun in der Pflicht, schnellstmöglich klarzustellen, dass solche
Angriffe nicht toleriert werden. Es müssen unverzüglich unabhängige Untersuchungen durchgeführt werden, um die Verantwortlichen in fairen Verfahren und unter Ausschluss der Todesstrafe vor Gericht zu stellen können.«
Nach wie vor unaufgeklärt ist der Mord an Avijit Roy. Der 43Jährige wurde Ende Februar 2015 von mutmaßlichen Mitgliedern der Ansarullah-Terrorgruppe mit Messern und Hackbeilen
ermordet, als er die größte Buchmesse des Landes in der Hauptstadt Dhaka besuchte. Seine Frau Rafida Bonya Ahmed wurde
schwer verletzt. In Bangladesch geboren und in den USA lebend
waren die beiden in ihr Heimatland gereist, um Roys neues
Buch vorzustellen. Der Software-Programmierer war Gründer
und Mitbetreiber des religionskritischen Blogs »Mukto Mona«.
Zu seinen bekanntesten Büchern gehören »Die Philosophie des
Unglaubens« und »Das Glaubensvirus«. Roy hatte sich in seinem Blog auch für die Rechte von Homosexuellen ausgesprochen. Islamisten bedrohten ihn mehrfach.
Nur gut einen Monat später wurde erneut ein Blogger in
Bangladesch ermordet. Der 27-jährige Washiqur Rahman wurde
auf einer belebten Straße in Dhaka ermordet. Diesmal allerdings gelang es Passanten, zwei Täter aufzuhalten und der Polizei auszuhändigen. Die Mutigen zogen es indes vor, anonym zu
bleiben: Als Hijras, also Transsexuelle, leben auch sie in Angst
vor den Islamisten.
Dass religionskritische Blogger auch außerhalb der Hauptstadt nicht sicher sind, zeigt die Ermordung des 33-Jährigen
Ananta Bijoy. Der Bankmanager lebte in der Stadt Sylhet im
Nordosten Bangladeschs. Bijoy schrieb vier Bücher, die dem kritischen Denken verpflichtet sind, und verfasste auch für den
Blog »Mukto Mona« Beiträge. Er hatte bereits eine Einladung
nach Schweden, die er annehmen wollte. Die Mörder waren jedoch schneller.
Die Morde an den vier Bloggern »sind Angriffe auf die Presse- und Meinungsfreiheit in Bangladesch«, erklärte der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Strässer. Die Regierung von Bangladesch müsse alles tun, um die Tä-
amnesty journal | 10-11/2015
Foto: Munir uz Zaman / AFP / Getty Images
»Feinde des Islams«
Die Polizei wimmelte ihn ab. Trauerkundgebung für den ermordeten Säkularisten Niloy Neel in Dhaka.
ter zu fassen und die Menschen zu schützen, die »von ihrem
Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen«. Die
bangladeschische Regierung hält sich jedoch zurück. Wohl wird
»Bedauern« über die Attentate geäußert. Aber öffentlich Sympathie zu zeigen, den Toten die Ehre zu erweisen oder wenigstens
die Verwandten zu besuchen, dazu konnten sich die Premierministerin und ihr Kabinett bisher nicht durchringen. Die Regierung unterließ es bisher auch, mit der Bewegung Hefazat-e-Islami zu brechen. Diese hatte im Sommer 2014 eine Liste von 84
»Feinden des Islam« veröffentlicht. Zehn der 84 sind mittlerweile tot.
Rafia Ahmed Bonya, die bei dem Angriff auf ihren Mann Avijit Roy ebenfalls schwer verletzt wurde, ist wieder in die USA zurückgekehrt. Im Juni reiste sie nach Bonn, um an Stelle ihres
Mannes den »Bob 2015«, den Bloggerpreis der Deutschen Welle,
für »Mukto Mona« in Empfang zu nehmen. Dem Amnesty Journal gegenüber äußerte sie Zweifel, dass die Hintermänner des
Mordes ermittelt und zur Rechenschaft gezogen werden. Die Regierung unternehme nichts, um Blogger zu schützen. »Die Todesdrohungen sind öffentlich. Aber es gibt keine Reaktionen. Im
Gegenteil: Mit einem neuen Gesetz drohen Bloggern noch härtere Strafen, wenn sie in irgendeiner Weise die ›öffentliche Ord-
bangladesch
nung‹ gefährden.« Rafiy Ahmed Bonya kritisiert auch Facebook.
»Als Avijits Gegner 10.000 Beschwerden wegen eines angeblich
religionsfeindlichen Posts an Facebook schickten, wurde dieser
ohne weitere Überprüfung gelöscht. Wenn ein Mord angekündigt wird, reagiert Facebook nicht.«
Dabei richten sich die Todesdrohungen nicht nur gegen in
Bangladesch lebende Blogger. Auch Asif Mohiuddin, der 2014
mit Hilfe von Amnesty International nach Deutschland fliehen
konnte, erhält regelmäßig Drohungen wie diese: »Sei gewiss, wir
kriegen dich auch in deiner neuen Heimat. Wir haben in Europa
gute Freunde.« Ähnlich ist die Situation von Ananya Azad. Er
konnte in diesem Frühjahr im letzten Augenblick auf Einladung
der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte ausreisen. Da
konnte er sich schon nicht mehr auf der Straße trauen. Ein weiterer Blogger, der Künstler Raja Omar Lux, lebt schon seit fast
zwölf Jahren in Deutschland. Auch er erhielt in jüngster Zeit
Morddrohungen auf Facebook. Und einen Hinweis der deutschen Polizei, dass er sich in der Öffentlichkeit vorsichtig bewegen solle.
Der Autor ist Journalist und Sprecher der Bangladesch-Ländergruppe von
Amnesty International Deutschland.
39
»Mit Willkür
kann man
Boko Haram
nicht besiegen«
Im Kampf gegen die islamistische Terrormiliz Boko Haram
beging das nigerianische Militär mutmaßlich Kriegsverbrechen. Die neue Regierung unter Präsident Muhammadu
Buhari will die Gräueltaten aufarbeiten. Ein Gespräch mit
Daniel Eyre, Amnesty-Researcher für Nigeria.
Im Nordosten Nigerias gibt es ständig neue Angriffe von Boko
Haram auf die Zivilbevölkerung – trotz des Einsatzes des nigerianischen Militärs. Wie ist die Lage im Moment?
Anfang des Jahres waren viele Gebiete im Nordosten des
Landes unter der Kontrolle von Boko Haram. Seit Februar konnte das Militär sie jedoch aus den größeren Städten zurückdrängen. Boko Haram konzentriert sich deshalb auf die ländlichen
Gebiete, um zu beweisen, dass sie immer noch fähig sind, Menschenleben zu gefährden. Es gab vermehrt Bombenanschläge
und Überfälle auf Dörfer, die stets nach einem ähnlichen Muster ablaufen: Sie stürmen die Orte, manchmal mit Hunderten
von Kämpfern, erschießen Männer im wehrfähigen Alter, stehlen Waffen, Munition und Vorräte und ziehen sich dann wieder
zurück. Seit März 2014 hat Boko Haram mehr als 5.500 Menschen bei solchen Überfällen getötet.
Im April 2014 wurden in Chibok mehr als 270 Schülerinnen
verschleppt. Was weiß man über deren Situation?
40
Wir haben keine genauen Informationen über den Aufenthaltsort der Schülerinnen. Diese Entführungen gehören jedoch
zur Strategie von Boko Haram. Wir vermuten, dass mindestens
2.000 Frauen und Mädchen verschleppt wurden. Die Bedingungen, unter denen sie leben müssen, sind erschreckend. Sie werden gezwungen, Kämpfer von Boko Haram zu heiraten. Es gibt
viele Fälle von Vergewaltigung. Das nigerianische Militär konnte
Boko Haram aus einigen Gebieten zurückdrängen und damit
auch Frauen und Mädchen befreien, die dann medizinisch und
anderweitig versorgt wurden.
Das Militär ging bei seinem Einsatz gegen Boko Haram selbst
brutal gegen Zivilisten vor. In einem neuen Bericht spricht
Amnesty von mutmaßlichen Kriegsverbrechen.
Die Vorgehensweise des Militärs war ausgesprochen grausam. Das Militär führte Vergeltungsaktionen und großangelegte
Razzien in Orten oder Nachbarschaften durch, um Anhänger
von Boko Haram ausfindig zu machen. Junge Männer mussten
sich ausziehen, wurden einzeln vorgeführt und willkürlich festgenommen. In der Haft wurden sie gefoltert. Sie hatten keinen
Zugang zu einem Anwalt und es gab auch keine Gerichtsverfahren. In den Gefängnissen erhielten sie nicht genügend Wasser
oder Nahrung. In den vergangenen vier Jahren wurden mehr als
20.000 Personen inhaftiert. Aufgrund der Haftbedingungen
amnesty journal | 10-11/2015
»Unabhängige Untersuchungen sind
notwendig. Das Militär kann nicht
gegen sich selbst ermitteln.«
Wie sehen die Vergeltungsaktionen des Militärs aus?
Im März 2014 griff Boko Haram ein Militärgefängnis an, um
Gefangene zu befreien und sie als neue Kämpfer zu rekrutieren. Die Mehrheit der Gefangenen floh jedoch in die Stadt auf
der Suche nach Wasser, Nahrung und Kleidung. Das Militär
durchsuchte anschließend die Gegend und versuchte so viele
Gefangene wie möglich festzunehmen und zusammenzutreiben. Mehr als 640 Personen wurden an jenem Tag vom Militär
erschossen. Einen ähnlichen Fall gab es bereits 2012, als das Militär bei einer Vergeltungsaktion willkürlich in ein Dorf feuerte
und mehr als 200 Menschen tötete. Nach unseren Recherchen
hat das nigerianische Militär mehr als 1.200 Männer und Jungen außergerichtlich hingerichtet. Dafür gibt es auch Videobeweise. Hochrangige Militärs wussten davon und haben dies
nicht verhindert.
Wen genau macht Amnesty International für diese Gräueltaten verantwortlich?
In unserem jüngsten Bericht nennen wir neun Militärvertreter, die sich wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten sollten. Darunter
sind beispielsweise der amtierende Generalstabschef, der Stabschef des Heeres sowie Militärs und Kommandeure, die für die
Gefängnisse im Nordosten des Landes verantwortlich waren
oder Operationen leiteten.
Gab es explizite Anweisungen so brutal vorzugehen?
Wir sagen nicht, dass diese Verbrechen von ihnen angeordnet wurden. Jedoch wusste die Militärführung, was vor Ort passierte, und hat nichts unternommen, um dies zu stoppen. Wir
wissen, dass es Feldberichte gab, die an die Zentrale weitergeleitet wurden. Amnesty hat die Militärführung im Oktober 2013
über Todesfälle in Gefängnissen informiert. Doch wurde seither
niemand zur Verantwortung gezogen und Gefangene in Haft
mussten weiter sterben.
Wie hat das nigerianische Militär auf die Anschuldigungen
reagiert?
Das Militär sagte, dass der jüngste Bericht keine neuen Informationen enthielte. Auf der einen Seite stimmt das. Es sind dieselben Vorwürfe, die wir bereits in der Vergangenheit geäußert
haben. Jedoch ist dieser Bericht weit umfassender und er zeigt
auch, dass das Militär diese Vorfälle nicht aufgearbeitet hat. Wir
waren deshalb froh, dass sich der neue nigerianische Präsident
Muhammadu Buhari positiv zu den Veröffentlichungen geäußert hat. Er sagte, dass er nichts unversucht lassen wolle, um die
interView
|
daniel eyre
Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Notwendig sind
unabhängige Untersuchungen, die von der nigerianischen Regierung selbst angestrengt werden. Das Militär kann nicht gegen sich selbst ermitteln.
Einerseits muss die nigerianische Regierung hochrangige Militärs zu Verantwortung ziehen, andererseits ist sie im Kampf
gegen Boko Haram auf das Militär angewiesen. Gibt es dabei
Interessenskonflikte?
Es ist nicht einfach, während laufender Militäroperationen
Untersuchungen durchzuführen. Klar ist jedoch, dass Boko Haram durch die willkürliche Festnahme von Zivilisten kaum besiegt werden kann. Die hohe Anzahl von Todesfällen in Haft
könnte verhindert werden, wenn Inhaftierte Zugang zu medizinischer und rechtlicher Hilfe bekämen und die Bedingungen in
den Gefängnissen verbessert würden. Diese Maßnahmen lassen
sich auch umsetzen, ohne die laufenden Militäroperationen gegen Boko Haram zu beeinträchtigen.
Welche Rolle spielt die nigerianische Zivilgesellschaft bei der
Aufarbeitung der Verbrechen?
Sie spielt eine wichtige Rolle, denn die Aussagen von Augenzeugen und Betroffenen sind für die Untersuchungen ausschlaggebend. Die Arbeit von Amnesty beruht auf einem großen Netzwerk von Personen, die uns täglich über die Angriffe
von Boko Haram und über die des Militärs informieren. Für den
Bericht wurden Interviews mit rund 400 Zeugen, Betroffenen,
Journalisten, Anwälten, Menschenrechtsverteidigern und auch
Militärs geführt. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen in
Nigeria haben unsere Veröffentlichungen unterstützt und konnten sie durch eigene Recherchen bestätigen. Amnesty hat jüngst
auch einen Bericht zu den Verbrechen von Boko Haram veröffentlicht, um beide Seiten des Konflikts zu beleuchten. Die Menschen im Nordosten Nigerias verdienen Gerechtigkeit, egal
durch wen sie Opfer geworden sind.
Fragen: Ralf Rebmann interView
daniel eyre
Foto: Amnesty
und infolge der Folter sind schätzungsweise mehr als 7.000 Personen in den Gefängnissen gestorben.
Daniel Eyre ist Amnesty-Researcher
für Nigeria im Internationalen
Sekretariat in London. Zuvor
unterstützte er den Kampagnen Bereich bei Amnesty. Von 2009 bis 2012 war er am
Sondergerichtshof für Sierra Leone in Freetown tätig.
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Vor einem Jahr wurden im mexikanischen Bundesstaat
Guerrero 43 Studenten entführt. Seitdem sind sie spurlos
verschwunden. Weil die Behörden offensichtlich nicht an
einer Aufklärung des Verbrechens interessiert sind, müssen die Angehörigen die Suche selbst in die Hand nehmen.
Von Cordelia Dvorák
Ayotzinapa ist ein winziger Punkt auf der Landkarte von Guerrero, einem der ärmsten und gefährlichsten Landstriche Mexikos, unweit des ehemals mondänen Ferienorts Acapulco: Dort
wurden am 26. September 2014 unbewaffnete Studenten auf
dem Weg zu einer Protestveranstaltung verschleppt und sind
seitdem unauffindbar. Sechs Menschen starben. Die Leiche eines Studenten wurde am nächsten Morgen mit ausgestochenen
Augen und abgezogener Gesichtshaut am Straßenrand gefunden. Das Bild dieses grausamen Mordes wurde von Unbekannten in allen sozialen Netzwerken lanciert, als unmissverständliche Botschaft: Politisches Engagement ist hier unerwünscht!
