Nagra-Tagung, 13.1.2016

Kanton Zürich
Baudirektion
Generalsekretariat
Kommunikation
Swissnuclear/Nagra
Tagung «Verantwortung der Akteure im Sachplanverfahren Geologische
Tiefenlager», Baden, 13. Januar 2016
Referat von Herrn Regierungsrat Markus Kägi, Vorsitzender des Ausschusses der Kantone AdK
Die Kantone und ihre vielschichtige Verantwortung
bei der Entsorgung radioaktiver Abfälle
Sehr geehrte Frau Präsidentin
Sehr geehrte Damen und Herren
„Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft
und Augenmass zugleich.“ Dieser immer wieder gern zitierte Satz stammt von Max Weber
und steht am Schluss seines Vortrags „Politik als Beruf“ aus dem Jahre 1919. Berühmt
geworden ist dieser Text aber vor allem deswegen, weil Weber darin die Unterscheidung
zwischen „Gesinnungsethik“ und „Verantwortungsethik“ vornimmt.
Gesinnungsethik bedeutet, dass ich irgendwelchen Idealen folge und sämtliche Konsequenzen meines Handelns auf die Welt oder die Gesellschaft abwälzen kann. Ich halte
mich an etwas Absolutes, z.B. an die Bergpredigt oder das Kommunistische Manifest.
Wenn ich als Politiker auf dieser Grundlage Entscheidungen fälle, die eine Katastrophe
auslösen, dann trifft mich keine Schuld. Ich habe die Ethik auf meiner Seite. Die Schuld
liegt bei der Gesellschaft, die noch nicht reif ist für mein Ideal.
Die Verantwortungsethik hingegen hält mich dazu an, die Konsequenzen meines Handelns
zu bedenken. Ich kann nichts abwälzen, sondern bin verantwortlich für das, was ich tue. Ich
gehe gar nicht erst davon aus, dass es eine ideale Welt geben könnte. Ich lebe in einer
Welt der Widersprüche und der Irrationalität. Sie ist eine Welt, die unter ethischer Dauerspannung steht und in welcher der Zweck mitunter die Mittel heiligt. Ich verfechte als Politiker keine reine Lehre, sondern Ziele, die ich mit Leidenschaft und Augenmass verfolge. –
So viel zu Max Weber.
Meine Damen und Herren, wir sind heute nicht zusammengekommen, um über unsere
Gesinnung nachzusinnen, sondern der Verantwortung das Wort zu reden. Schon deswegen dürfte klar sein, welche der beiden Ethiken für uns massgebend sein muss, und dies
nicht nur heute Nachmittag. Tatsächlich kann die sichere Unterbringung radioaktiver Abfälle keine Frage der Gesinnung sein. Wir können es nicht darauf ankommen lassen, dass
etwas schief geht. Wir können nichts abschieben, weder die Verantwortung noch die Abfälle selbst.
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Die Eigenart dieser Abfälle, uns mit enorm langen Halbwertszeiten zu konfrontieren, stellt
auch die Verantwortung in ein besonderes Licht. Man könnte im Sinne einer reinen Lehre
fordern, Verantwortung sei etwas Unteilbares. Das wäre aber gerade in diesem Fall absurd. Wir kommen gar nicht umhin, die Verantwortung zu teilen: mit den nachfolgenden
Generationen, die unser Projekt fortzusetzen haben, aber auch bereits innerhalb unserer
eigenen Generation.
Dieses Teilen-Müssen aus praktischen Gründen darf nun nicht dazu führen, dass am Ende
niemand mehr die Verantwortung trägt. Es darf auch nicht dazu führen, dass wir zuletzt
wieder bei einer Gesinnung landen, bei einer politischen Tugendhaftigkeit und bei der angenehmen Gewissheit, unser Möglichstes getan zu haben. Die Gesellschaft steht in der
Verantwortung, und die Leute aus Wissenschaft und Politik beziehen daraus ihr Mandat,
konkrete Lösungen zu finden.
Es ist eine zutiefst politische Verantwortung, von der ich hier spreche. Wie der Verteilschlüssel aussieht, nach welchem die Verantwortung den einzelnen Trägern zugewiesen
wird, ist ebenfalls eine politische Frage. Womit ich sagen will: Es ist primär keine juristische
Frage. Das müssen wir im Hinterkopf behalten, wenn ich hier zum Thema rede: „Die Kantone und ihre vielschichtige Verantwortung bei der Entsorgung radioaktiver Abfälle“.
Ich weiss natürlich, dass Sie gerne etwas anderes von mir hören möchten: dass die Kantone als Aktionäre der Energieversorger juristisch in der Verantwortung stehen. Dass sich die
Kantone Aargau und Zürich als Axpo-Hauptaktionäre mit der Nagra identifizieren und sich
ihr gegenüber nicht als kritisches Gegengewicht auffassen. Bei allem Harmoniebedürfnis,
das kann ich nicht so sehen.
