Prof. Dr. J. Oechsler Vorlesung Gesetzliche

Prof. Dr. J. Oechsler
Vorlesung
Gesetzliche Schuldverhältnisse
Abschlussklausur mit Lösung
Die S-GmbH hat als Verlegerin das Buch „Menschenversuche im Nationalsozialismus“
herausgegeben. Darin wird aufgrund einer Namensverwechselung G als Lagerarzt des KZ
Buchenwald genannt und einige, zur Tötung von Menschen führende Testreihen beschrieben.
In Reaktion auf die Erscheinung des Buches verliert G seine Kassenzulassung, und ihm wird
die Weiterführung seiner Praxis einstweilen untersagt. Um G gegenüber einen
Hemmungseffekt für künftige Fälle zu bewirken, verlangt G von ihr die aus den aus der
Auflage erzielten Gewinn iHv. 300.000 €. S beruft sich hingegen darauf, dass der Fehler dem
bei S angestellten Lektor L unterlaufen sei: Dieser habe im Text des Manuskripts eine Silbe
mit Hilfe des Computers durchgängig automatisch ersetzen lassen und dabei nicht bedacht,
dass auch der Name des Lagerarztes verändert würde. Der Geschäftsführer der S kann
belegen, L sorgfältig ausgewählt und laufend überwacht zu haben. Allgemeine Anweisungen
für die Bearbeitung der Manuskripte durch die „Suche-und-Ersetze-Funktion“ existieren im
Verlag jedoch nicht. Besteht der Anspruch des G?
Hinweis: Es handelt sich um eine leichte Abwandlung von BGH NJW 1980, 2810
I. § 831 Abs. 1 Satz 1
In Betracht kommt ein Anspruch des G gegen S aus § 831 Abs. 1 Satz 1, gerichtet auf
Entschädigung wegen Verletzung des APR.
1. Verrichtungsgehilfe
Dazu müsste L als Verrichtungsgehilfe der S aufgetreten sein. Dies setzt eine
weisungsgebundene Tätigkeit voraus, wie sie im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und
Angestelltem üblich ist. L war als Lektor bei S angestellt und daher weisungsgebunden. Er
tritt daher als Verrichtungsgehilfe auf.
2. Unerlaubte Handlung (Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht)
Der Verrichtungsgehilfe müsste dabei rechtswidrigerweise eine unerlaubte Handlung
begangen haben. In Betracht kommt ein rechtswidriger Eingriff in das allgemeine
Persönlichkeitsrecht des G nach § 823 Abs. 1 BGB.
Hinweis: Hier kommt § 824 Abs. 1 BGB nicht in Betracht. Die Norm zielt auf Schadensersatz
iSd. § 249 Abs. 1 BGB. Diesen will G jedoch nicht. Ihm geht es um eine Entschädigung, die
sich am Gewinn der S orientiert und auf deren Verhalten einwirken soll. Dabei handelt es
sich um die Ersatzleistung, die nur bei einer schweren und auf andere Weise nicht
wiedergutzumachenden Verletzung des APR nacbh § 823 Abs. 1 BGB gewährt wird. Deshalb
müssen im Folgenden die Voraussetzungen einer Verletzung des APR geprüft werden.
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht des G ist hier berührt, weil die Aufstellung der unwahren
Behauptung unmittelbar seinen sozialen Achtungsanspruch berührt. Dabei ist G in der sog.
Individualsphäre betroffen. In Abgrenzung von der Intimsphäre, dem Bereich persönlicher
Geheimnisse, und der Privatssphäre, dem nicht-öffentlichen Bereich sozialer Kontakte, geht
es dabei um die Sphäre des öffentlichen Wirkens einer Person. Grundsätzlich muss diese sich
dort dem öffentlichen Informationsanspruch stellen. Allerdings wurde gegen G eine
unrichtige Tatsachenbehauptung aufgestellt. Diese muss er, auch bei Beachtung des
Grundrechts des L aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, grundsätzlich nicht gegen sich gelten lassen.