Die Escuela Normal Rural Raúl Isidro Burgos, an der die
Lehramtsstudenten eingeschrieben waren, zählt zu den traditionsreichsten und am stärksten politisierten Pädagogischen
Hochschulen Mexikos. Sie bietet Bildung und Lehre für die
ärmsten Dörfer des Landes und ist damit eine Alternative zu
den beiden gängigen Perspektiven in ländlichen Gebieten – Drogenkarriere oder Emigration. Ayotzinapa ist eine weitere Eskalation der Gewaltspirale, die in Mexiko seit 2006 zu mindestens
80.000 Toten und mehr als 25.000 Verschwundenen geführt
hat. Als das »Land Pedro Páramos, wo die Toten lebendiger sind
als die Lebenden«, bezeichnete der bekannte Schriftsteller und
Essayist Juan Villoro kürzlich Mexiko, in Anspielung auf Juan
Rulfos berühmten Roman, in dem die Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits kaum mehr zu erkennen sind.
Allein rund um Iguala, dem Ort des Verbrechens an den 43
Lehramtsstudenten, wurden seit dem Massaker vor knapp einem Jahr 60 anonyme Massengräber mit sterblichen Überres-
Die brutal agierenden
Drogenbanden scheinen
mehr Schutz zu genießen
als ihre potenziellen Opfer.
42
ten von mindestens 129 Menschen gefunden. Die verbliebenen
42 verschwundenen Studenten sind nachweislich nicht darunter. Am 26. September 2015 jährte sich das Massaker, das nach
wie vor nicht aufgeklärt ist. Dabei wird der mexikanische Staatspräsident Enrique Peña Nieto inzwischen auf jedem seiner Besuche im In- und Ausland mit den Vorfällen konfrontiert.
Doch die brutalen Drogenbanden scheinen in Mexiko mehr
Schutz zu genießen als Studenten, Frauen und Journalisten, die
bevorzugt Zielscheibe politisch motivierter Mordanschläge sind.
So konnte kürzlich der Drogenboss Joaquin Guzmán, Anführer
des mächtigen Sinaloa-Kartells, aus einem Hochsicherheitsgefängnis entkommen, das angeblich das Beste im Land ist.
Lydia Cacho, eine von Mexikos mutigsten Journalistinnen
und Menschenrechtsaktivistinnen, beklagte kürzlich, dass die
Aufklärung des Verbrechens von Ayotzinapa durch einen vollkommen unkoordinierten bürokratischen Dschungel extrem
behindert würde. So sei der Fall in 13 verschiedene Anklagepunkte aufgeteilt worden, die vor sechs unterschiedlichen Gerichten an verschiedenen Orten unabhängig voneinander verhandelt würden. Die bisherigen Angeklagten, die viele für Alibi-Verhaftete halten, säßen in drei verschiedenen Gefängnissen. Wichtige Informationen und Beweise seien dadurch verlorengegangen. Auch aufschlussreiche Satellitenbilder, die vom
Tatort vorliegen, seien aus unerfindlichen Gründen immer
noch nicht zur Abklärung der Beweislage angefordert worden.
Im Juli hat die mexikanische Menschenrechtskommission
CNDH einen umfangreichen Bericht zum Ermittlungsstand vorgestellt. Auf mehr als 60 Seiten werden dort gravierende Fehler
der Staatsanwaltschaft bei der Suche nach den Verschwundenen
und der Aufklärung der sechs Morde aufgezählt. Die wichtigsten
Punkte sind eine fahrlässige Spurensicherung am Tatort, fehlende behördliche Sorgfalt und mangelnde Koordination der zuständigen Behörden auf regionaler und föderaler Ebene. Kritisiert wurde auch, dass es keine flankierenden Maßnahmen gibt,
um die Angehörigen der Opfer zu unterstützen und vor weiteren Gewaltübergriffen durch lokale Drogenbanden zu schützen.
Außerdem fordert die CNDG, die letzten Handyanrufe der Verschwundenen in der Nacht vom 26. auf den 27. September endlich auszuwerten und Polizisten und Soldaten, die damals im
Einsatz waren, zu verhören. All das ist bisher nicht geschehen.
Die Bundesregierung hat eine Version der Geschehnisse vorgelegt, die sich inzwischen als völlig unhaltbar erwiesen hat. Der
Generalstaatsanwalt wurde abgelöst. Auch eine internationale
Expertengruppe, die von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) eingesetzt worden war, hat Anfang
September die offiziellen Ermitlungen zu dem Fall zurückgewie-
amnesty journal | 10-11/2015
Foto: Edgard Garrido / Reuters
Aufklärung
unerwünscht
»Wie sollen wir der Regierung noch irgendetwas glauben?« Protest vor dem Amtssitz des mexikanischen Generalstaatsanwalts. sen. Die Experten kritisierten zudem die Verschleierung von Beweismaterial und die Einschüchterung von Zeugen.
»Wie sollen wir einer Regierung noch irgendetwas glauben,
die uns als angeblichen Beweis für den Tod unserer verschwundenen Söhne Knochen präsentiert, die sich nach Untersuchungen von internationalen Forensikern als Hühner- und Rinderknochen herausstellen?«, empörte sich Don Eleucario Ortega,
der Vater von Mauricio, einem der Verschwundenen. Mit einer
»Karawane gegen das Vergessen«, die im Frühjahr 2015 durch
ganz Europa führte, informierte er zusammen mit einem Vertreter des Menschenrechtszentrums Tlachinollan und einem
Überlebenden über den Stand der Dinge. Reisen und Aufklären
ist eine der Hauptbeschäftigungen der Angehörigen aus Ayotzinapa geworden. Immer verzweifelter sind sie unterwegs, um
den Fall im öffentlichen Bewusstsein zu halten. Ganz Mexiko,
Europa, Nord- und Südamerika haben die Angehörigen schon
bereist, um sich mit Menschenrechtsorganisationen und sozialen Protestbewegungen auszutauschen und zu verbünden.
Omar García ist einer der wenigen überlebenden Studenten
jener Nacht. Er hat gerade das zweite Jahr seiner Grundschullehrerausbildung abgeschlossen, und ist inzwischen zu einer Art
Sprecher seiner »Compañeros« aus Ayotzinapa geworden. »Der
mexiko
mexikanische Staat hat sich bis heute geweigert, die Verantwortung für die Aufklärung der Geschehnisse vom 26. September zu
übernehmen. Es gibt keine ernstzunehmende juristische Untersuchung, keine neuen Gesetze, die Konsequenz aus dem Fall ziehen, keine Strafverfolgung – die ganze Nachforschung ist eine
einzige mediale Simulation«, erklärte er in Berlin.
Und auch zur Verantwortung deutscher Unternehmen haben die Angehörigen noch viele Fragen. Im Februar hatte der
Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Christoph
Strässer, Guerrero besucht, um sich ein Bild von der Situation
vor Ort zu machen. Weil bei den Vorfällen im September 2014
offenbar auch G36-Gewehre des Unternehmens Heckler & Koch
eingesetzt wurden, entschuldigte er sich, »wenn mit Waffen aus
Deutschland Verbrechen begangen worden sind«.
Eine Aussage, die bei den Angehörigen der verschwundenen
Studenten eher Verwunderung auslöste. Wenn jemand ermordet wurde, reiche eine Entschuldigung nicht aus, erklärte García. Vielmehr müsse die Tat strafrechtlich verfolgt werden: »Warum gibt es auch in Deutschland keine politischen Konsequenzen für die Verwendung deutscher Waffen in Guerrero?«
Die Autorin ist freie Journalistin.
43
»Strafen helfen
nicht«
»Gesetze müssen Ausbeutung und Misshandlung verhindern.« Rotlichtviertel im südkoreanischen Seoul.
Amnesty-Mitglieder aus der ganzen Welt trafen sich im August 2015 zur Internationalen Ratstagung (ICM) in Dublin.
Dort berieten sie unter anderem über eine Resolution zum
Schutz der Rechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern,
die am Ende der Tagung auch verabschiedet wurde. Im
Kern wird darin die vollständige Entkriminalisierung aller
Aspekte einvernehmlicher Sexarbeit gefordert. Auf Grundlage dieser Resolution wird nun der Internationale Vorstand eine Position ausarbeiten. Ein Gespräch mit Kate
Schuetze, Beraterin in Rechts- und Strategiefragen von
Amnesty International in London, zum Thema Sexarbeit.
In vielen deutschen Medien war im August zu hören und zu
lesen, dass Amnesty sich für die Entkriminalisierung von
Sexarbeit einsetzt. Das hat viele Menschen überrascht. Warum
ist Sexarbeit für Amnesty ein Thema?
Amnesty International ist eine Menschenrechtsorganisation
und hat als solche den Schutz der Rechte aller Menschen zum
Ziel. Wir setzen uns auch für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter
ein, da sie in hohem Maße Gewalt, Stigmatisierung und Diskriminierung erfahren. Weil ihre Arbeit als Straftat eingestuft wird,
haben sie oft keine Möglichkeit, rechtlich gegen die Verletzung
ihrer Rechte vorzugehen. Personen, die andere zu Sexarbeit
zwingen, müssen natürlich kriminalisiert werden, aber nicht
die Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter selbst. Viele von ihnen
44
üben ihre Tätigkeit aus, weil sie infolge von Ausgrenzung kaum
andere Möglichkeiten haben. Wenn man sie für ihre Arbeit bestraft, wird ihnen das nicht helfen. Im Gegenteil: Es macht es ihnen nur noch schwerer, eine alternative Tätigkeit zu finden, um
ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Stattdessen sollten Regierungen dafür sorgen, dass die wirtschaftlichen und sozialen
Rechte der Betroffenen geschützt werden und ihnen beispielsweise Sozialleistungen, Bildungschancen und Ausbildungsmöglichkeiten anbieten, damit sie ihre Tätigkeit aufgeben können,
wenn sie möchten. Amnesty International steht mit der Forderung nach einer Entkriminalisierung von Sexarbeit übrigens
nicht alleine da. Weitere Organisationen, die dies fordern, sind
unter anderem die Weltgesundheitsorganisation, UNAIDS, die
Internationale Arbeitsorganisation, die Weltkommission für
HIV und das Recht, der UNO-Sonderberichterstatter über das
Recht auf Gesundheit, Human Rights Watch, die Open Society
Foundations, die Global Alliance Against Traffic in Women sowie
Anti-Slavery International.
Bevor Amnesty diese Resolution verabschiedete, gab es in vielen Ländern Recherchen und Diskussionen. In welchem Maße
waren die Mitglieder an diesem Prozess beteiligt?
2013 wurde ein Entwurf ausgearbeitet, der auf Erkenntnissen aus der Wissenschaft und aus verschiedenen UNO-Einrichtungen sowie auf internationalen Menschenrechtsstandards be-
amnesty journal | 10-11/2015
Foto: Jean Chung / The New York Times / Redux / laif
ruhte. Daraufhin befragten Amnesty-Büros auf der ganzen Welt
die Mitglieder sowie weitere Akteure, ob sie der Ansicht sind,
dass Amnesty eine solche Position vertreten sollte. Außerdem
recherchierte Amnesty, wie die Realität von Sexarbeiterinnen
und Sexarbeitern in Argentinien, Hongkong, Norwegen und Papua-Neuguinea aussieht. Wir stellten fest, dass Regierung und
Polizei sich in diesen Ländern stärker auf das Verbot von Sexarbeit konzentrieren als darauf, die Betroffenen vor Gewalt und
anderen Misshandlungen zu schützen. Oft war die Polizei selbst
für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Der Positionsentwurf wurde dementsprechend ständig neu geprüft, überarbeitet und abgeändert. Auf der Internationalen Ratstagung von
Amnesty im August wurde dann eine Resolution verabschiedet
und der internationale Vorstand beauftragt, eine Position zum
Schutz der Rechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern auszuarbeiten.
War die Entscheidung innerhalb von Amnesty umstritten?
Die Position war nicht unumstritten, sie wird aber von dem
überwiegenden Teil der Amnesty-Bewegung und anderen Personen und Organisationen unterstützt. Wir haben im Zuge des
Diskussionsprozesses eine ganze Reihe von Themen miteinbezogen, z.B. Faktoren wie Gewalt gegen Frauen, wirtschaftliche
Not und verschiedene Arten von Diskriminierung, die zu Sexarbeit führen können. Darüber hinaus haben wir Maßnahmen
vorgeschlagen, um Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter vor Gewalt und Diskriminierung zu schützen und um sicherzustellen,
dass niemand aufgrund einer Notlage zu Sexarbeit gezwungen
ist.
Was bedeutet diese Entscheidung für Amnesty als Organisation?
Die Resolution ist ein positiver Schritt für die Organisation,
weil damit eine Position zum Schutz der Rechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern beschlossen wurde. Amnesty hat im
Namen der Menschenrechte schon häufiger couragierte und
nicht unumstrittene Positionen eingenommen, so z.B. bei der
Forderung nach der Abschaffung der Todesstrafe und der Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Mit dieser
Resolution wird diese Tradition fortgesetzt.
Kritiker sagen, damit mache sich Amnesty International zum
Fürsprecher von Zuhältern und Freiern und sei für Menschenhandel und Zwangsprostitution mitverantwortlich …
Bei dieser Resolution geht es einzig und allein darum, die
Rechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern zu schützen. In
den meisten Ländern wird nicht der direkte Verkauf von Sex
kriminalisiert, sondern all die Aktivitäten drumherum. Mit der
Resolution wird anerkannt, dass die Kriminalisierung den Betroffenen schadet. Sie verstärkt die Stigmatisierung und Diskriminierung, indem sie Razzien, Festnahmen, Schikanen und
Misshandlungen durch die Polizei Vorschub leistet. Sie führt
auch dazu, dass Maßnahmen, die Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter zu ihrer Sicherheit ergreifen möchten, kriminalisiert
werden. Außerdem werden dadurch die Möglichkeiten für Polizeischutz eingeschränkt und diejenigen, die Sexarbeiterinnen
und Sexarbeiter in ihren Rechten verletzen, gehen straflos aus.
Der Aspekt der Entkriminalisierung hat großes Aufsehen erregt.
In der Resolution sind aber auch eine ganze Reihe von Maßnahmen aufgelistet, die Staaten unserer Meinung nach ergreifen
müssen, um zu verhindern, dass Menschen zum Überleben auf
interView
|
kate schuetze
»Amnesty nahm häufig
couragierte Positionen ein.
Diese Tradition wird
fortgesetzt.«
Sexarbeit zurückgreifen müssen. Gesetze müssen so formuliert
sein, dass Ausbeutung und Misshandlung, z.B. durch Menschenhandel, verhindert und bestraft werden, statt Sexarbeiterinnen
und Sexarbeitern mit Strafen zu drohen und ihr Leben noch gefährlicher zu machen. Die Probleme Ausbeutung, Menschenhandel und geschlechtsspezifische Diskriminierung löst man
nicht durch die Kriminalisierung marginalisierter Personengruppen.
Wie sehen die nächsten Schritte aus?
Nun wird der internationale Vorstand eine Position zum
Schutz der Rechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern ausarbeiten, die auf der Wahrung der Menschenrechte und auf
anerkannten Erkenntnissen basiert. Die Amnesty-Mitglieder in
aller Welt haben vor der endgültigen Verabschiedung dieser
Position die Möglichkeit, den Entwurf erneut zu prüfen und
Rückmeldung zu geben.
Wie wird Amnesty International sich in Zukunft für Frauenrechte und gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution
einsetzen?
