Veranstaltungsbericht - Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED

Veranstaltungsbericht
Datsche, Kneipe, FKK. War die DDR eine „Nischengesellschaft“?
08. Dezember 2015 | 18:00 Uhr | Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin
Am 9. Dezember luden die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die Deutsche
Gesellschaft e. V. und der Berliner Landesbeauftragte für die Unterlagen des
Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR im Rahmen ihrer gemeinsamen zweijährigen
Reihe „Erinnerungsort DDR: Alltag, Herrschaft, Gesellschaft“ zur Abschlussveranstaltung
ein. Thema des Abends waren unter dem Titel „Datsche, Kneipe, FKK. War die DDR eine
‚Nischengesellschaft‘?“ die Rückzugsmöglichkeiten der DDR-Bürgerinnen und -Bürger ins
Private, um sich dem Zugriff von Partei und Staat zu entziehen. Hinterfragt wurde vor allem,
ob sich die SED-Diktatur im Rückblick tatsächlich als „Nischengesellschaft“ charakterisieren
lässt.
Frau Dr. Anna Kaminsky, Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur, begrüßte die Diskutanten und Gäste. Zunächst zog sie eine Bilanz der
Veranstaltungsreihe „Erinnerungsort DDR“. Ziel der insgesamt dreizehnteiligen Reihe der
Jahre 2014/15 sei es gewesen, anhand unterschiedlichster Themen einen möglichst
unverstellten wie kritischen Blick auf die Geschichte der DDR zu vermitteln und neue
Perspektiven zu eröffnen. Besonders erfreulich sei der breite Zuspruch gewesen. Der große
Gesprächsbedarf zeige zum einen, dass die Deutung der DDR und des Lebens dort noch
längst nicht abgeschlossen seien, und zum anderen, wie stark die Erfahrung mit der SEDDiktatur unsere Geschichte bis heute präge. Frau Dr. Kaminsky verwies abschließend auf
die Publikation zur Reihe, die im Frühjahr 2016 – pünktlich zur Buchmesse in Leipzig –
vorliegen solle. Sie berichtete ferner von Plänen für eine neue Gesprächsreihe der
Bundesstiftung Aufarbeitung, des Berliner Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und
der Deutschen Gesellschaft e. V. unter dem Titel „Deutschland 2.0. Die DDR im vereinigten
Deutschland“ für das Jahr 2016.
Im Folgenden leitete Prof. Dr. Dr. h.c. Richard Schröder, Vorstandsmitglied der Deutschen
Gesellschaft e. V., in die Thematik ein. Jeder habe in der DDR seinen eigenen Alltag gehabt,
obschon alle Alltage vieles gemeinsam hätten. Was die DDR-Bürgerinnen und -Bürger
damals als charakteristisch für ihren Alltag zuerst benannt hätten, wäre sicherlich die
Mangelwirtschaft gewesen: „Wir waren eine Gesellschaft von Jägern und Sammlern und
sehr erfinderisch in der Kompensation des Mangels. Die Dinge waren wertvoller als heute.
Wir haben mit viel Fantasie repariert, was heute einfach weggeschmissen wird“, so Herr
Prof. Dr. Dr. h.c. Schröder. Gelobt an der DDR werde heute von vielen die menschliche
Wärme – damals habe sich nicht alles um Geld und Karriere gedreht. Dass es den DDRBürgerinnen und -Bürgern im Unterschied zu den Westdeutschen vor allem um ideelle und
nicht um materielle Werte ging, sei jedoch geflunkert. Allerdings habe der Mangel
erfinderisch und in gewissen Grenzen auch solidarisch gemacht. Die Begeisterung für die
menschliche Wärme in der DDR habe teils auf Verdrängung, teils auf damaliger Unkenntnis
beruht. Jeder hätte jedoch wissen können, dass Christen im Bildungswesen und Berufsleben
benachteiligt wurden, und, dass viele, die die DDR vor 1961 verließen oder später geflohen
bzw. ausgereist seien, nachvollziehbare Gründe dafür hatten, so Herr Prof. Dr. Dr. h.c.
Schröder.
Nach dem Vortrag eröffnete Dr. Jacqueline Boysen das Podium zusammen mit Prof. Dr. Dr.
h.c. Richard Schröder, Michael „Pankow“ Boehlke, ehem. Punk-Sänger und Publizist, Prof.
Dr. Wolfgang Böhmer, Ministerpräsident a. D., der Beauftragten der Bundesregierung für die
neuen Bundesländer Iris Gleicke Dr. Jakob Hein, Psychiater und Schriftsteller. Frau Gleicke
machte deutlich, dass sie mit dem Begriff „Nischengesellschaft“, der von Günter Gaus
geprägt wurde, nicht viel anfangen könne. Es sei richtig, dass sich die DDR-Bürgerinnen und
-Bürger häufig ins Private geflüchtet hätten. Dies habe jedoch nicht unbedingt politische
Gründe gehabt, vielmehr seien oft auch private Interessen ausschlaggebend gewesen. Herr
Prof. Dr. Böhmer berichtete von seiner damaligen Tätigkeit in einem kirchlichen
Krankenhaus, bevor er Politiker wurde. Dies habe exemplarisch für eine „Nische“ gestanden:
„Wir wurden dort von der SED-Regierung in Ruhe gelassen.“
Für Herrn Boehlke spielte der Begriff „Nischengesellschaft“ in der DDR damals keine Rolle.
Als Punk habe man sich von der Masse abheben wollen. Statt sich in eine Nische
zurückzuziehen, hätten die Punks mit ihrem provozierenden Äußeren bewusst die
Öffentlichkeit gesucht. Herr Dr. Hein erzählte davon, dass er sich als Jugendlicher in der
DDR stets zwischen beiden Welten bewegt habe: der offiziellen Sphäre von Schule und
Ausbildung, die durch den allgegenwärtigen Herrschaftsanspruch der SED-Regierung
geprägt gewesen sei, und dem privaten Leben in den „Nischen“, wie zum Beispiel dem
Besuch verbotener Punkkonzerte. Herr Prof. Dr. Dr. h.c. Schröder schilderte seine
Erfahrungen an einem der wenigen kirchlichen Gymnasien in der DDR, das eine echte
„Nische“ gewesen sei: „Ich konnte hier Dinge sagen, die ich an einer staatlichen Schule nicht
hätte sagen können.“ Frau Gleicke teilte diese Sichtweise – auch sie habe unter dem Dach
der Jungen Gemeinde damals ähnliche Erfahrungen gemacht. Sie stellte aber auch fest,
dass es unter 100 DDR-Bewohnern mindestens ein Stasi-Spitzel gewesen sei. Damit habe
man leben müssen, so Frau Gleicke. Schließlich betonte Prof. Dr. Dr. h.c. Schröder, die DDR
erscheine vielen Menschen in Ostdeutschland im Rückblick inzwischen in einem milderen
Licht, als es ihrer eigenen Erfahrungswelt aus der Zeit vor 1989/90 entspreche.
Abschließend erhielt das Publikum die Möglichkeit zum Meinungsaustausch. Betont wurde
hierbei vor allem, dass der Alltag in der DDR ein Alltag in der Diktatur gewesen war. Dies
dürfe bei allen Anekdoten aus dem Alltag der DDR nicht vergessen werden. Der Begriff
„Nischengesellschaft“ werde mit unterschiedlichsten Interpretationen gefüllt und solle in dem
Zusammenhang nicht überdehnt werden. Er sei letztlich nicht geeignet, das Leben im SEDStaat angemessen zu charakterisieren.
Dr. Heike Tuchscheerer