„Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“ - Ansprache zur Jahreslosung Jesaja 66,13 im Gottesdienst am Neujahrstag 2016 in der Nikolauskirche Gerstetten Liebe Gemeinde! Willkommen im neuen Jahr! Und das beginnt bei uns gleich mit einem Trost. Ein warmer tröstlicher Vers aus dem Alten Testament wird uns begleiten. „Ich will euch trösten.“ sagt Gott. Wunderbar, trösten will mich Gott. Dann wird ja alles gut. Allerdings – eigentlich will ich heute gar nicht getröstet werden, denn trösten setzt ja voraus, dass ich weine. Dass es mir nicht gut geht, ich krank bin, oder mir irgendetwas widerfährt – oder meinen Lieben etwas geschieht. Da werden wir doch fast alle abergläubisch – lieber nicht nachdenken heute, dass etwas kommt im begonnenen Jahr, wo Gott uns trösten müsste. Hoffentlich wird alles gut… Und wenn nicht? Dann ist so ein „Trostversprechen“ vielleicht doch nicht so schlecht. So wie ein Kind hoffentlich weiß: wenn ich weine, ist jemand da, der mich tröstet. Wer ist bei Ihnen zu Hause für das Trösten zuständig gewesen? Gab es überhaupt jemanden? Hat Sie jemand in den Arm genommen, über das aufgeschlagene Knie gepustet und „Heile, heile Segen“ gesungen? In wessen Armen wurde alles wieder gut? War es die Mutter? Oder der Vater? Oder die Oma, der große Bruder / die große Schwester? Und: gibt es heute jemanden, zu dem Sie gehen, wenn Sie Trost brauchen? Den Sie anrufen können oder bei dem Sie klingeln? Jemanden, von dem Sie sich in die Arme nehmen lassen? Ja, darf jemand Ihre Tränen sehen? Solche Gedanken gehen uns ganz schön nahe. Sie gehen an die Substanz. Es ist gar nicht einfach, sich trösten zu lassen! Weil wir eigentlich lieber stark sind und nicht schwach. Und weil es gar nicht so selbstverständlich ist, dass jede und jeder von uns jemanden hat, der einen tröstet. Zum Trösten braucht es das Gegenüber. Und wir schaffen doch lieber alles allein. Oder? Ach je, so viel Nähe gleich zu Beginn des neuen Jahres! Ja, soviel Nähe für ein ganzes neues Jahr kommt uns da von Gott entgegen. Getrost sollen wir die ersten Schritte hinein gehen. Sorget nicht. Wachet nicht. Gott weiß, was ihr braucht. Und wir wissen es auch. Tief in uns drinnen sehnt es sich, manchmal oder oft, sehnt sich da etwas. In die Arme genommen werden, sich auf einen Schoß kuscheln. Einschlafen können in einer großen warmen Geborgenheit. Tränen abgewischt bekommen. Gehoben und getragen werden, über den Kopf gestreichelt und gut zugeredet bekommen – das alles, liebe Gemeinde, können wir uns nicht selbst tun. An einem solchen Punkt, dieser großen Sehnsucht, angekommen brauchen wir das Gegenüber, den anderen. Und nun hören wir zugesprochen: Das alles tut Gott. Gott tröstet „wie einen seine Mutter tröstet.“ So heißt unsere Jahreslosung, die sie da auf einem Kunstdruck von Jörg Habedank1 in Händen halten. „Gott ist wie ein Backofen voll Liebe“, so hat es Martin Luther einmal ausgedrückt, als er 1522 von der Wartburg nach Wittenberg kam und in seinen legendären Invokavit-Predigten das Wesen des christlichen Glaubens beschrieb. Die gesamte damalige Welt war in Aufruhr und Luther predigte von einem liebenden, sich sorgenden Gott. „Gott ist wie ein Backofen voll Liebe“, das war die erste Assoziation, die ich beim Betrachten des Jahreslosung-Bildes von Jörg Habedank hatte. Ich sehe darin viel Wärme, Helligkeit und Beheimatung. Es ist ein Gefühl, als würde man in die Sonne schauen. Nicht in die blendende Sonne in ihrem Zenit am Mittag, nicht in die kühle Morgensonne eines vernebelten Februar-morgens, vielleicht eher in einen Sonnenuntergang; Man spürt noch ihre Wärme und Kraft, aber sie hat das Verletzende, Sengende, Gefährliche