Mit dieser neuen Position wird Amnesty besser in der Lage
sein, für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter die Einhaltung der
Menschenrechte zu fordern. Auf der Internationalen Ratstagung
wurden auch die strategischen Ziele der Organisation für die
kommenden Jahre beschlossen. Dabei spielen die Förderung
der Frauenrechte und Geschlechtergleichstellung eine zentrale
Rolle. Darüber hinaus sollen Staaten dazu gebracht werden,
Schwangerschaftsabbrüche zu entkriminalisieren, besseren Zugang zu sexuellen und reproduktiven Gesundheitsleistungen zu
gewähren und Antidiskriminierungsgesetze zu verabschieden
und umzusetzen.
Interview: Maja Liebing
internationale ratstagung (icm)
Amnesty International ist basisdemokratisch organisiert:
Alle zwei Jahre treffen sich Amnesty-Mitglieder aus aller
Welt, um über die politische Ausrichtung der Menschenrechtsorganisation zu entscheiden. Das »International
Council Meeting« (ICM), auf Deutsch: »Internationale
Ratstagung«, ist das höchste beschlussfassende Gremium
von Amnesty auf internationaler Ebene. Am 7. August war
es wieder soweit: Rund 400 internationale Delegierte
reisten nach Dublin, um die Weichen für die zukünftige
Arbeit der Menschenrechtsorganisation zu stellen. 45
Im falschen Film
Der ukrainische Filmemacher Oleg Sentsov und der
Ökologe Aleksandr Kolchenko sind von einem russischen
Militärgericht wegen »terroristischer Aktivitäten« zu
langen Haftstrafen verurteilt worden. Die Zweifel an
der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens sind groß.
Von Stefan Wirner
Foto: AP / pa
Die Szenerie erinnert an einen Schauprozess: Angeklagte, die in
einem Eisenkäfig sitzen, Belastungszeugen, die in Handschellen
vorgeführt werden. Das Militärgericht im südrussischen Rostow
hat ein Exempel statuiert: Es verurteilte am 25. August den Filmregisseur Oleg Sentsov zu zwanzig Jahren Gefängnis und den
Umweltschützer Aleksandr Kolchenko zu zehn Jahren. Den beiden Männern, die von der Krim stammen, wurde vorgeworfen,
nach der russischen Besetzung der Halbinsel Brandanschläge
auf prorussische Gruppen in der Hauptstadt Simferopol verübt
zu haben. Sentsov soll überdies Anführer der extremen ukrainischen Organisation »Rechter Sektor« auf der Krim gewesen sein.
Oleg Sentsov und Aleksandr Kolchenko bestreiten die Terrorismusvorwürfe vehement. Sentsov behauptet überdies, in der
Haft gefoltert worden zu sein.
Die beiden Aktivisten wurden im Mai 2014 vom russischen
Geheimdienst FSB auf der Krim festgenommen. Sie hatten gegen die Besetzung der Halbinsel durch russische Truppen demonstriert – dies war offensichtlich der Anlass, gegen sie vorzugehen. Der Filmregisseur Oleg Sentsov war Teil der EuromaidanBewegung in Kiew, die Ende 2013/Anfang 2014 gegen Korrup-
tion, Vetternwirtschaft und die antiwestliche Haltung des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch protestierte. Er engagierte sich insbesondere in der sogenannten AutoMaidan-Bewegung, die während der Krimkrise versuchte, ukrainische Soldaten, die von prorussischen Einheiten blockiert worden waren,
mit Vorräten zu versorgen.
Nach ihrer Verhaftung wurden Sentsov und Kolchenko nach
Moskau gebracht, tagelang hatten sie keinen Kontakt zu ihren
Rechtsbeiständen. Schließlich wurden sie vor dem Militärgericht in Rostow angeklagt. Bogdan Ovcharuk, der Verantwortliche für Medien und Kommunikation von Amnesty International in der Ukraine, besuchte den Prozess und beschrieb ihn in
einem Artikel für das Nachrichtenmagazin »Newsweek«. Demnach saßen die Angeklagten in einem Eisenkäfig in einem winzigen Raum des Gerichts. Der Zeuge und ehemalige Mitaktivist
Aleksei Chirniy wurde in Handschellen vorgeführt und wirkte
sichtlich eingeschüchtert. Er war zuvor bereits zu sieben Jahren
Haft verurteilt worden, nachdem er sich für Brandstiftung
schuldig bekannt hatte. Sein Anwalt betont, dass er nur unter
Folter gestanden habe. Ein weiterer Belastungszeuge, der Anwalt
Gennadiy Afanasiev, widerrief vor Gericht seine Angaben und
sagte ebenfalls, sie unter Zwang gemacht zu haben.
Diese möglicherweise unter Folter erpressten Aussagen, Angaben eines Geheimdienstmitarbeiters und abstruse Indizien
wie der Besitz von Visitenkarten des ukrainischen Sportministers führten schließlich zur Verurteilung von Sentsov und Kolchenko. Das Urteil wurde international scharf kritisiert. Die Europäische Filmakademie forderte die Freilassung Sentsovs,
1.000 Filmschaffende unterzeichneten einen offenen Brief
an den russischen Präsidenten
Wladimir Putin. Auch russische Filmemacher setzen sich
für die beiden Inhaftierten ein.
»Das Ganze ist Teil der russischen Kriegspropaganda gegen die Ukraine und erinnert
an die Schauprozesse gegen
Dissidenten unter Stalin«, sagte Heather McGill, AmnestyExpertin für Europa und Zentralasien. »Das Gerichtsverfahren war in höchstem Maße
fehlerhaft und glaubwürdige
Folter- und Misshandlungsvorwürfe wurden vom Gericht ignoriert.« Amnesty International fordert die Eröffnung eines
fairen Prozesses vor einem zivilen Gericht oder andernfalls
die Freilassung von Sentsov
und Kolchenko.
Szenerie eines Schauprozesses. Regisseur Oleg Sentsov während der Urteilsverkündung. 46
Der Autor ist freier Journalist.
amnesty journal | 10-11/2015
die amnesty journal app –
fÜr android und ipad
Mobil und multimedial, mit ausführlichen
Bildstrecken und Videos, Podcasts und
Online-Aktionen für alle Tablets.
Die Amnesty Journal App ist kostenlos.
Sie finden sie im App Store und bei
Google Play unter »Amnesty Mag«.
Zeichnung: Mareike Engelke
Weitere Informationen:
www.amnesty.de/app
»Die härteste
Entscheidung
meines Lebens«
Zukunft ungewiss. Der libysche TV-Journalist Salah Zater im Hamburger Exil.
48
amnesty journal | 10-11/2015
Foto: Roland Magunia
Er hat in TV-Reportagen Korruption aufgedeckt, über
Waffenhändler, Kinderarbeit, Folter berichtet und die
Mächtigen in Libyen zur Verantwortung gezogen.
Mehrmals hat man ihm deshalb die Waffe an den Kopf
gehalten, ihn zusammengeschlagen. Schließlich blieb
dem Journalisten Salah Zater nur noch die Flucht. Weiterkämpfen will er trotzdem. Von Alexandra Mankarios
Zwei Mörder seien gefasst, erfährt Salah Zater aus Milizkreisen
in der libyschen Hauptstadt Tripolis. Als der Journalist nachfragt, ob die Milizionäre ihren Verdacht beweisen könnten, führt
man ihm die vermeintlichen Schuldigen vor. »Das waren ganz
junge Männer, vielleicht 18 Jahre alt«, erinnert sich Zater. »Das
Blut lief an ihnen herunter, sie konnten kaum stehen. Mir war
sofort klar, dass die Miliz sie gefoltert hatte.« Heimlich filmt Zater die Szene, die sich im Sommer vergangenen Jahres ereignete,
mit dem Handy. Nicht zum ersten Mal – der damals 28-jährige
Journalist war landesweit bekannt für seine mutigen Reportagen, in denen er Missstände und Menschenrechtsverletzungen
aufdeckte. Dieses Mal allerdings misslang das riskante Manöver.
Zater flog auf, wurde stundenlang festgehalten, bedroht, misshandelt. Zwar ließ man ihn schließlich laufen, aber die Gefahr
war nicht gebannt: Er erfuhr, dass der Anführer einer der berüchtigtsten Milizen nach ihm suchen ließ.
Gleichzeitig wandelte sich die Stimmung im Sender. Anstelle kritischer Beiträge sollte Zater einen Gefälligkeitsbericht über
eben den Milizchef produzieren, der hinter ihm her war. Zater
weigerte sich und entschloss sich zur Flucht. Nur seinen Pass
holte er noch aus seiner Wohnung, dann floh er nach Tunesien.
Reporter ohne Grenzen, Amnesty und die NGO »Committee to
Protect Journalists« (CPJ) unterstützten ihn in diesen dramatischen Tagen. »Alle ein bis zwei Stunden riefen meine Ansprechpartner an, um zu checken, ob es mir gut geht und ich in Sicherheit bin«, erzählt Zater.
Im Februar 2015 kam der Journalist in Deutschland an. Als
Gast der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte darf er ein
Jahr lang in der Hansestadt bleiben, sich erholen, Pläne schmieden. »Es war die härteste Entscheidung meines Lebens, Libyen
zu verlassen«, berichtet Zater. »Ich habe mich gefühlt, als würde
ich aufgeben. So vielen Menschen dort geschieht Unrecht. Sie
brauchen jemanden, der ihnen eine Stimme gibt.«
Aber nun sitzt er hier, in der kleinen Mansardenwohnung
unweit des Hamburger Schanzenviertels. Über dem schwarzen
Ledersofa hängen kleine Bilderrahmen mit Rosendarstellungen,
drei leere Buntglasvasen zieren die Fensterbank – so unpersönlich wie eine Beispielwohnung im schwedischen Möbelhaus,
eine Durchgangswohnung eben. Im Januar 2016 wird ein anderer politisch Verfolgter hier für ein Jahr einziehen. Während Zater Kaffee kocht, erzählt er im Plauderton von einem Erlebnis
am Morgen im Park. Eigentlich habe er nur ein wenig abschalten wollen. Aber dann habe er eine junge Frau gesehen, die im
Gras saß und weinte. Erst sei er unsicher gewesen, ob es in
Deutschland angemessen sei, sie einfach anzusprechen, dann
habe er es aber doch gewagt. 20 Minuten lang schüttet sie ihm
ihr Herz aus, erzählt von Problemen im Job. Zater hört zu, tröstet, spricht Mut zu. Dann versiegen die Tränen. »Nur 20 Minuten! Das reicht manchmal schon aus, um etwas zu verändern!«
ruft Zater leidenschaftlich. So als ließe sich mit genug Zeit und
Entschlossenheit eigentlich auch die ganze Welt retten.
Nicht zusehen, sondern eingreifen – genau diese Haltung ist
es, die dem jungen Libyer erst eine steile TV-Karriere und dann
libyen
Misshandlungen, Morddrohungen und Flucht eingebracht hat.
Über einen Freund sei er 2011, kurz nach der Revolution, mit
Fernsehleuten in Kontakt gekommen, erzählt er. Die Journalisten witterten Talent in Zater, boten dem 23-Jährigen eine zehntägige Kurzausbildung beim Fernsehen an. Er nahm an. »Nach
drei Tagen habe ich meinem Chef gesagt, dass ich bereit sei zu
arbeiten. Ich bräuchte die restliche Ausbildung nicht«, erinnert
er sich. »Das war natürlich eine totale Fehleinschätzung, aber
ich wollte unbedingt sofort loslegen.« Schnell erarbeitete sich
Zater eine feste Position bei den Privatsendern Al-Aseema und
Al-Nabaa, indem er tat, was sich in der chaotischen Bürgerkriegslage im Land sonst kaum jemand traute: Er recherchierte
investigativ. Vor der Kamera konfrontierte er Drogenfahnder damit, dass Haschischkonsumenten berichteten, wie sie ihre Drogen bei der Polizei kauften. Als das Arbeitsministerium behauptete, in Libyen existiere keine Kinderarbeit, stellte er in einer Reportage Zehnjährige vor, die eben doch arbeiten. Es dauerte
nicht lange, bis Zater damit sowohl bei der Regierung aneckte
als auch bei den bewaffneten Milizen, die große Teile des Landes
kontrollieren und für Hunderte Entführungen und Morde verantwortlich sind.
An der politischen Gesamtlage kann auch Zater mit seiner
Arbeit wenig ändern. Aber an der Lebenssituation einzelner
Menschen schon: »Das Schönste an meiner Arbeit war, wenn
sich Betroffene nach meinem Bericht gemeldet und bedankt haben. Eine obdachlose Familie etwa, die ein neues Zuhause gefunden hat, ein Kranker, der endlich eine Behandlung erhielt.
Ich bin überzeugt, dass man mit Worten viel verändern kann.«
Mit seinen Worten kämpft er auch von Deutschland aus weiter, in Vorträgen, an Universitäten, in sozialen Netzwerken, im
Freundeskreis. Wer ihm zuhört, merkt schnell: Er kann gar nicht
anders. »Manchmal frage ich mich, wieso ich das alles tue«, sagt
Zater leise. »Ich bin doch noch jung, ich sollte mein Leben genießen, reisen, es mir gut gehen lassen. Aber ich muss ständig daran denken, wie vielen Menschen es in Libyen und anderswo
schlecht geht.« Also engagiert er sich, trifft sich mit Flüchtlingshelfern oder versucht, deutsche Journalistinnen und Journalisten zum Einsatz für Gerechtigkeit und Menschenrechte zu bewegen.
Nur sich selbst kann der junge Libyer kaum helfen. Die politische Lage in seinem Land hat auch aus der Ferne ihren Schrecken nicht verloren. Im Juni haben Kämpfer des Islamischen
Staats bei Gefechten seinen Bruder erschossen. Seine Zukunft:
völlig ungewiss. Zaters Visum läuft im Januar ab, was danach
kommt, weiß er nicht. Nach Libyen kann er vorerst nicht zurückkehren. »Das ist im Moment unmöglich. Die Gefahr ist für mich
noch größer geworden, seit ich hier bin. Sie wissen dort, dass ich
hier alles erzählt habe, über die Milizen, den Islamischen Staat,
die Politiker. Sie würden mich nicht in Frieden leben lassen.« Einer Sache aber ist er sich sicher: »Wo immer ich ab Januar lebe,
ich werde weiter für die Wahrheit und die Menschenrechte
kämpfen.«
Die Autorin ist freie Journalistin.
»Manchmal frage ich mich,
wieso ich das alles tue.«
49
KULTUR
Imagination
und grausame
Vergangenheit
»Meinem Vater wurde nicht erlaubt, außerhalb des Hauses zu arbeiten. Wenn sie ihn gesehen hätten, hätten sie ihn zu Tode geprügelt. Meine Mutter kümmerte
Er wurde 1965 festgenommen und inhaftiert. Kina übernahm die wirtschaftliche Verantwortung für ihre Familie. Heute arbeitet sie als Landarbeiterin und wird von ih
50
amnesty journal | 10-11/2015
Indonesien ist in
diesem Jahr Gastland
der Frankfurter
Buchmesse. Gleichzeitig
jähren sich die Massaker,
denen vor 50 Jahren
Hunderttausende reale und
vermeintliche Kommunisten
in dem südostasiatischen Land
zum Opfer fielen.
