Thesenpapier Meyer ( 50.8 KB)

Die Beeinträchtigung des subjektiven
Sicherheitsgefühls als polizeiliche Gefahr
Stephan Meyer, Erfurt
1. Das subjektive Sicherheitsgefühl der Bevölkerung
oder von Bevölkerungsteilen oder Einzelpersonen ist de
lege lata kein Schutzgut, welches den Gefahrenabwehrbehörden präventive Maßnahmen mit Eingriffscharakter gestatten würde. Als Ausnahme hiervon käme allenfalls die Verhinderung solcher Straftaten in Betracht,
die als Tatbestandsmerkmal den „öffentlichen Frieden“
oder die reine Bedrohung (§ 241 StGB) aufweisen. Ob
jene Straftatbestände indes tatsächlich auf das Sicherheitsgefühl als Schutzgut zielen, ist äußerst umstritten.
2. Der Vortrag wird der Frage gelten, ob dieser nahezu vollständige Ausschluss des Sicherheitsgefühls
von polizeilichem Schutz durch Eingriffshandeln von
Verfassungs wegen geboten ist, oder im Gegenteil die
Verfassung eine Ausweitung polizeilicher Befugnisse
zum Schutz des Sicherheitsgefühls zumindest nahelegt. Diese Frage stellt sich, weil die Beeinträchtigung
des subjektiven Sicherheitsgefühls einen individuellen Freiheitsverzicht auslösen kann. Wer sich bedroht
fühlt, übt Grundrechte wie die allgemeine Handlungsfreiheit, die Religionsfreiheit, die Meinungsfreiheit
oder die Versammlungsfreiheit aus Sorge um Leben
und Gesundheit vielleicht nicht mehr aus. Ist Aufgabe des Staates die Effektuierung der grundrechtlichen
Schutzgüter, so rechtfertigt eine solche Lage die Prüfung des Umfangs der von ihr ausgelösten staatlichen
Handlungspflichten. Weiter ist zu fragen, ob bereits
das Bedrohungsgefühl selbst als Schutzgut in Betracht
kommt.
3. Weder das Fehlen eines Störers (etwa bei Naturkatastrophen) noch Unsicherheiten bei der Feststellung
des tatsächlichen Vorliegens einer Störung oder Gefahr
sind dem Polizei- und Ordnungsrecht fremd. Wie zumindest § 241 StGB zeigt, kennt die Rechtsordnung
auch bereits ein Rechtsgut der Freiheit von Bedrohtsein. Der erste Eindruck eines kategorischen Unterschiedes zwischen dem subjektiven Sicherheitsgefühl
und klassischen polizeilichen Schutzgütern ist daher
falsch. Andererseits scheint evident, dass nicht beliebige irrationale Ängste staatliche Eingriffsbefugnisse
FREIHEIT _ SICHERHEIT _ ÖFFENTLICHKEIT
48. ASSISTENTENTAGUNG ÖFFENTLICHES RECHT
auslösen dürfen. Eine Operationalisierung des subjektiven Sicherheitsgefühls als eingriffsermächtigende
polizeiliche Gefahr muss dem Rechnung tragen. Die
Beeinträchtigung des Sicherheitsgefühls muss einen
Auslöser im Tatsächlichen aufweisen und die besorgte
Schädigungshandlung muss ihrer Natur nach in ausreichendem Maße soziokulturell als Gefahr empfunden werden. Die letztgenannte Bedingung entspricht
einem Verständnis des im Risikoverwaltungsrecht
positivierten Vorsorgeprinzips, wonach nicht nur naturwissenschaftlich begründete Risikobefürchtungen,
sondern auch kulturelle Vorbehalte zu eingreifenden
Vorsorgemaßnahmen ermächtigen.
4. Da die Gefahr auf Grund einer Beeinträchtigung
des subjektiven Sicherheitsgefühls nicht von einem
Störer ausgeht, können sich eingreifende Gefahrenabwehrmaßnahmen nur gegen Nichtstörer richten. Die
verfassungsrechtlich zulässige Reichweite von deren
Inanspruchnahme ist in jüngerer Zeit besonders im
Hinblick auf die in Bund und Ländern gesetzlich geregelte „Schleierfahndung“ diskutiert worden. Diese
Befugnis weist mehrere Merkmale auf, die eine Berücksichtigung des dortigen Diskussionsstandes ertragreich
erscheinen lässt. Als geeignet zum Schutz des subjektiven Sicherheitsgefühls werden vor allem (verstärkte)
Personenkontrollen in Betracht kommen. Solche sind
als „Identitätsfeststellung“ in den diversen Vorschriften
zur Schleierfahndung vorgesehen. Diese Identitätsfeststellungen richten sich verdachtslos gegen Nichtstörer.
Allenfalls eine verschwindende Minderheit der Kontrollierten wird einen Straftatverdacht erregen. Ähnlich
läge der Fall bei Personenkontrollen, die in einer bestimmten Region das subjektive Sicherheitsgefühl situativ stärken sollen. Die verfassungsrechtliche Forderung nach engen, vom Gesetzgeber zu bestimmenden
tatbestandlichen Voraussetzungen der Durchführung
einer Schleierfahndung gilt auch für die Gefahrenabwehr im Falle einer Beeinträchtigung des subjektiven
Sicherheitsgefühles.
THESENPAPIER
www.assistententagung.de