verloren und ist nun nur noch da: in all ihrer Schönheit und Strahlkraft. Lieder wie „Die helle Sonn leucht jetzt herfür“ (EG 437) oder „Gottes Liebe ist wie die Sonne, sie ist immer und überall da“ gehen mir durch den Kopf. Und dann der Bildraum: Entgrenzt. Randlos. Ewigkeits-Raum. Ja, sogar abgeschnitten an den Rändern, so dass man meint, das Bild müsste weitergehen, sich endlos fortsetzen. Auch darin steckt für mich ein Bild der Liebe Gottes: Wo ich selbst überall auf „meine engen Grenzen“ (EG 589) stoße, wo ich Ängstlichkeit und Sorge verspüre, da ist dieser ganz andere Raum Gottes, der selbst an der Schwelle des Todes nicht Halt macht. Gottes Liebe und Kraft, die mit jedem neuen Tag sich Bahn bricht und grenzenlos verströmt, das sehe ich in dem Bild. Es zieht mich hinein und saugt mich an. Ich kann mich dem Bild kaum entziehen und denke an das Psalmwort „Von allen Seiten umgibst du mich“ (Psalm 139). Es kommt mir vor wie der Fingerabdruck Gottes in unserer Welt. 1 http://www.ejw-buch.de/shop/top/jahreslosung/jahreslosungen/joergenhabedankjahreslosung2014.html Als würde Gott gerade mit seinem Smartphone spielen und zeigen, dass dies die Botschaft ist, die er uns allen für das neue Jahr mitgeben möchte: Das sind die Farben, die für euch gedacht sind: Nicht der Schmutz des Krieges, nicht das Grau in Grau zerstörter Städte wie Donezk, Kobane, Sindschar und Ramadi. Nicht das Grau der Bulldozer, die gerade das Welterbe des Zweistromlandes zerstört. Nein: Wärme und Licht. Umarmung. Ja, auch Trost. Trost in einer Zeit des Aufbruchs ins Ungewisse, ein weiteres Kapitel des Buchs der Weltgeschichte, dessen neue Seiten unbeschrieben vor uns liegen. Der Blick zurück lässt einen Schatten erkennen, der auch in unser Hier und jetzt hineinreicht. Der islamische Terrorstaat und die Fluchtbewegung aus dem Gebiet des fruchtbaren Halbmonds nach Europa – diese beiden Ereignisse haben das vergangene Jahr 2015 geprägt. Erstmals seit Jahrzehnten blickt wieder eine Mehrheit der Deutschen mit einer gewissen Furcht und alles andere als Zuversichtlich in das neue Jahr (EMNID 12/2015), dessen Beginn wir heute feiern und das – sollte man der Jahreslosung Glauben schenken, ihre Botschaft in unser Herz hereinlassen – beginnt unter dem Vorzeichen der Liebe. „Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Angesichts der weltpolitischen Vorzeichen, unter denen wir in das neue Jahr gestartet sind, ist das Habedank-Bild zur Jahreslosung eigentlich eine Provokation, eine Zumutung, denn von welcher Welt erzählt es uns hier? Ist das nicht ewig weit weg und ewig lange her, paradiesische Zustände, gemalt mit einer rot-gelben Brille? Oder zeugt es von einer Hoffnung wider vieler Erfahrungen? „Gott lässt jeden Tag die Sonne aufgehen über Gerechten und Ungerechten“ (Matthäus 5,45b) dieses Wort der Bergpredigt von der Feindesliebe mussten meine armen Realschüler zwei Wochen vor Weihnachten im Religions-Unterricht noch genau durchexerzieren und auf unser Hier und Jetzt anwenden. Gott lässt jeden Tag die Sonne aufgehen über den Soldaten und Freischärlern in der Ukraine, den Terroristen der Boko Haram, den Teufelskriegern des sog. Islamischen Staates in der Levante wie in Lybien. Wie einfach und schön könnte das Leben sein, wenn die Menschen doch in Frieden zusammen leben würden. Wenn die Stärke des Rechts regierte und nicht das Recht des Stärkeren. Und dann geht mir unwillkürlich das Bild einer Mutter durch den Kopf. Denn bei allen kulturellen und religiösen Unterschieden zwischen den Völkern bleibt doch vieles, was uns verbindet. In jedem Kulturraum sorgen sich Eltern, sorgen sich Mütter um ihre Kinder, wünschen