Von Maik Söhler (Text),
mit Fotos von Anne-Cécile Esteve
sich um das Baby. Ich war 15 Jahre alt.« Kinas Vater stand unter Verdacht, mit der Kommunistischen Partei Indonesiens (PKI) in Verbindung zu stehen. hren Söhnen unterstützt.
buchmesse
51
Foto: Anne-Cecile Esteve / AJAR
»Ich verkaufe Saté und Curry im
Prambanan Markt. Meine finanziellen
Mittel reichen gerade so zum Leben.«
Sumilah war 14 Jahre alt, als sie
1965 mit etwa 50 anderen Personen
aus benachbarten Dörfern verhaftet
wurde. Später erfuhr sie, dass sie mit
einer anderen verwechselt wurde.
E
s ist ein kleines Video, das auf der Webseite der Frankfurter Buchmesse für Indonesien wirbt, den diesjährigen Ehrengast: Aus Buchseiten werden Wellen, Bootsfahrer und ein Wal konkurrieren in einer farbenfrohen
Welt um Dynamik, während ein Bonmot aus Goethes »West-östlichem Diwan« eingeblendet wird: »Wer das Dichten will verstehen, muss ins Land der Dichtung gehen«. Bunte Vögel tauchen
auf – und werden plötzlich von Dunkelheit geschluckt, in der
sich zahlreiche Augen bewegen.
»Indonesien – 17.000 Inseln der Imagination«, lautet das
Motto, unter dem sich das Land vom 14. bis zum 18. Oktober in
Frankfurt präsentiert. Das ist eine schöne Botschaft. Überlassen
wir aber die Imagination den Dichtern und wenden uns der
Menschenrechtslage in dem asiatischen Inselstaat zu, interpretiert sich die plötzliche Dunkelheit im Buchmessen-Werbevideo
wie von selbst.
Im »Amnesty Report 2014/15« ist zu lesen, dass indonesischen Sicherheitskräften »Folter und andere Misshandlungen«
vorgeworfen werden. Es gibt »mindestens 60 gewaltlose politische Gefangene«. Religiöse Minderheiten werden »weiterhin
eingeschüchtert und angegriffen«. Die UNO-Sonderberichterstatterin über angemessenes Wohnen äußerte sich 2014 besorgt
über die »erzwungene Umsiedlung religiöser Minderheiten«.
Auf der Grundlage sogenannter »Blasphemie-Gesetze« befinden
sich mindestens neun Personen in Polizeigewahrsam oder im
Gefängnis. Wegen Vergehen gegen Scharia-Vorschriften wurden
2014 mindestens 76 Personen mit Stockschlägen bestraft. Auch
gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen und der »Austausch
von Intimitäten zwischen unverheirateten Paaren« können mit
Prügel geahndet werden. In mindestens 140 Fällen sind Todesurteile anhängig, vollstreckt wurde die Todesstrafe im Jahr 2014
allerdings nicht.
52
Soweit zu den nüchternen Fakten des Amnesty-Reports. Neben alldem ragt ein weiterer Satz aus dem Bericht hervor: Es
gebe »kaum Fortschritte bei der Gewährleistung von Wahrheitsfindung, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Opfer
von Menschenrechtsverletzungen«. Dabei rückt – neben Menschenrechtsverletzungen der neunziger und nuller Jahre – das
wohl düsterste Kapitel der indonesischen Geschichte in den
Mittelpunkt. Die systematische Verfolgung tatsächlicher und
vermeintlicher Kommunisten ab Oktober 1965 durch General
Suharto und seine Verbündeten.
Der neue Sammelband »Indonesien 1965ff.« liefert zum 50.
Jahrestag des Auftakts zum Massaker eine Bestandsaufnahme.
Er versammelt Texte von indonesischen Autorinnen und Autoren. Herausgeberin Anett Keller schreibt im Vorwort, dass Schätzungen über die Anzahl der Todesopfer von 500.000 bis zu drei
Millionen reichen. »Weitere hunderttausende Menschen wurden in Gefängnisse und Arbeitslager gesperrt, wo sie zum Teil
mehr als zehn Jahre verbrachten, ohne dass ihnen je ein juristischer Prozess gemacht worden wäre.«
Der Historiker Baskara T. Wardaya SJ erklärt, was den Massenmorden vorausging. Der Auslöser war die Ermordung von
sechs Generälen und einem Leutnant am 1. Oktober 1965. Als Täter gelten andere Militärs, die später aussagten, sie hätten einen
Putsch rechter Generäle gegen den damaligen Präsidenten Sukarno verhindern wollen. Umgehend zog General Suharto die
Macht an sich, beließ aber Sukarno anfangs formell und ohne
Machtbefugnisse im Amt. Suharto bezichtigte die Kommunistische Partei Indonesiens (PKI) der Täterschaft und ließ Armee,
Polizei, Geheimdienst und Milizen losschlagen – gegen die PKI
und alle Organisationen, die in seinen Augen PKI-nah waren.
Auch die Unterstützer Sukarnos wurden verfolgt. Die USA und
Großbritannien unterstützten Suharto indirekt.
amnesty journal | 10-11/2015
Foto: Anne-Cecile Esteve / AJAR
»Als ich geschlagen wurde, habe ich
nicht geweint, aber in Wirogunan.
Warum? Der Dreck war unerträglich. Der
Gestank. Deshalb musste ich weinen.«
Sri Wahyuningsih war Künstlerin,
Sängerin, Tänzerin und Schauspielerin.
1965 wurde sie festgenommen und im
Gefängnis gefoltert.
In der Folge kam es monatelang in fast allen Teilen des Landes zu Morden, Folter und Menschenrechtsverletzungen in ungeahntem Ausmaß, jegliche Opposition wurde zerschlagen.
Stanley Adi Prasetyo, der ehemalige Vorsitzende der Nationalen
Menschenrechtskommission, schreibt, auch systematische sexuelle Gewalt sei dokumentiert. Vergewaltigung und sexuelle
Sklaverei als Waffe, Strafe, Folter und Demütigung zugleich. Die
Kommission gelangte 2012 zur Schlussfolgerung, dass es Anfangsbeweise für Verbrechen gegen die Menschlichkeit gebe.
Die Historikerin I Gusti Agung Ayu Raith nimmt die Verfolgung von Frauen genauer in den Blick. Die damals bedeutendste
Frauenorganisation »Gerwani« gefährdete aus der Sicht Suhartos die »Sicherheit von Staat und Volk«; daher sei »jede Frau, die
sich politisch engagiert, erst recht in linken Zusammenhängen,
eine Gefahr, die das indonesische Volk in den Abgrund des Verderbens führe«. Das von Suharto ausgerufene Entwicklungsmodell der »Neuen Ordnung« habe Indonesien auf Jahrzehnte geprägt: »Eine feudale, paternalistische Kultur und einen unbedingten Gehorsam erzwingender Militarismus gingen fortan
eine Symbiose ein.«
Oei Hiem Hwie, einer der politisch Verfolgten jener Zeit, gibt
zu Protokoll: »Das Zeitalter der Dummheit war gekommen. (…)
Ich sah, wie der Brantas-Fluss sich vom Blut der Ermordeten rot
färbte. Es gab kein Recht und keine Gerechtigkeit.« Selbst nach
seiner Freilassung wurden ihm Bürgerrechte verwehrt. »In meinem Ausweis prangte der Stempelvermerk ET (eks tapol, ehemaliger politischer Häftling).« Damit einher gingen ein regelmäßiger Meldezwang und staatliche Überwachung. Erst im Jahr 2001
erhielt er einen regulären Pass.
Bis zum Rücktritt Suhartos 1998 waren öffentliche Debatten
über die Repression nach 1965 verboten, es herrschte eine verordnete Geschichtsschreibung vor. Der Philosoph Wijaya Her-
buchmesse
lambang wendet sich deswegen der Rolle der Medien, des Films
und der Literatur zu. Es seien über Jahre Hetzkampagnen gestartet worden, die Indoktrination habe viele Bereiche des Lebens
umfasst und wirke teilweise bis heute nach. »Es ist bequemer
und angenehmer, mit einer altbekannten Lüge zu leben, als sich
einer beunruhigenden neuen Perspektive zu öffnen«, lautet
sein Fazit angesichts der vielen Kollaborateure und Profiteure
des Massakers.
Doch die Zeitzeugen, Wissenschaftler und Menschenrechtler
in »Indonesien 1965ff.« schauen nicht nur zurück. YPKP 65, eine
Stiftung zur Forschung zu den Opfern der Morde von 1965/66,
plant zum 50. Jahrestag des Beginns der Massenmorde und der
damit verbundenen Straflosigkeit ein Volkstribunal in Den
Haag. Ihr Vorsitzender Bedjo Untung schreibt: »Bleibt zu hoffen,
dass uns noch genug Zeit gegeben ist, um das Ende der Straflosigkeit zu erleben.«
Und so könnte auch die Frankfurter Buchmesse einen guten
Anlass bieten, staatliche und halbstaatliche Kulturfunktionäre
Indonesiens mit der Vergangenheit zu konfrontieren. Einer Vergangenheit, die keine Imagination ist, sondern zu den dunklen
Realitäten des Landes gehört.
Frankfurter Buchmesse wirbt für Indonesien: www.buchmesse.de/de/ehrengast/
Werbevideo für Indonesien auf der Buchmesse:
www.youtube.com/watch?t=90&v=A_93e7X_I-k
Amnesty Report 2014/15: Indonesien www.amnesty.de/jahresbericht/2015/indonesien
Anett Keller (Hg.): Indonesien 1965ff. Die Gegenwart eines
Massenmordes. Ein politisches Lesebuch. Regiospectra,
Berlin 2015. 214 Seiten, 19,90 Euro.
53
Foto: Anne-Cecile Esteve / AJAR
»Mein Mann wurde von Soldaten,
seinen eigenen Freunden, abgeholt und
zum Büro der Dorfverwaltung gebracht.
Er wurde geschlagen, sein Rücken
wurde zertreten bis er überall Wunden
hatte.«
Lasinems Mann wurde 1969 festgenommen und gefoltert und schließlich auf
die Insel Buru geschickt. Lasinem
musste sich allein um die Kinder
kümmern, die damals erst drei Jahre
und ein Jahr alt waren.
Romane
rühren an Tabus
70 indonesische Autorinnen und Autoren stellen die
Literatur ihres Landes auf der Frankfurter Buchmesse
vor. Mit im Gepäck: Romane, die sich kritisch mit dem
Suharto-Regime (1965–98) auseinandersetzen.
Von Wera Reusch
D
a stehen sie, blutend, verwundet. Da sind die Modellfiguren, von Menschen angeordnet und in Szene gesetzt
wie überdimensionierte Playmobil-Figuren. (…) Es
sieht so aus, als führten die kleinen Figuren hinter der
Glasscheibe ein Theaterstück auf. Da wird jemand im Wohnzimmer stehend von einer Kugel getroffen. Ein anderer sitzt auf einem Stuhl und wird gefoltert.« Im Armee-Museum in Jakarta illustrieren großflächige Dioramen die offizielle Version der indonesischen Geschichte: Demnach überwältigten Schergen der
Kommunistischen Partei Indonesiens im Jahr 1965 mehrere Generäle, folterten und ermordeten sie.
54
Die junge Filmemacherin Lintang Utara besucht das Museum 1998 und kann sich über diese Darstellung nur wundern,
denn die in Paris geborene Tochter eines indonesischen Exilanten kennt den hier verzerrt dargestellten Teil der Geschichte nur
zu gut: 1965 ergriff General Suharto nach einem angeblich kommunistischen Putschversuch die Macht. In der Folge kam es zu
Säuberungsaktionen ungekannten Ausmaßes. Unzählige Menschen wurden wegen ihrer (vermeintlich) linken Gesinnung inhaftiert, gefoltert und getötet. Wie viele Menschen dem Massenmord zum Opfer fielen, ist noch immer unbekannt – die Schätzungen reichen von 500.000 bis zu drei Millionen Toten.
Lintang Utara ist in das Heimatland ihres Vaters gereist, um
in einem Film »die Dinge offenzulegen, die in der indonesischen Geschichtsschreibung bislang unerwähnt blieben« und
»jenen Menschen den Raum zum Sprechen zu geben, deren
Stimmen stets zum Schweigen gebracht worden waren«. Ihre
Recherchen gestalten sich jedoch schwieriger als erwartet –
denn einige Gesprächspartner können oder wollen nicht reden.
Außerdem gärt es in Jakarta: Es gibt Studentendemonstrationen,
die schließlich zum Rücktritt Suhartos führen.
amnesty journal | 10-11/2015
Lintang Utara ist eine Protagonistin des Romans »Pulang
(Heimkehr nach Jakarta)« von Leila S. Chudori. Die 1962 geborene Schriftstellerin verfolgt ein ähnliches Projekt wie ihre Romanfigur, indem sie verdrängte Aspekte in den Vordergrund
rückt und die Ära der Suharto-Diktatur aus der Perspektive der
politisch Verfolgten erzählt. Ihr Roman setzt 1965 ein und schildert die Lebenswege von fünf Journalisten. Während vier von ihnen der Repression zufällig entkommen und schließlich in Paris
im Exil landen, wird der fünfte in Indonesien hingerichtet. Den
vier Journalisten in Frankreich entzieht die indonesische Botschaft die Pässe – sie können mehr als dreißig Jahre lang nicht
zurück – und schaffen sich eine zweite Heimat, indem sie in Paris ein indonesisches Restaurant eröffnen. Sie versuchen zwar
all die Jahre, ihren Freunden und Familien in Indonesien zu helfen, die dort unter politischer Verfolgung leiden. Ein direkter
Kontakt ist aber erst der Generation ihrer Söhne und Töchter
wieder möglich – nach dem Ende des Suharto-Regimes.
Die Vielzahl der Figuren sowie zahlreiche Zeitsprünge und
Perspektivwechsel lassen den Roman zwar zunächst etwas unübersichtlich erscheinen. Doch gelingt es Chudori hervorragend, ein lebhaftes Bild des Exillebens zu zeichnen und die drastischen Auswirkungen der von Suharto proklamierten »Neuen
Ordnung« auf die Betroffenen und ihre Familien zu schildern.
»Pulang« sei ein »Gegengift« zur offiziellen Geschichtsschreibung, urteilte eine Kritikerin, nachdem der Roman 2012 in Indonesien erschienen war.
Die erste Autorin, die es wagte, sich in literarischer Form mit
der Militärdiktatur zu befassen, war Ayu Utami. Nachdem die
indonesische Regierung 1994 mehrere wichtige Zeitungen verboten hatte, wandte sich die Journalistin der Literatur zu. Ihr
Erstlingsroman »Saman« erschien im Original bereits 1998 –
kurz vor dem Rücktritt Suhartos – und erregte großes Aufsehen.
buchmesse
Foto: Anne-Cecile Esteve / AJAR
»Vor meiner Ankunft hatte ich gedacht, dass ich ein
schönes Leben haben würde. Es stellte sich aber
heraus, dass ich in einen Dschungel geraten war …«
Nachdem Rodiahs Vater verhaftet worden war, kämpften sie und ihre Familie schwer, um überhaupt satt zu
werden. 1972, als sie 13 Jahre alt war, wurden auch
sie und der Rest der Familie zu ihrem Vater auf die
Insel Buru geschickt. Sie und die anderen Frauen
lebten in Angst vor den Wärtern.