Inwieweit eine solche juristische Verantwortung überhaupt besteht, wäre gesondert zu betrachten. Aber ich will mich hier gar nicht in den juristisch-technischen Details verlieren.
Von der Sache her gesehen haben die Kantone eine dreifache Verantwortung:
Erstens: Die Kantone müssen beim Sachplanverfahren mitwirken. Basierend auf den drei
Säulen Transparenz, Fairness und Mitwirkung wird darin ein Auswahlverfahren festgelegt,
das den demokratischen Spielregeln folgt. Darin zeigt sich, dass das geologische Tiefenlager uns alle etwas angeht, die gesamte Gesellschaft, und zwar nicht nur im Sinn von Rechten, sondern auch von Pflichten.
Wir alle sind verantwortlich für die sichere Unterbringung radioaktiver Abfälle, sei es mit
Rücksicht auf die Interessen unserer Nachkommen oder im Hinblick auf die Entscheidung
der früheren und gegenwärtigen Generationen, Strom aus Kernenergie zu gewinnen und
zu konsumieren. Die Tragweite dieser Entscheidung ist zu gross, als dass sich die Gesellschaft aus der Verantwortung ziehen könnte.
Nun ist diese gesellschaftliche Verantwortung eher diffus. Der Staat fungiert hier als Instanz, welche diese verflüssigte Verantwortung fassbar macht und in Handlungen überführen kann. Diese Verantwortungs-Übernahme hat sogar eine ganz konkrete Ausprägung,
z.B. dann, wenn sich eine Gemeinde weigert, in der Regionalkonferenz mitzumachen.
Dann springt der Kanton ein. Das ist zwar noch nie vorgekommen, aber der Sachplan sieht
es so vor.
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Zweitens: Laut Bundesverfassung sind die Kantone zuständig für die Raumplanung. Die
Kerntechnik als solche ist zwar Bundesangelegenheit, aber was sich in ihrem Zusammenhang ergibt – Nutzungskonflikte, Interessenabwägungen etc. – haben auf ihrem jeweiligen
Territorium die Kantone zu regeln. Hier führt kein Weg an den Kantonen vorbei.
Drittens: Laut Kantonsverfassung sind die Kantone verpflichtet, die Interessen ihrer Gemeinden zu wahren. Wenn also von jenseits der Kantons- oder auch Landesgrenzen Druck
auf eine unserer Gemeinden ausgeübt wird, dann muss sich der Kanton hinstellen und
dem Druck sein ganzes eigenes Gewicht entgegensetzen.
In allen diesen drei Ausgestaltungen der kantonalen Verantwortung zeigt sich, dass die
Kantone der Ort sind, wo die Sache Gestalt gewinnt. Der Sachplan ist zwar Angelegenheit
des Bundes, aber seine konkreten Folgen zeitigt er unweigerlich auf einem bestimmten
kantonalen Territorium und in bestimmten Gemeinden. Darum beharren wir darauf, dass
wir sagen können, was auf diesem Territorium vor sich geht. Wir sind verantwortlich für das
Ganze, aber eben auch für uns selbst – so lange dieses Land seine föderale Struktur behält.
Wenn ich eine Prognose wagen darf, so werden die Kantone tendenziell einen Zuwachs an
Verantwortung erfahren. Das heisst, dass auch der Aufwand zunehmen wird und sich die
Kantone institutionell aufrüsten müssen. Ein Kanton, auf dessen Territorium ein Tiefenlager
betrieben wird, wird nicht ohne „Abteilung nukleare Aufsicht“ oder etwas Ähnliches auskommen. Eine quasi freihändige Handhabung von allem, was irgendwie mit Strahlenschutz
etc. zu tun hat, wird den Ansprüchen nicht genügen.
Je konkreter es wird, desto mehr wird die Bundesangelegenheit de facto zur kantonalen
Angelegenheit. Dieser Transfer von Zuständigkeit und Verantwortung mag informell sein
und aus den Tatsachen selbst erwachsen, von den Kantonen wird er aber überaus konkret
erlebt werden. Das Pflichtenheft wird zulegen, und dann wird irgendwann auch die Frage
gestellt werden, wie es eigentlich um die Rechte der Kantone steht.
Die Einhaltung des Grundsatzes, dass, wer mehr Pflichten hat, auch mehr Rechte haben
soll, wird zweifellos gefordert werden. Was dies bedeuten wird und inwieweit das Tiefenlager die Art beeinflussen wird, wie sich unser Gemeinwesen entwickelt, vermag ich natürlich
nicht zu sagen. Aber ein Projekt dieser Tragweite und Grössenordnung hat durchaus das
Potenzial, die Organisation unserer Gesellschaft zu beeinflussen.
Ich danke Ihnen!