ihnen, dass sie in Frieden aufwachsen mögen, dass sich ihre Träume verwirklichen, hoffen, dass diese wiederum selbst Kinder großziehen können. In der Mitte des Bildes sehen wir eine junge Frau, eine Lichtgestalt. Fast schon überirdisch. Engelsgleich. Den zarten Kopf geneigt. Und dann das biblische Wort des Propheten Jesaja. Fest, gewiss, kräftig und stark: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“ Das ist doch Evangelium pur, Frohe Botschaft, Gute Nachricht, lebensschaffend und –stiftend. Ein Wort, das geradewegs auch von Jesus her kommen könnte, zur Zeit seines Wirkens aber bereits altes und guttradiertes Glaubensgut war. Hier spürt man dann die Traditionslinien biblischer Überlieferung: Dieser Jesus von Nazareth, das Kind in der Krippe, fängt nicht in der Stunde Null an, sondern steht in einer langen und reichen Tradition in Verbindung zu Johannes dem Täufer, den Propheten, besonders aber zu Jesaja, der für Gott das Bild einer tröstenden Mutter verwendet. Klar für das Trösten sind die Frauen zuständig. Ganz natürlich. Und war es nicht eher die Mutter, die tröstete? - früher bei Ihnen zu Hause. So sind unsere Bilder. Obwohl ja gar nicht jede Mutter eine gute Trösterin war. Aber doch sind sie in unserem Kopf. Weil das Trösten eben etwas mit Berühren, mit Wärme, mit weicher Haut, mit einer leisen Stimme zu tun hat. Weibliche Attribute sind das in unserer Tradition. Niemand denkt darüber nach. Auf den Mutterschoß genommen zu werden, aus dem wir alle mal gekommen sind. Etwas Großes, Breites, Warmes, Weiches stellen wir uns vor, oder? Auch wenn das so gar nicht dem Schönheitsideal von Frauen und für Frauen entspricht heutzutage. Aber Bilder sind manchmal ganz schön hartnäckig. Kann nicht auch ein Vater trösten? Kann er. Kann er lernen! Kann dazu stehen. Schließlich fahren immer mehr Väter stolz die Kinderwagen und erlernen junge Männer den Beruf des Erziehers. Wie gut, dass sich etwas verändert in unseren Bildern. Auch Patentanten, Nachbarinnen können trösten. Kinder umarmen einander. Männer tun sich noch schwer, sie boxen sich mal freundschaftlich. Aber vielleicht könnte es auch irgendwann gehen, dass einer den anderen ganz fest in den Arm nimmt. Die Jahreslosung hat es in sich. Sie lässt uns Grenzen überschreiten. Männer, die sich in die Arme nehmen oder starke, die sich trösten lassen. Unsere Bilder voneinander und von uns selbst werden ganz schön durcheinander geworfen. Und nun heißt es in unserer Jahreslosung, in einem Vers, den wir am Ende des Buches Jesaja im Alten Testament finden, Gott tröstet wie eine Mutter. Ist Gott also eine Frau? Natürlich nicht. Gott ist ja auch kein Mann. Aber „wie ein Vater sich über Kinder erbarmt, so erbarmt sich Gott über die, die ihn fürchten“ (Ps 103,13). Ebenso nun wie eine Mutter. Wie eine Mutter tröstet, so tröstet Gott die, die sich von ihm / von ihr trösten lassen. Mit warmen wunderbaren Tönen komponierte Johannes Brahms in den Tagen, als er den Tod seiner eigenen Mutter betrauerte, diesen Satz aus dem Buch des Propheten Jesaja in dem 5. Teil seines Deutschen Requiems: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Auf das herzzerreißende Sopran-Solo „Ihr habt nun Traurigkeit“ antwortet der Chor immer wieder in warmen weichen Tönen mit den Worten „Ich will euch trösten“. Wie eine Mutter tröstet, so tröstet Gott. Weibliche Bilder für Gott kommen gar nicht selten in der Bibel vor. Das große Buch Jesaja mit seinen 66 Kapiteln ist voller weiblicher Bilder. Da wird von Jerusalem und anderen Städten erzählt wie von Ehefrauen Jahwes, der Gottheit Israels. Mal wird Schlechtes über sie geredet, dann heißen sie „Dirne“, mal Gutes, dann