Wenige Jahre später veröffentlichte Ayu Utami mit »Larung«
eine Fortsetzung. Der Doppelroman spielt in den letzten Jahren
der Diktatur und schildert den Werdegang des katholischen
Priesters Saman, der in einer bäuerlichen Gemeinde im Süden
Sumatras lebt. Er versucht dort, die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu verbessern und gerät in Konflikt mit der mächtigen Palmölindustrie, die sich des Landes bemächtigen will. Die
Situation eskaliert, als Unbekannte das Dorf überfallen und
niederbrennen, die Frauen vergewaltigen und Saman verschleppen und foltern: »Er solle keine Märchen erzählen, meinten sie.
Es sei doch klar, er habe bei den Bauern eine Machtposition aufbauen und die Regierung stürzen wollen. Das solle er endlich gestehen.« Der Priester schafft es schließlich, dem Folterkeller zu
entfliehen, und mithilfe einer Menschenrechtsorganisation
nach New York zu gelangen. Die Ereignisse lassen Saman jedoch
an seinem Priesteramt zweifeln, zumal er sich in eine indonesische Menschenrechtsanwältin verliebt.
Mutig thematisiert Ayu Utami Folter und die Verfolgung zivilgesellschaftlicher Aktivisten während der Diktatur – auch Larung, der Protagonist des zweiten Romans, gehört zur Demokratiebewegung der neunziger Jahre und sieht sich schließlich zur
»the act of liVing«
Die Fotos auf den Seiten 50 bis 56 von der französischen
Fotografin Anne-Cecile Esteve stammen aus der Ausstellung »The Act of Living«, die von Watch Indonesia e.V.
und Asia Justice and Rights (AJAR) organisiert wurde. Sie ist in verschiedenen deutschen Städten zu sehen. Infos: www.watchindonesia.org und http://asia-ajar.org
55
Flucht aus Indonesien gezwungen. Die Schriftstellerin beweist
zudem Courage, indem sie ungewohnt offen über Geschlechterrollen und Sexualität spricht. Sowohl in »Saman« als auch in
»Larung« sind Frauenfiguren von zentraler Bedeutung: Da gibt
es die Anwältin und ihre Freundinnen, die der Mittelschicht angehören. Sie sind gut ausgebildet, weltläufig und auf der Suche
nach Selbstbestimmung und (sexueller) Erfüllung. Und es gibt
die alten, weisen Frauen, die über traditionelles Wissen und magische Fähigkeiten verfügen.
Die beiden Romane der 1968 geborenen Schriftstellerin sind
nicht ganz einfach zu lesen. Ayu Utami verzichtet auf eine geschlossene Form und reiht die Lebens- und Liebesgeschichten
ihrer Figuren eher assoziativ aneinander. Dabei springt die Autorin nicht nur zwischen den Zeitebenen hin und her, sondern
auch zwischen den indonesischen Schauplätzen und New York.
Ihre ersten Bücher seien noch ziemlich unstrukturiert, räumte
Ayu Utami in der »taz« ein: »Das war meine Reaktion auf die
vielen Zwänge, denen wir zur Zeit der ›Neuen Ordnung‹ ausgesetzt waren.« Man kann sich unschwer vorstellen, dass Utamis
vitaler Stil und ihre Lust, an Tabus zu rühren, in Indonesien für
Aufsehen sorgte.
Es sind vor allem Frauen, die sich mit den dunklen Kapiteln
der indonesischen Geschichte beschäftigen und das Schweigen
brechen. So auch die Journalistin Laksmi Pamuntjak in ihrem
Roman »Alle Farben Rot«. Er schildert die Geschichte einer Frau,
die sich nach Suhartos Sturz auf die Suche nach ihrem ehemaligen Geliebten macht. Sie hatte ihn während der politischen Wirren 1965 aus den Augen verloren und später erfahren, dass er
auf die Gefangeneninsel Buru verschleppt worden war.
Bevor Leila S. Chudori, Ayu Utami und Laksmi Pamuntjak,
diese verdrängten Geschichten in literarischer Form verarbeiteten, erforschten sie zunächst die historischen Fakten und be-
56
Foto: Anne-Cecile Esteve / AJAR
»Meine Aufgabe
ist, die Wahrheit
auszusprechen,
damit sich diese
bittere Geschichte
nicht wiederholt.«
Migelina wurde
1965 gemeinsam
mit ihren Eltern
und ihren Geschwistern inhaftiert. Heute verdient sie ihren
Lebensunterhalt
mit Nähen und
Kuchenverkauf.
fragten Zeitzeugen. Chudori recherchierte sechs Jahre lang für
ihren Roman »Pulang«. So gibt es zum Beispiel für das geschilderte Restaurant in Paris ein reales Vorbild: Es wurde 1982 von
indonesischen Exilanten als Genossenschaft gegründet und
existiert noch heute. Auch die Verfolgung von Journalisten unter Suharto beruht auf tatsächlichen Ereignissen.
Indonesien steht fünfzig Jahre nach den Massakern noch
ganz am Anfang, was die Aufklärung, Strafverfolgung und
Wiedergutmachung der Völkerrechtsverbrechen betrifft. Die Literatur des Landes bietet jedoch eine gute Möglichkeit, sich mit
der totgeschwiegenen Geschichte zu befassen. »Ein Schriftsteller sollte nicht nachlassen, seine Leser daran zu erinnern, welche schrecklichen Dinge in der Vergangenheit geschehen sind«,
sagte Ayu Utami in einem Interview mit dem Deutschlandradio
Kultur. »Wir müssen uns dem Zurückliegenden stellen, damit es
sich nicht wiederholt.«
Leila S. Chudori: Pulang (Heimkehr nach Jakarta). Roman. Aus dem
I ndonesischen von Sabine Müller, Weidle Verlag, Bonn 2015. 450 Seiten,
25 Euro. Ayu Utami: Saman. Roman. Aus dem Indo nesischen von Peter Sternagel. Horlemann
Verlag, Angermünde 2015. 240 Seiten,
11,90 Euro.
Ayu Utami: Larung. Roman. Aus dem Indo nesischen von Peter Sternagel. Horlemann
Verlag, Angermünde 2015. 328 Seiten,
19,90 Euro. Laksmi Pamuntjak: Alle Farben Rot. Roman.
Aus dem Indonesischen von Martina
Heinschke. Ullstein Verlag, Berlin 2015.
672 Seiten, 24 Euro.
amnesty journal | 10-11/2015
Monolog mit China
Kinzelbachs englischsprachige Dissertation ist in erster Linie
eine wissenschaftliche Publikation, doch ist sie auch für alle, die
sich mit der europäischen bzw. deutschen Menschenrechtspolitik zu China nach 1989 beschäftigen, eine sehr spannende
Lektüre. Nicht zuletzt deshalb, weil die Autorin viele Daten zusammengetragen hat, die es dem kritischen Beobachter erlauben, viele Informationslücken zumindest teilweise zu schließen.
Damit ist ein Urteil über diese Politik auf einer viel
solideren Grundlage möglich.
Was hat der sogenannte »Menschenrechtsdialog«
mit China gebracht? Diese Frage stellte sich Katrin
Kinzelbach in ihrer Dissertation »The EU’s Human
Rights Dialogue with China«. Eine Pflichtlektüre auf
hohem Niveau. Von Dirk Pleiter
N
buchmesse
|
china
Katrin Kinzelbach: The EU’s Human Rights Dialogue with
China. Verlag Routledge Chapman & Hall, New York 2014.
229 Seiten, 127,32 Euro.
Foto: Jens Liebchen / Amnesty
achdem die chinesische Regierung 1989 die überwiegend friedlichen Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens mit militärischen Mitteln blutig
niedergeschlagen hatte, schränkten viele (west-)europäische Staaten ihre Beziehungen mit der Volksrepublik China
stark ein. Es dauerte jedoch nicht lange, bis eine Diskussion
darüber begann, wie sich die Beziehungen wieder normalisieren ließen. Von Anfang an spielten dabei auch Ideen eine Rolle,
die Dialoge mit der chinesischen Regierung über Menschenrechtsfragen vorsahen. So definierte zum Beispiel die EU-Kommission 1995 in einer Mitteilung zu ihrer China-Politik den
Menschenrechtsdialog als zentrales Mittel ihrer Menschenrechtspolitik.
Mehr als zehn Jahre später begann Katrin Kinzelbach als
Doktorandin am Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte damit, diesen Dialog auszuwerten. Ihre 2010 eingereichte Dissertation ist nun in überarbeiteter und aktualisierter Form als
Buch erschienen. Um die Entwicklung dieses Dialogs von 1995
bis 2010 nachzeichnen zu können, hat die Autorin zahlreiche
Quellen erschlossen und systematisch ausgewertet. Der Menschenrechtsdialog war von Anfang an alles andere als transparent – dies war auch ein Kritikpunkt, den beispielsweise Amnesty International bereits Ende der neunziger Jahre geäußert hat.
Um überhaupt eine hinreichende Informationsgrundlage für
die Auswertung des Dialogs zu haben, interviewte Kinzelbach an
die 70 Experten. Dazu zählen sowohl am Dialog beteiligte Regierungsvertreter als auch Wissenschaftler und Vertreter von
NGOs.
Das Buch zeichnet die Entwicklung des Dialogs in sieben
Phasen nach. Es beginnt mit der Zeit von 1995 bis 1997, als sich
die EU-Kommission davon abwandte, die Menschenrechtssituation in der Volksrepublik China offen zu kritisieren, und
stattdessen auf stille Diplomatie setzte. Wie Kinzelbach nachweist, war dies auch das Ergebnis eines fehlenden Konsenses
unter den EU-Mitgliedsländern, sodass das Angebot der chinesischen Regierung für einen Menschenrechtsdialog gerade recht
kam.
Immer wieder stellt Kinzelbach die Frage, was der Menschenrechtsdialog an der Situation in China geändert hat. Dabei
hinterfragt sie insbesondere die von den Akteuren genannten
Erfolge. Während sie den beteiligten Europäern für die erste Zeit
noch zugutehält, konkrete Ergebnisse erzielen zu wollen, kam
dieser Ansatz später abhanden. Sie zitiert einen nicht namentlich genannten Gesprächspartner mit den Worten: »Bei unserem Menschenrechtsdialog mit China ging es nicht um Ergebnisse, wir haben uns damit lediglich ein Forum geschaffen, um
Anliegen formulieren zu können.«
Gold für Menschenrechte. Amnesty-Kampagne zur Olympiade in China.
57
»Gerechtigkeit
ist möglich«
Sie bezeichnen sich als Künstler, Philosoph und Kriegsreporter, Sie machen Theater, drehen Filme, schreiben Bücher. Was
treibt Sie an?
Ich denke, es ist ganz klassisch das Wissenwollen. Beim
»Kongo Tribunal« etwa: Was passiert im Ostkongo? Warum starben dort in den vergangenen 20 Jahren sechs Millionen Menschen? Was sind die Gründe dafür? Und dann kommt natürlich
so eine Art Abenteuerlust dazu – im Fall des »Kongo Tribunal«
eigentlich die schiere Unmöglichkeit, in einem Bürgerkriegsgebiet wie dem Ostkongo ein Tribunal mit Richtern aus Den Haag,
mit einer Jury aus Regierung und Opposition, einen Dreh mit
sieben Kameras und 1.000 Statisten auf die Beine zu stellen …
Was uns gelungen ist! Und schließlich bin ich ja auch noch
Künstler, der versucht, gute Filme, gute Stücke und gute Bücher
zu machen.
Warum die Demokratische Republik Kongo?
Zentralafrika ist ein Gebiet, mit dem ich mich seit Längerem
befasse, das begann mit »Hate Radio« über den Genozid in Ruanda. Der Krieg im Ostkongo ist ein Folgekonflikt dieses Genozids, das war also sozusagen ein logisches Anschlussprojekt.
Inwieweit haben Sie sich bei Ihrem »Kongo Tribunal« an Bertrand Russels berühmtem Vietnam-Tribunal orientiert, das
sich mit US-amerikanischen Kriegsverbrechen im Vietnamkrieg beschäftigte?
»Das Kongo Tribunal« steht in direkter Tradition des Vietnam-Tribunals, was seine beabsichtigte politische Wirksamkeit
angeht, aber auch sein ganz bewusster Verzicht auf institutionelle Verankerung. Sartre, damals ein Mitstreiter Russels,
schrieb über das Vietnam-Tribunal: »Seine absolute Machtlosigkeit begründet seine Universalität.« Das gilt auch für unser »Kongo Tribunal«. Darüber hinaus ist die Mischung aus
internationalem und nationalem Recht typisch für das Tribunal, die Form des Volksgerichts mit Jury und Publikum. Anders
als Sartre haben wir das Tribunal allerdings zunächst auch vor
Ort abgehalten – das scheint mir das große Versäumnis des Vietnam-Tribunals und auch der folgenden Russell-Tribunale zu
sein.
58
Wie verstehen Sie Ihre Rolle in diesem Tribunal: Sind Sie
Staatsanwalt, Zeuge oder Richter?
Ich verstehe mich als Moderator, der die Zeugen zusammenbringt und – gemeinsam mit den beteiligten Richtern und Anwälten – die Gerichtsordnung ausarbeitet. Zudem bin ich Regisseur, der einen Film über diesen Konflikt dreht, und in dieser
Hinsicht bin ich natürlich, im übertragenen Sinn, auch Zeuge.
Richter oder Staatsanwalt bin ich, über meine persönliche Meinung hinaus, keinesfalls. Eher, wie alle westlichen Zuschauer,
Mit-Angeklagter.
Auf der Bühne im Ostkongo und in Berlin standen Akteure aus
dem realen, politischen Leben: Anwälte, Verfassungsrichter,
Zeugen, Lokalpolitiker, Polizisten. Beeinflusst die Auswahl der
Beteiligten bereits den möglichen Ausgang eines fiktiven Prozesses?
Im Gegensatz zu vielen anderen dokumentarisch arbeitenden Regisseuren ist in meiner Ästhetik ja normalerweise die
Arbeit mit Schauspielern zentral. Eine Ausnahme bilden meine
drei Prozessprojekte: »Die Zürcher Prozesse«, »Die Moskauer
Prozesse« und nun »Das Kongo Tribunal«. Was diese Projekte
angeht, suche ich natürlich bewusst »gute Darsteller«: also Anwälte oder Zeugen, die ihre Sicht der Dinge gut und überzeugend darstellen können und die durch ihre »Performance« auch
Einfluss auf die Jury nehmen können. Und natürlich ist ein Prozess oder Tribunal schon per se dramatisch – vielleicht sogar die
ursprünglichste Theaterform überhaupt: Zwei Ideen, zwei Sichtweisen einer Sache treten gegeneinander an – einer wird gewinnen. Was mich aber eigentlich interessiert, ist nicht der Urteilsspruch, sondern das, was während und in der Verhandlung passiert, der Prozess als solcher.
Ursprünglich sollten UNO-Vertreter die Sicherheit des Tribunals im Kongo garantieren – wie erklären Sie sich den Rückzieher der UNO?
Das war eine gewaltige Enttäuschung für uns. Wir hatten gemeinsam ein recht ausgefeiltes Zeugenschutzprogramm entwickelt. Ein paar Tage vor dem Tribunal im Ostkongo entschied die
New Yorker Zentrale dann aber, sich aus dem Projekt zurückzuziehen, wohl aus politischen Gründen, sicher auch aus Angst vor
schlechter Presse. Übrigens sehr zur Verzweiflung ihrer lokalen
Mitarbeiter. Wir haben das dann im Alleingang durchgezogen,
zwei unserer Anwälte hatten bereits Prozesse zu Massen- und
Kriegsverbrechen betreut.
In Berlin schien das Publikum fast die wichtigste Rolle zu spielen – unmerklich wurde es hineingezogen in eine große Anklage gegen die westliche Konsumgesellschaft. Wie waren die Reaktionen darauf?
amnesty journal | 10-11/2015
Foto: Fruitmarket / Langfilm & IIPM / Eva-Maria Bertschy
»Das Kongo Tribunal« ist das jüngste Theaterprojekt
des Schweizer Regisseurs und Autors Milo Rau. Es kam
in diesem Sommer im Osten der Demokratischen
Republik Kongo und in Berlin auf die Bühne.
Ein Gespräch mit Milo Rau über Theaterästhetik
und Wirtschaftskriminalität.
Dicht an der Realität. Milo Rau (2. von rechts) bei einem Recherche-Dreh mit kongolesischen Soldaten.
Die Reaktionen in den Medien waren sehr unterschiedlich –
das ging vom Vorwurf des Größenwahns bis zu einer Art überbordender Dankbarkeit, einer Begeisterung, dass das endlich
mal gemacht wird. Denn das Fehlen einer Gerichtsbarkeit für
die internationale Wirtschaftskriminalität ist wohl der Skandal
unseres globalisierten Zeitalters. Was das Publikum angeht: Es
war verrückt, wie diese Menschen den insgesamt 30-stündigen,
oft sehr trockenen und detaillierten Verhandlungen gefolgt
sind. Ein Tribunal scheint eine große Sogkraft zu haben …
lungsanweisung. Wir haben vor Ort Richter, eine gemischte Jury,
Zeugen und Experten bestimmt, jahrelang recherchiert, die
Rechtslage sondiert und am Ende ein sechstägiges Tribunal vor
Ort in Anwesenheit der Beklagten organisiert, die auch alle gehört wurden. Die Botschaft ist: So müsste es aussehen, Gerechtigkeit ist möglich, auch mitten im Bürgerkrieg! Dieses Modell
der »chambres mixtes«, also einer gemischt national-internationalen Gerichtsform, soll nun im gesamten Kongo weitergeführt
werden. »Das Kongo Tribunal« war nur das Vorbild.
Wie unterschieden sich die beiden Tribunale im Ostkongo und
in Berlin in ihrer Eigendynamik und Außenwirkung?
Das waren zwei völlig unterschiedliche Erfahrungen. Die »Bukavu Hearings« im Ostkongo waren antagonistische Verhöre, in
denen Regierungs- und Militärvertreter mit Zeugen von Massakern oder Wirtschaftsverbrechen konfrontiert wurden. Extrem
heiße Verhandlungen waren das, mitten im Bürgerkriegsgebiet,
und parallel dazu wurden die Lokalwahlen vorbereitet. Verglichen damit war der Berliner Teil eine eher analytische Veranstaltung: Es ging um Hintergründe, um Zusammenhänge, um
eine Reflexion der Ergebnisse aus dem Kongo. Aber das eine war
so nötig wie das andere: ohne Berlin kein Bukavu und umgekehrt.
Fragen: Cordelia Dvorák
Was erhoffen Sie sich von Projekten wie dem »Kongo Tribunal«?
Ich denke tatsächlich, dass ein Projekt wie »Das Kongo Tribunal« eine symbolische Handlung darstellt, eine Art Hand-
interView
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milo rau
interView
milo rau
Der Schweizer Regisseur und Autor (38) befasst sich in
seinen Werken intensiv mit Menschenrechtsthemen. Dazu
gehören Stücke über die Kunstfreiheit in Russland (»Die
Moskauer Prozesse«), die politische Diskriminierung von
Ausländern in der Schweiz (»City of Change«), der Untergang des kommunistischen Regimes in Rumänien (»Die
letzten Tage der Ceauşescus«), der Genozid in Ex-Jugoslawien (»The Dark Ages«) und der Genozid in Ruanda
(»Hate Radio«).
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Viel Pragmatismus, wenig Strafe
Was ist »Transitional Justice«? Und warum ist sie so
erfolgreich? Die Rechtssoziologin Fatima Kastner
untersucht ein weitverbreitetes Konzept zur
Aufarbeitung von systematischen Menschenrechtsverletzungen. Von Maik Söhler
K
Fatima Kastner: Transitional Justice in der Weltgesellschaft.
Hamburger Edition, Hamburg 2015. 400 Seiten, 35 Euro.
Foto: Abdlhak Senna / AP / pa
leiner Anlass, große Analyse: Am Anfang des neuen
Sachbuchs »Transitional Justice in der Weltgesellschaft« der Rechtssoziologin Fatima Kastner steht eine
simple Frage. Warum hat das Königreich Marokko als
einziges islamisch geprägtes Land eine Wahrheits- und Versöhnungskommission eingesetzt, um die Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit aufzuarbeiten?
Zuerst einmal ist zu klären, was »Transitional Justice« ist.
Kastner definiert sie als Modell zur Konfliktbewältigung in
Übergangsgesellschaften. Im Vordergrund steht dabei nicht die
täterorientierte Strafjustiz, wie zum Beispiel bei den Prozessen
in Nürnberg und Tokio gegen Verantwortliche des NS-Regimes
und des faschistischen Japans, sondern die kollektive, an den
Opfern orientierte Aufarbeitung, Wiedergutmachung und Aussöhnung. Gleichzeitig grenzt sie »Transitional Justice« ab von
der These des Historikers Christian Meier, der die Ansicht vertritt, es sei nach den Weltkriegen bis weit ins 20. Jahrhundert
hinein nicht um »die Bewältigung und Bewusstmachung historischen Unrechts« gegangen, sondern um »ein Nichterinnern
und Vergessen ›schlimmer Vergangenheiten‹«.
»Transitional Justice« ist somit ein eigenes System, das Menschenrechtsverletzungen aufarbeiten will und dabei auf vielfältige Erfahrungen zurückblicken kann: Von Südafrika bis Osteuropa und von Südamerika bis Asien reichen die Verfahren,
mit denen Übergänge von Diktaturen zu Demokratien oder vom
Krieg zum Frieden juristisch und zivilgesellschaftlich begleitet
wurden und an deren Ende mal mehr, mal weniger die Offenle-
gung von Verbrechen und die Anerkennung der Opfer stehen.
Mal mehr, mal weniger bedeutet: Jedes Land bestimmt selbst,
mit welchen Mitteln und Zielen Aufarbeitung erfolgen soll, und
die Ergebnisse fallen je nach der Situation eines Landes in der
Tat sehr unterschiedlich aus. Kastner bezeichnet »Transitional
Justice« denn auch als ein in der Regel »restauratives« und pragmatisches System von Normen, Werten und Prozessen.
Dabei zeigt sich aber, wie stark der Bezug auf Menschenrechte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch für jene Staaten geworden ist, die den Menschenrechten über lange Zeit
kaum Beachtung schenkten oder mit eigenen Definitionen ihren Umfang oder Inhalt einzuschränken versuchten. Braucht
ein Staat Unterstützung von anderen, so gehören neben politischen, ökonomischen und juristischen Forderungen auch Maßnahmen zur Achtung der Menschenrechte zum Repertoire dessen, was die UNO, die EU, die USA oder der Internationale Währungsfonds verlangen. Gleichzeitig haben sich in der Weltgesellschaft große NGOs etabliert, die ihrerseits immer stärker auf die
Achtung von Menschenrechten drängen.
Marokko hat sich also, wie Kastner im Fazit schreibt, mit seinem »Transitional Justice«-Programm als islamische Monarchie
völkerrechtlich etabliert und zugleich hat sich der marokkanische König im Land wie außerhalb als »eine über den Parteien
und parteipolitischen Interessen stehende Instanz« erwiesen,
»die die gesellschaftliche Stabilität und Ordnung garantieren
kann«. Kurz gesagt: Ein pragmatischer Umgang mit Menschenrechtsverletzungen kann einen Zugewinn an Souveränität mit
sich bringen.
Kastners Buch fördert das Verständnis von komplexen
politischen und gesellschaftlichen Prozessen. Für eine gewinnbringende Lektüre sind allerdings gewisse soziologische und völkerrechtliche Vorkenntnisse hilfreich.
Aufarbeitung. Betroffene verfolgen eine Anhörung der marokkanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission in Rabat, 2004.
60
amnesty journal | 10-11/2015
Wie die Kurden die Krise nutzen
Schleuser in der Kritik
Während nur wenige Kilometer entfernt der »Islamische
Staat« seinen mittelalterlichen Terror verbreitet, die Staaten
Irak und Syrien zerfallen, der Iran unter internationalem
Druck steht und die Türkei an der Autokratie Erdoğans leidet,
ruht im Zentrum all dieser Ereignisse eine Region in sich: die
kurdischen Autonomiegebiete im Irak. Hans-Joachim Loewer,
langjähriger Reporter beim »Stern«, hat einige Monate dort
verbracht und was er berichtet, kommt einem Wunder gleich.
Inmitten von Krieg und Zerfall bilden die Kurden eine Insel
an Beständigkeit, Solidarität und Prosperität. Mehr als eine
Million Flüchtlinge wurden aufgenommen, Städte wie Erbil,
Sulaimania und Kirkuk boomen dank kurdischer Verwaltung
und den Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft. Loewer
hat mit kurdischen Politikern, Militärs, Unternehmern, Wissenschaftlern und Vertretern der Zivilgesellschaft gesprochen und zeichnet das Bild eines entstehenden kurdischen
Staates, dem nur noch die Anerkennung fehlt. Die PKK, ihr
syrisches Pendant PYD und der türkische Staatsapparat als
Gegner kommen allerdings viel zu kurz. Loewers Berichtsgebiet ist die kurdische Autonomieregion im Nordirak, sein
Interesse gilt den dort regierenden kurdischen Parteien DPK,
PUK und der recht jungen »Gorran«. Ohne die PKK und ihre
Bündnispartner aber schwinden die Chancen auf
ein starkes, friedliches und geeintes Kurdistan.
Im Jahr 2014 ist die Zahl der Flüchtlinge auf einen Rekordwert
gestiegen. Nach Angaben des UNHCR waren Ende des Jahres
weltweit 59,5 Millionen Menschen auf der Flucht. 2013 lag
ihre Zahl bei 51,2 Millionen. Dies bedeutet einen Anstieg um
16 Prozent – einen höheren Zuwachs gab es noch nie. Die EU
reagiert darauf mit einem Programm zur Bekämpfung der
»Schleuserkriminalität«. Was aber verbirgt sich hinter diesem Wort? Das Sachbuch »Bekenntnisse eines Menschenhändlers« des italienischen Kriminologen Andrea Di Nicola
und des Fotografen Giampaolo Musumeci bemüht sich, Fakten zu Schleusern zu liefern und Hintergründe zu erklären.
Beide haben mit Flüchtlingen, Schleusern, Schiffskapitänen,
Staatsanwälten und polizeilichen Ermittlern gesprochen, um
Analysen und Organigramme der »größten kriminellen Reiseagentur der Welt« abzugeben. Es bleibt bei Bemühungen.
Die Autoren plappern oft unkritisch nach, was Polizei, Geheimdienste und die europäische Grenzschutzagentur »Frontex« vorgeben. Zwar werden vereinzelt Details internationaler Schleppernetzwerke sichtbar, doch sie gehen unter zwischen pathetischem Duktus und mangelnder Erzählstruktur.
Der reißerische Titel »Bekenntnisse eines Menschenhändlers« passt leider allzu gut zu diesem Buch.
Hans-Joachim Löwer: Die Stunde der Kurden. Wie sie
den Nahen Osten verändern. Styria, Wien 2015.
208 Seiten, 24,99 Euro.
Andrea Di Nicola/Giampaolo Musumeci: Bekenntnisse
eines Menschenhändlers. Das Milliardengeschäft mit
den Flüchtlingen. Aus dem Italienischen von Christine
Ammann. Kunstmann, München 2015. 206 Seiten,
18,95 Euro.
Unsichtbar in China
Real Fiction
»Glaub bloß nicht alles, was man dir erzählt. Es gibt immer
eine Geschichte hinter der Geschichte. Und dahinter gibt es
noch ein paar mehr. Hey, das ist China.« Mit diesem Dialogfetzen endet »Wolkenläufer«, ein neues Sachbuch über China, verfasst von Angela Köckritz, der ehemaligen Peking-Korrespondentin der »Zeit«. Sie hat China Ende 2014 verlassen,
nachdem ihre Assistentin Zhang Miao infolge der Hongkonger »Occupy Central«-Proteste festgenommen wurde – sie
kam erst im Juli 2015 wieder frei. Köckritz hätte also Grund
genug, eine politische Abrechnung zu verfassen. Aber das
macht sie nicht. Stattdessen nimmt sie Menschen und Orte
in China in den Blick, die in der Berichterstattung sonst eher
selten vorkommen: einen Wandersänger, eine Mätresse, einen Museumsgründer, ein »Medium«. Ihre Geschichten führen in abgelegene Klöster und Stadtteile Pekings, in kleine
Clubs und vor große, abgeschirmte Fabriken. Köckritz erzählt
aus dem Leben von Vagabunden, Alteingesessenen, Aufsteigern und Verlierern und sie erzählt so souverän, dass die politische Repression und der ökonomische Boom am Rande
stets mitklingen. »Wolkenläufer« ist auch deshalb unterhaltsam, weil das Buch zwar den Alltag der Gegenwart spiegelt,
Rückgriffe in die Vergangenheit und Ausblicke in die Zukunft
eines der mächtigsten Länder der Welt sich dabei
aber häufig von selbst ergeben.
Don Winslows neuer Roman »Das Kartell« beginnt mit einer
sehr langen Liste mexikanischer Journalisten, die dem Drogenkrieg in ihrer Heimat zum Opfer fielen. Nicht nur der dokumentarische Bezug zu Beginn des mehr als 800 Seiten langen Buchs ist ungewöhnlich, sondern auch der schonungslose
Stil, in dem es geschrieben ist. Fünf Jahre lang recherchierte
der US-Autor über die fast allmächtigen Drogenkartelle, die
längst auch die staatlichen Institutionen unterwandert haben.
Heraus gekommen ist dabei ein beeindruckendes Panoptikum des Drogenkriegs in Mexiko. Winslow beschreibt eine
Gewaltorgie, die nicht der Fantasie des Autors, sondern der
alptraumhaften Realität entspringt. Seiner Ansicht nach handelt es sich dabei allerdings nicht um ein »mexikanisches
Drogenproblem«. In einem Interview sagte der Erfolgsautor,
das Land habe nur das Pech, »eine Grenze mit dem weltweit
größten Supermarkt für Kokain zu teilen«. In den USA und
auch in Europa lebten schließlich die zahlungskräftigen Konsumenten, ohne die das Geschäft nicht existieren würde. Zudem würden dort die Drogengelder in Immobilien und Unternehmen investiert. Winslow entlarvt so den »Krieg gegen die
Drogen« als eine blutige Farce, da er nicht die Ursachen bekämpft. Winslows Befund ist deprimierend, umso empathischer schildert er mutige Journalisten, Bauern
und Aktivisten, die sich mit dem Wahnsinn nicht
abfinden wollen. Unbedingt lesenswert.