heißen sie „Braut“. Oft ist der männliche Blick eines Zuschauers zu erkennen. Da schauen Männer auf die Anstrengung der Frauen in Wehen, hören ihr Schreie, sind erschrocken und erzählen in diesen Bildern von dem, was das Volk Israel noch so alles vor sich hat... Und auffallend häufig – wenn Gott selbst zu sprechen beginnt – tauchen im Jesajabuch weibliche Bilder auf. Wenige Verse vor unserer Jahreslosung redet Gott als Hebamme, die Kindern ins Leben hilft. Nicht jeder Mann muss Kinder zeugen und nicht jede Frau Mutter werden! Aber alle haben wir den Anfang unseres Lebens in einer Frau verbracht und wurden von ihr in die Welt geboren. Da ist es doch das Natürlichste dieser Welt, von Gott zu reden, als die, die uns immer neu ins Leben bringt, die uns tröstet, sich unserer erbarmt. Das Wort Erbarmen heißt sogar zugleich „Mutterschoß“. Was ist dann schon dabei, froh und getrost zu sagen: „Ja, Gott tröstet, wie eine Mutter tröstet“? Und dann natürlich auch Gott erzieht uns, ist zornig, scheint nicht da zu sein, wenn wir ihn oder sie brauchen. All das, was das Leben eben ausmacht. Denn das, was das Leben und unsere Beziehungen zu anderen ausmacht, wird zu Bildern, die wir brauchen, um von Gott zu reden. Wie auch sonst, als in Bildern. Nicht in einem einzigen Bild, dafür steht am Anfang des Dekaloges: „Du sollst dir kein Bildnis machen.“ Aber Bilder brauchen wir schon, um zu beschreiben, wie Gott für uns ist. Gott ist wie ein Fels, auf dem ich stehen kann, wie eine Bärenmutter, die für ihre Jungen kämpft, wie eine Glucke, die ihre Küken um sich sammelt, wie der gute Hirte, der auch dem verirrtesten Schaf noch hinterhergeht und den verlorenen Sohn als Vater unter Freudentränen empfängt. Gott ist wie das Licht, das den Weg zeigt, die Kraft, die herausholt. All diese biblischen Bilder beschreiben die Vielfalt der Erfahrungen mit Gott. Und damit zugleich die unendliche Fülle Gottes. Wie erstaunlich! Wie schön! Und wie tröstlich! Lassen wir uns also von IHR trösten, wenn etwas auf uns zukommt, wo wir IHREN Trost brauchen. Nehmen wir IHR Erbarmen an. Auch wenn danach nicht alles wieder gut ist. Manchmal ist gar nichts wieder gut im Leben. Dann kann es nur anders werden. Immerhin. Aber – wie eine Mutter –, SIE bleibt an unserer Seite in guten und in schweren Zeiten. Oft waren es die Mütter, die von ihren straffällig gewordenen Söhnen, die ich in meiner Zeit in der JVA Stuttgart-Stammheim betreut habe, nicht abließen, sie nicht fallen ließen und immer wieder den Kontakt, das Gespräch und die Nähe suchten. Die Väter hätten es oft nicht geschafft, über ihren Schatten zu springen. „Wie eine Mutter“ – mit der Jahreslosung bekommen wir Gelegenheit, in diesem Jahr 2016 den mütterlichen Zügen Gottes auf die Spur zu kommen, und mit ihnen unserer Sehnsucht von Kindesbeinen an, seit wir vom Schoß unserer Mütter gekrabbelt sind: „Ich will euch trösten, wie eine Mutter tröstet.“ Vielleicht auch sollten wir es mit dem angebotenen Trost versuchen, wenn uns die Welt wieder einmal mit ihrem Irrsinn verzweifeln lässt. Wenn uns das Leid der Welt auf den Leib rückt, unser Land sich verändert und viel ängstliches Reden zu hören ist. Dann sich an Gottes Trost erinnern übers Jahr, das wird uns ruhiger machen. Vielleicht sogar macht uns seine bzw. ihre Kraft stark und wir werden selber zu Tröstenden, väterlich und mütterlich, geschwisterlich, freundschaftlich und nachbarschaftlich? Das wird eine große Hoffnung, eine Vision für unser neues Jahr. Getrost können wir uns beim Hinausgehen noch einmal die Hände schütteln und wünschen: „Ein gutes getrostes Jahr mit Gott!“ Amen.
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