Angela Köckritz: Wolkenläufer. Geschichten vom Leben in China. Droemer, München 2015. 304 Seiten,
19,99 Euro.
Don Winslow: Das Kartell. Droemer Verlag, München
2015. 832 Seiten, 16,99 Euro.
Bücher: Maik Söhler, Anton Landgraf
bÜcher
61
Gerechtigkeit als Krimistoff
Türkisches Best of
Es ist das Jahr 1957 – die Bundesrepublik macht sich auf, Wirtschaftsmacht zu werden. Dass Europa von zwölf Jahren Terrorherrschaft verwüstet wurde, spielt dabei bald eine untergeordnete Rolle. Ebenso Gerechtigkeit – aber längst nicht für
jeden. Der Generalstaatsanwalt Fritz Bauer – später wird er
die Auschwitz-Prozesse initiieren –, hat sich die Jagd nach geflohenen NS-Größen zum Ziel gesetzt. Der hier als kränkelndverschroben, aber ungemein intelligent dargestellte Jurist arbeitet sich durch die Rattenlinien, schließt internationale Kooperationen und wehrt sich gegen die heimische Politik, etwa
die nationalsozialistischen Kontinuitäten in den Gerichten.
Regisseur Lars Kraume will dem Humanisten ein filmisches
Denkmal setzen – und den Juden, die wie Bauer aus dem Exil
nach Deutschland zurückkamen: Ein liebevoll ausgestatteter,
mehrschichtig erzählter, bestens besetzter Film. Zwiespältig
ist, dass die Geschichte dramaturgisch doch recht aufgepeppt
daherkommt. So nimmt Bauers vermeintliche Homosexualität großen Raum ein. Dass er sich mit meist jungen Mitarbeitern umgab, war aber der Tatsache geschuldet, dass ältere
Juristen durchweg in die NS-Justiz verstrickt waren. Der Spannung tut dies keinen Abbruch. Der Film ist eine Verbrecherjagd, nicht mehr und nicht weniger. Und immerhin: alles andere als dümmlich.
Vor mehr als 20 Jahren aus einem Musikprojekt an der Bosporus-Universität in Istanbul entstanden, sind Kardes Türküler (»Brüderliche Lieder«) heute eines der wichtigsten Ensembles der Türkei. Mit traditionellen Weisen von der Schwarzmeerküste, Liebesballaden anatolischer Barden und Rhythmen der Roma spiegeln sie die kulturelle Vielfalt ihres Landes
wider, mit alevitischen, kurdischen und armenischen Liedern erweisen sie den Minderheiten die Ehre. Angesicht eines zunehmenden türkischen Nationalismus ist ihr Ansatz
subversiv. Die bis zu zwei Dutzend Musikerinnen und Musiker sind in den vergangenen Jahren weltweit aufgetreten. Mit
dem rhythmischen Protestsong »Tencere Tava Havasi«, dem
Lied der Töpfe und Pfannen, leisteten sie im Sommer 2013 ihren Beitrag zu den Straßenprotesten, die sich um den GeziPark in Istanbul entzündeten, und motivierten viele Menschen, auf Töpfe und Pfannen klopfend gegen die Regierung
zu protestieren. Zuletzt verfassten sie einen Song über Rojava, wie die kurdisch dominierte Region in Syrien genannt
wird, und einen Wahlkampfsong für die kurdisch geprägte
Partei HDP, der bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 der
Sprung ins türkische Parlament gelang. Ihr letztes reguläres
Studio-Album, »Cocuk Haklari« (Deutsch: »Kinderrechte«),
stammt aus dem Jahr 2011. Darum ist es besonders erfreulich,
dass nun erstmals ein Best-of-Album mit
mehrsprachigem Booklet vorliegt, das einem internationalen Publikum einen Einblick in ihr Oeuvre ermöglicht.
»Der Staat gegen Fritz Bauer«. D 2015. Regie: Lars
Kraume, mit Burghart Klaußner, Ronald Zehrfeld.
Kinostart: 1. Oktober 2015.
Kardes Türküler: Best of (Network Medien)
Textilarbeit im Kino
Das alle zwei Jahre stattfindende Nürnberger Filmfestival der
Menschenrechte steht dieses Jahr im Zeichen der »Textilarbeit in der globalisierten Welt«. Beim Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch im April 2013 waren 1.138 Näherinnen und Textilarbeiter ums Leben gekommen. Ermittlungen zufolge stürzte das Gebäude unter dem Gewicht illegal errichteter Stockwerke und schwerer Maschinen ein. Zahlreiche westliche Firmen hatten dort Kleider nähen lassen;
trotz großspuriger Ankündigungen sind wenig Mittel zur
Verbesserung des Arbeitsschutzes geflossen.
730 Filme wurden dieses Jahr in Nürnberg eingereicht.
»Das immense Interesse an unserem Festival zeigt, wie
brandaktuell hochklassige Menschenrechtsfilme weiter
sind«, sagt Festival-Chefin Andrea Kuhn. Mit dem Schwerpunkt lehne sich das Festival auch thematisch an den Träger
des Nürnberger Menschenrechtspreises an, den Textilgewerkschafter Amirul Haque Amin aus Bangladesch. Insgesamt werden im Rahmen des Filmfestes 50 Spiel- und Dokumentarfilme gezeigt – ein Teil konkurriert um den mit 2.500
Euro dotierten Internationalen Nürnberger Filmpreis der
Menschenrechte. Zudem werden ein Publikumspreis und der
Preis der Open-Eyes-Jugendjury verliehen. Ein Großteil der
Einnahmen ist für Initiativen zur Verbesserung der Lebenssituation von Arbeiterinnen in Bangladesch.
30. September bis 7. Oktober. Internationales Nürnberger
Filmfestival der Menschenrechte. Filmhaus, Königstraße
93, 90402 Nürnberg. www.filmfestival-der-menschenrechte.de
Afroamerikanische Klangpoesie
Kanarienvögel werden in Kohleminen eingesetzt, um die
Bergarbeiter vor giftigen Gasen zu warnen. Stirbt der Vogel,
droht dem Menschen Lebensgefahr. Für die Rapperin Akua
Naru steht der Kanarienvogel sinnbildlich für die Rolle der
Minderheiten und der Künstler, die auf gesellschaftliche
Missstände hinweisen. Die 30-jährige Sängerin aus den USA
lebt seit neun Jahren in Köln und hat sich bewusst einen afrikanisch klingenden Künstlernamen zugelegt. Auf ihrem
zweiten Studioalbum bewegt sie sich gekonnt zwischen Hiphop, Jazz, Neo-Soul und Spoken Word-Poesie. »The Miner’s
Canary« ist ein Werk mit experimentellen und ruhigen Momenten, das von der Geschichte der Afroamerikaner handelt
– von ihrer Verschleppung aus Afrika und ihrer Versklavung
bis hin zur aktuellen rassistischen Polizeigewalt in den USA.
Ein Song (»Black and Blues People«) ist dem ermordeten Jungen Trayvon Martin gewidmet und spielt im Titel auf ein
Werk des Dichters und Bürgerrechtsveteranen Amiri Baraka
an. Andere Stücke beziehen sich auf die Schriftstellerin Toni
Morrison und die Kulturwissenschaftlerin Tricia Rose, beides
Idole der Sängerin. Auf dem gemalten Cover inszeniert sie
sich wie eine Herrscherin mit einer Afrofrisur aus goldenen
Blättern. Auf ihrer Schulter sitzt ein Kanarienvogel. Für Akua Naru ist er auch ein
Symbol der Hoffnung: Wenn er lebt, hat
auch die Gesellschaft eine Zukunft.
Akua Naru: The Miner’s Canary (The Urban Era)
Film: Jürgen Kiontke | Musik: Daniel Bax
62
amnesty journal | 10-11/2015
Foto: Movienet
Landraub. Ein Kambodschaner steht auf den Trümmern seines einstigen Hauses.
Die Produktion von
Menschenrechtsverletzungen
Kurt Langbein hat mit »Landraub« einen eindrucksvollen Dokumentarfilm über Vertreibungen im Zuge
der weltweiten Jagd auf Agrarflächen gedreht.
Von Jürgen Kiontke
L
uon Sovath sitzt im Studio und schneidet Videos. Gefilmt hat er heute genug: Er stand dabei, als Hütten abgerissen wurden, Menschen in Verzweiflung ausbrachen
und Todesdrohungen ausgesprochen wurden. Während
der kambodschanische Mönch spricht, ist auf seinem Monitor
zu sehen, wie ein gepanzerter LKW ein ganzes Dorf plattfährt.
Hier, wo gepachtete Reisfelder Kleinbauernfamilien ernährten,
kommt jetzt eine industrielle Zuckerrohrplantage hin. Wie es
weitergehen soll, weiß keiner. Erstmal kommen die Vertriebenen in Sovaths Kloster unter.
Die Dokumentation »Landraub« des konzernkritischen österreichischen Filmemachers Kurt Langbein fängt mit einer
Film-im-Film-Szene an – seine Welttour zu den Orten der Zerstörung durch »Landgrabbing« ist kunstvoll in Szene gesetzt. HeliCams sind in Aktion, Gewächshäuser werden perfekt im Morgenlicht abgefilmt und endlich mal Zahlen mit Zwischeneinblendungen präsentiert. Vielen Dokumentarfilmen fehlt gerade
das Informative, die Datenbasis.
Aber die Inszenierung ist eine schöne Nebensache: Zu stark
ist das Gefühl, dass man ins Elend fremder Menschen schaut,
die gerade ihre Lebensgrundlage verloren haben. Man wohnt
quasi der nächsten Flüchtlingskatastrophe bei, 1.600 Familien
sind auf einen Schlag, zum Teil unter Einsatz von Gewalt, vertrieben worden.
film & musik
Richtig Schub hat diese Zerstörung von Lebensbedingungen
durch die Politik der Europäischen Union erfahren. Als eines der
ärmsten Länder der Welt profitiert Kambodscha zwar vom zollfreien Zugang zum EU-Markt. Zucker zum Beispiel lohnt sich
richtig: 2013 hat Kambodscha süßen Stoff im Wert von 50 Millionen Euro nach Europa verkauft. Aber die früheren Bewohner
können jetzt nur hoffen, dass der Zuckerkonzern sie anstellt –
ihre gepachtete Lebensgrundlage sind sie los.
Weiter geht es nach Sierra Leone. Hier wird die EU-Entwicklungshilfe zur Kraftstoffproduktion genutzt. Der E10-Sprit wird
in Europa beigemischt, um dort die CO2-Bilanz zu verbessern.
Dafür wird paradoxerweise der Regenwald abgeholzt: Weltweit
geht pro Stunde eine Waldfläche in der Größe von 300 Fußballfeldern verloren, Pestizide im Trinkwasser gibt’s gratis dazu.
2008 wurden Lebensmittel im Zuge der globalen Finanzkrise zum Spekulationsobjekt. Die industrielle Produktion verschluckt dabei irrational viele Fördermittel: Dabei werden immer noch 70 Prozent der weltweiten Nahrungsmittel von kleinen Höfen hergestellt.
In »Landraub« kommen Profiteure wie Opfer aus vielen Ländern zu Wort. Die einen schwärmen von der Sicherung der Nahrungsversorgung, Arbeitsplätzen und Wohlstand für alle. Die anderen haben gerade deswegen ihre Lebensgrundlage verloren.
Krasser prallen die Positionen in Sachen Nahrungsmittelproduktion selten aufeinander. Glücklicherweise gibt es auch Beispiele, etwa aus Äthiopien, wie es besser funktionieren kann. So geht man nicht nur traurig aus dem
Film. »Landraub« ist ein ganz starkes Stück Kino.
»Landraub«. AUT 2015. Regie: Kurt Langbein. Kinostart: 8. Oktober 2015
63
Tag für Tag werden Menschen
gefoltert, wegen ihrer Ansichten,
Hautfarbe oder Herkunft inhaftiert,
ermordet, verschleppt oder man lässt
sie »verschwinden«. amnesty
international veröffentlicht regelmäßig
an dieser Stelle drei Einzelschicksale,
um an das tägliche Unrecht zu
erinnern. Internationale Appelle
helfen, solche
Menschenrechtsverletzungen
anzuprangern und zu beenden.
Sie können mit Ihrem persönlichen
Engagement dazu beitragen, dass
Folter gestoppt, ein Todesurteil
umgewandelt oder ein Mensch aus
politischer Haft entlassen wird.
Schreiben Sie bitte, im Interesse
der Betroffenen, höflich formulierte
Briefe an die jeweils angegebenen
Behörden des Landes.
Sollten Sie eine Antwort auf Ihr
Appellschreiben erhalten, schicken
Sie bitte eine digitale Kopie an:
[email protected]
amnesty international
Zinnowitzer Straße 8, 10115 Berlin
Tel.: 030 - 42 02 48 - 0
Fax: 030 - 42 02 48 - 488
E-Mail: [email protected]
www.amnesty.de
Spendenkonto
Bank für Sozialwirtschaft
IBAN: DE 233 702050 0000 8090100
BIC: BFS WDE 33XXX
(Konto: 80 90 100, BLZ: 370 205 00)
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Foto: privat
briefe gegen
das Vergessen
iran
omid kokabee
Omid Kokabee wollte nach einem Besuch bei seiner Familie im
Iran gerade die Rückreise in die USA antreten, als er am 30. Januar 2011 am Flughafen von Teheran festgenommen wurde. Er
war zu diesem Zeitpunkt Doktorand der Physik an der Universität von Texas. Nach 15 Monaten in Untersuchungshaft fand
im Mai 2012 ein Gerichtsverfahren statt. Man warf ihm »Kontakt mit feindlich gesinnten Ländern« und »Erhalt verbotener
Zahlungen« vor. Bei diesen Zahlungen handelt es sich um das
Stipendium der Universität Texas. Vor Gericht wurde kein Beweismaterial gegen ihn vorgelegt und es wurde ihm untersagt,
vor der Verhandlung mit seinem Rechtsbeistand zu sprechen.
Omid Kokabee wurde in Einzelhaft festgehalten, über lange
Zeiträume hinweg verhört und unter Druck gesetzt, um ein »Geständnis« abzulegen. Er berichtete, dass die Behörden ihn nötigten, Einzelheiten über Personen aufzuschreiben, die er in
Botschaften oder bei Konferenzen gesehen hatte. Die Verhörbeamten beschuldigten anschließend einige dieser Menschen, für
den US-Geheimdienst CIA zu arbeiten.
Im Januar 2015 wurde die zehnjährige Haftstrafe gegen
Omid Kokabee von der Abteilung 54 des Berufungsgerichts in
Teheran bestätigt. Er ist zunehmenden Schikanen durch die Gefängnisbehörden ausgesetzt. So wird er beispielsweise immer
öfter daran gehindert, wissenschaftliche Zeitschriften und Bücher zu lesen, die er größtenteils von seiner Familie erhält.
Amnesty International geht davon aus, dass es sich bei
Omid Kokabee um einen gewaltlosen politischen Gefangenen
handelt, der sich nur deshalb im Gefängnis befindet, weil er
sich weigerte, für das iranische Militär an Nuklearprojekten zu
arbeiten, und weil er legitime akademische Verbindungen mit
Hochschulinstitutionen im Ausland unterhält.
Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Obersten
Religionsführer des Iran und fordern Sie darin die Freilassung
von Omid Kokabee, die Aufhebung des Schuldspruchs und damit auch der Haftstrafe. Bis zur Entlassung aus der Haft muss
ihm der regelmäßige Besuch seines Rechtsbeistands gestattet
werden.
Schreiben Sie in gutem Persisch, Englisch oder auf Deutsch an:
Ayatollah Sayed ’Ali Khamenei
Leader of the Islamic Republic
Islamic Republic Street – End of Shahid Keshvar Doust Street
Tehran, IRAN
E-Mail: über die Website:
www.leader.ir/langs/en/index.php?p=suggest
Twitter: @khamenei_ir
(Anrede: Your Excellency / Exzellenz)
(Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an:
Botschaft der Islamischen Republik Iran
S.E. Herrn Ali Majedi
Podbielskiallee 65–67, 14195 Berlin
Fax: 030 - 84 35 35 35
E-Mail: [email protected]
amnesty journal | 10-11/2015
Die Organisation COFADEH (Comité de Familiares de DetenidosDesaparecidos en Honduras) setzt sich für Familienangehörige
von Inhaftierten und »Verschwundenen« ein und zählt zu den
wichtigsten Menschenrechtsorganisationen in Honduras. Seit einigen Jahren greift COFADEH nicht nur Fälle von Verschwindenlassen auf, sondern auch von Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen, Drohungen und Drangsalierungen gegen
Menschenrechtsverteidiger, unverhältnismäßiger Gewalt von Polizei und Sicherheitskräften, Landstreitigkeiten und schlechten
Haftbedingungen. COFADEH arbeitet mit internationalen Organisationen zusammen, um auf Menschenrechtsverletzungen in
Honduras aufmerksam zu machen, und spielt eine wichtige Rolle bei der Übermittlung von Fällen an das Interamerikanische
Menschenrechtssystem. Aufgrund der Arbeit von COFADEH hat
die Interamerikanische Menschenrechtskommission die honduranische Regierung angewiesen, Schutzmaßnahmen für zahlreiche Menschenrechtsverteidiger zu ergreifen.
Mitglieder von COFADEH und deren Angehörige werden seit
vielen Jahren immer wieder bedroht, überwacht, drangsaliert
und angegriffen. Seit 2011 hat jedoch sowohl die Anzahl als
auch die Schwere der Übergriffe zugenommen.
Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Präsidenten von Honduras, in denen Sie ihn dazu auffordern, den Empfehlungen der UNO-Sonderberichterstatterin über die Lage von
Menschenrechtsverteidigern vom Dezember 2012 nachzukommen und die wichtige und legitime Arbeit von Menschenrechtsverteidigern öffentlich anzuerkennen. Fordern Sie ihn zudem
auf, eine Erklärung abzugeben, in der er die Drohungen und Angriffe gegen Mitglieder der COFADEH und andere Menschenrechtsverteidiger verurteilt. Bitten Sie ihn, die Angriffe umfassend zu untersuchen und die Verantwortlichen vor Gericht zu
stellen und erinnern Sie ihn daran, dass Menschenrechtsverteidiger das Recht haben, ihre Arbeit ohne unfaire Einschränkungen oder Angst vor Vergeltungsmaßnahmen auszuüben, wie es
die UNO-Erklärung zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern
von 1998 vorschreibt.
Schreiben Sie in gutem Spanisch, Englisch oder auf Deutsch an:
Juan Orlando Hernández
Presidente de Honduras, Casa Presidencial, Barrio Las Lomas
Boulevard Juan Pablo II, Tegucigalpa, HONDURAS
Fax: 005 04 - 22 90 50 88
E-Mail: www.facebook.com/juanorlandoh
Twitter: @JuanOrlandoH
(Anrede: Dear Presidente / Señor Presidente / Sehr geehrter
Herr Präsident)
(Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an:
Botschaft der Republik Honduras
S. E. Herrn Ramón Custodio Espinoza
Cuxhavener Straße 14, 10555 Berlin
Fax: 030 - 39 74 97 12
E-Mail: [email protected]
briefe gegen das Vergessen
Fotos: privat
Foto: Amnesty
honduras
cofadeh
marokko
wafae charaf und
oussama housne
Wafae Charaf und Oussama Housne setzen sich für Menschenrechte ein und sind politisch aktiv. 2014 wurden sie nach friedlichen Protesten willkürlich festgenommen und gefoltert. Als sie
dies öffentlich machten, verurteilte man sie wegen »falscher
Anschuldigung« zu zwei beziehungsweise drei Jahren Haft. Obwohl keiner der beiden Polizeikräfte beschuldigt hatte, wurden
sie zudem wegen »Verleumdung der marokkanischen Polizei«
zur Zahlung einer Entschädigung verurteilt. Wafae Charaf und
Oussama Housne sind gewaltlose politische Gefangene.
Wafae Charaf hat angegeben, nach der Teilnahme an einer
Demonstration von Arbeitern in Tanger am 27. April 2014 von
zwei Männern verschleppt worden zu sein. Man soll sie über
mehrere Stunden geschlagen und ihr mit weiterer Gewalt gedroht haben, sollte sie sich weiterhin politisch engagieren. Am
12. August 2014 wurde sie wegen »falscher Anschuldigungen
über Folter« und »Verleumdung« zu einem Jahr Haft und einer
Geldstrafe von 1.000 Dirham (etwa 95 Euro) verurteilt. Zudem
verurteilte man sie zu einer Entschädigungszahlung in Höhe von
50.000 Dirham (etwa 4.700 Euro) an die Polizei wegen »Verleumdung«, obwohl sie keine Anschuldigungen gegen Polizeikräfte erhoben hatte. In einem Rechtsmittelverfahren wurde
ihre Haftstrafe auf zwei Jahre erhöht.
Oussama Housne wurde eigenen Angaben zufolge am 2. Mai
2014 verschleppt und gefoltert, als er sich auf dem Rückweg
von einer Protestveranstaltung befand, bei der Solidarität mit
inhaftierten Aktivisten zum Ausdruck gebracht worden war. Er
hat angegeben, dass seine beiden Entführer ihm mit einem heißen Metallrohr Verbrennungen zugefügt und ihn mit Fingern
vergewaltigt haben.
Bitte schreiben Sie höflich formulierte Briefe an den Justizminister von Marokko, in denen Sie ihn darum bitten, sicherzustellen, dass Wafae Charaf und Oussama Housne sofort und bedingungslos freigelassen werden, da es sich bei ihnen um gewaltlose politische Gefangene handelt.
Schreiben Sie in gutem Arabisch, Französisch, Englisch oder
auf Deutsch an:
El Mustapha Rashid
Minister of Justice and Liberties
Ministère de la Justice et des Libertés
Place El Mamounia – BP 1015, Rabat, MAROKKO
Fax: 002 12 - 53 - 773 47 25
E-Mail: [email protected]
(Anrede: Your Excellency / Exzellenz)
(Standardbrief Luftpost bis 20 g: 0,80 €)
Senden Sie bitte eine Kopie Ihres Schreibens an:
Botschaft des Königreichs Marokko
S.E. Herrn Omar Zniber
Niederwallstraße 39, 10117 Berlin
Fax: 030 - 20 61 24 20
E-Mail: [email protected]
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Foto: Amnesty Intensiver Austausch. Amnesty-Mitglieder diskutieren bei einem Workshop in Ejisu.
»akwaaba!«
Junge Amnesty-Mitglieder aus Deutschland reisten Anfang
August nach Westafrika, um sich mit jungen ghanaischen
Amnesty-Aktivisten auszutauschen. Eine lehrreiche Woche –
für beide Seiten.
Die Anreise war beschwerlich: 17 Stunden dauerte es, bis die
kleine Amnesty-Delegation aus Deutschland in der ghanaischen
Stadt Ejisu ankam. Doch die Strapazen waren schnell vergessen: Mit einer musikalischen Zeremonie begrüßte die ghanaische Sektion die Gruppe: »Akwaaba!« – Willkommen in Ghana!
Seit Anfang 2011 besteht eine Partnerschaft zwischen
Amnesty Deutschland und Amnesty Ghana. Beim diesjährigen
»Youth Camp« der ghanaischen Sektion nahmen deswegen
Anfang August neben rund achtzig ghanaischen Jugendlichen
auch fünf Delegierte aus Deutschland teil, um sich über die
Jugendarbeit von Amnesty und andere Themen auszutauschen.
Schon seit mehr als vierzig Jahren ist Amnesty in Ghana vertreten. Noch ist die Amnesty-Bewegung dort in vielen Bereichen
nicht so stark aufgestellt wie in Deutschland. Doch das ändert
sich im Eiltempo. Gerade in Sachen Jugendarbeit kann sich die
deutsche Sektion in Ghana einiges abschauen: »43 Prozent unserer Mitglieder sind Jugendliche«, sagt Frank Doyi, der bei Amnesty Ghana für Wachstum und Aktivismus verantwortlich ist.
»Die jungen Menschen sind für Amnesty besonders engagiert –
sowohl in ihren Schulen als auch außerhalb. Sie sind das Rückgrat unserer Organisation. Wir schätzen, dass sich rund 8.000
Jugendliche im vergangenen Jahr auf die eine oder andere
Weise für Amnesty Ghana eingesetzt haben.«
Amnesty hat es in Ghana geschafft, mit Schulen zu kooperieren und dadurch Jugendliche sehr früh für die Menschen-
66
rechte zu sensibilisieren. Nicht zuletzt deswegen erhält die ghanaische Sektion starken Zulauf – wie beispielsweise von Nannette Annafo, die vor sieben Jahren durch ein Schulprojekt zu
Amnesty fand: »Von Menschenrechten hatte ich vorher wenig
Ahnung«, sagt die 22-Jährige. Inzwischen verbreitet sie unter
anderem Amnesty-Themen über soziale Netzwerke.
Das Beispiel Ghana macht deutlich, wie wichtig eine engagierte Jugend für die Zukunft von Amnesty ist. Auch in
Deutschland wäre ein Schulprojekt wünschenswert, wie es in
Ghana bereits Realität ist. Nicht nur, um neue Mitglieder zu gewinnen, sondern auch, um jungen Menschen schon auf der
Schulbank ein Bewusstsein für Menschenrechte zu vermitteln.
Aber nicht nur Amnesty-interne Themen standen während
des »Youth Camps« auf der Agenda. Insbesondere die Debatte
über sexuelle und reproduktive Rechte wurde während des einwöchigen Treffens intensiv diskutiert. Die äußerst emotional vorgebrachten Argumente machten deutlich, wie wichtig eine offene Auseinandersetzung zu Themen wie Abtreibung und sexuelle
Aufklärung in Ghana ist – und nicht nur dort.
In Zukunft soll die Kooperation intensiviert werden. Bereits
heute sind drei deutsche Amnesty-Gruppen mit Amnesty-Gruppen aus Ghana vernetzt, tauschen sich regelmäßig aus – und
können so viel über die Menschenrechtsarbeit im jeweils anderen Land lernen. Ziel ist es, weitere Gruppen langfristig miteinander zu verbinden. Denn die Partnerschaft zwischen Ghana
und Deutschland nützt beiden Sektionen enorm. Und sie zeigt:
Amnesty International ist tatsächlich eine globale Organisation.
Text: Marlene Braun, Sven Mesch, Anna Weßling, Johannes Wirkert und
Maike Wohlfarth
amnesty journal | 10-11/2015
bnd an die kette!
berlin »Schluss mit der Datenschnüffelei« forderten am 5. September rund 150 Aktivistinnen und Aktivisten vor der neuen
Zentrale des Bundesnachrichtendiensts (BND) in Berlin-Mitte.
Unter dem Motto »BND an die Kette« bildeten die Protestteilnehmer eine Menschenkette, um gegen die Verstrickung der Behörde in die Massenüberwachung durch internationale Geheimdienste zu protestieren. Wie inzwischen bekannt ist, hat der
BND dem US-Nachrichtendienst NSA jahrelang geholfen, deutsche und europäische Ziele auszuspähen. Die Aktivistinnen und
Aktivistinnen forderten die Bundesregierung auf, die Affäre aufzuklären und Verstöße gegen das Grundrecht auf informationelle
Selbstbestimmung und Privatsphäre zu stoppen und zu ahnden.
»Die willkürliche Überwachung von E-Mails, Telefonaten,
SMS und Chats ist eine millionenfache Verletzung des Menschenrechts auf Privatsphäre«, sagte Lena Rohrbach, AmnestyExpertin für Menschenrechte im digitalen Zeitalter. »Überwachung darf nur stattfinden, wenn ein konkreter Verdacht vorliegt
und die Überwachungsmaßnahme gezielt, notwendig, verhältnismäßig und richterlich angeordnet ist. Die globale Massenüberwachung durch westliche Geheimdienste erfüllt keines dieser Kriterien.« Zu der Kundgebung, die wenige Tage vor der
Wiederaufnahme des NSA-Untersuchungsausschusses stattfand, hatte Amnesty International gemeinsam mit der Humanistischen Union, Reporter ohne Grenzen und weiteren Organisationen aufgerufen.
aktiV fÜr amnesty
Foto: HU Kampa (CC BY-NC 2.0)
Durch ganz unterschiedliche Veranstaltungen geben
Amnesty-Mitglieder den Opfern von Menschenrechtsverletzungen eine Stimme. Diese Aktionen vor Ort sind ein
unentbehrlicher Teil der Arbeit von Amnesty International.
Mehr Informationen darüber finden Sie auf
http://blog.amnesty.de und www.amnesty.de/kalender
Privatsphäre schützen. Demonstrierende ziehen zur BND-Zentrale.
impressum
Amnesty International, Sektion der
Bundesrepublik Deutschland e.V., Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, Tel.: 030 - 42 02 48 - 0
E-Mail: [email protected]
Internet: www.amnesty.de
Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redak tion Amnesty Journal, Zinnowitzer Str. 8, 10115 Berlin, E-Mail: [email protected] (für Nachrichten an die Redaktion)
Adressänderungen bitte an:
[email protected]
Redaktion: Markus N. Beeko, Jessica
Böhner, Andreas Koob, Anton Landgraf
(V.i.S.d.P.), Katrin Schwarz
aktiV fÜr amnesty
Mitarbeit an dieser Ausgabe: Birgit
lbrecht, Daniel Bax, Marlene Braun,
A
Selmin Çalışkan, Cordelia Dvorák,
Dorothee Haßkamp, Knut Henkel,
Bernhard Hertlein, Heike Kleffner,
Jürgen Kiontke, Sabine Küper-Büsch,
Maja Liebing, Alexandra Mankarios,
Sven Mesch, Dirk Pleiter, Ralf Rebmann, Wera Reusch, Uta von Schrenk,
Maik Söhler, Anna Weßling, Johannes
Wirkert, Stefan Wirner, Maike Wohlfarth
Layout und Bildredaktion:
Heiko von Schrenk / schrenkwerk.de
Druck: hofmann infocom, Nürnberg
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ISSN: 2199-4587 67
es gibt menschen, die sterben
fÜr bÜcher.
In vielen Ländern werden Schriftsteller verfolgt, gefoltert
oder mit dem Tode bedroht.
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