Vielmehr führt hier die Verletzung des in Artt. 1 und 2 Abs. 1 GG vorausgesetzten
allgemeinen Persönlichkeitsrechts dazu, dass das Handeln des L insgesamt rechtswidrig war.
Hinweis: Die vorliegende Darstellung ist äußerst verdichtet und bringt nur die zentralen
rechtlichen Aspekte. Der Grund für diese Art der Darstellung besteht darin, dass der
Schwerpunkt der Klausur nicht in der Verletzung des APR liegt, sondern dessen Verletzung
sogar relativ unproblematisch erscheint: L hat kein schützenswertes Interesse, die falsche
Tatsachenbehauptung aufzustellen. Deren Folgen treffen G aber besonders hart. Unter diesen
Voraussetzungen kann die Verletzung des APR auch in verkürzter Form festgestellt werden.
Von Ihnen als Anfänger wird die Unterscheidung nach Klausurschwerpunkten nicht erwartet.
Später aber gehört die richtige Schwerpunktsetzung zu einer sehr guten Klausur.
3. Verschulden des S
Fraglich ist, ob S vorliegend ein Verschuldensvorwurf trifft. Dagegen spricht jedoch, dass S
sich nach § 831 Abs. 1 Satz 2 exkulpieren kann. Laut SV hat S den L sorgfältig ausgesucht
und ständig überwacht. Damit entfällt die Haftung aus § 831 Abs. 1 Satz 1 BGB.
Hinweis: Hier wird aus didaktischen Gründen § 831 Abs. 1 Satz 1 BGB komplett geprüft. In
einer Examensklausur würde sich vielleicht ein anderer Aufbau eher anbieten. Heißt es
bereits im SV, dass eine Seite den möglichen Verrichtungsgehilfen sorgfältig ausgesucht und
überwacht hat, gibt der Aufgabensteller zu verstehen, dass § 831 Abs. 1 Satz 1 BGB wegen
des Exkulpationsbeweises nach Satz 2 der Norm nicht ernsthaft als Anspruchsgrundlage in
Betracht kommt. Dann sollte die Prüfung der Norm klugerweise in Ihrer Klausur nicht den
Schwerpunkt bilden. Die Prüfung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts wäre daher nicht im
Rahmen des § 831 Abs. 1 Satz 1 BGB, sondern eher bei § 823 Abs. 1 BGB abzuhandeln.
4. Ergebnis
Der Anspruch besteht nicht.
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II. § 823 Abs. 1 BGB
In Betracht kommt jedoch ein Anspruch des G gegen S aus § 823 Abs. 1 BGB gerichtet auf
eine Entschädigung wegen Verletzung des APR.
1. Rechtsgutsverletzung
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht des G wurde rechtswidrigerweise verletzt.
2. Zurechnung (Lehre vom Organisationsverschulden)
Fraglich ist jedoch, ob auch der S diese Verletzung zugerechnet werden kann. S selbst bzw.
ihre Organe (die Geschäftsführer der GmbH) haben G nicht unmittelbar in seinen
Rechtsgütern beeinträchtigt. Eine mittelbare Verletzung wäre der S daher nur zurechenbar,
wenn sie eine Verkehrssicherungspflicht verletzt hätte, die gerade das Persönlichkeitsrecht
des G schützt. In Betracht kommt eine auf den unternehmerischen Betrieb bezogene
Organisationspflicht. Nach der Lehre vom Organisationsverschulden entsteht eine
besondere Verkehrssicherungspflicht, wenn die gewerbliche Tätigkeit eines Unternehmens
die Rechtsgüter Dritter in besonders schwerem Maße berührt. In diesem Fall treffen die
Unternehmensleitung zwei voneinander zu unterscheidende Pflichten: Zunächst müssen die
betrieblichen Abläufe so organisiert sein, dass die absolut geschützten Rechtsgüter Dritter
nicht Schäden ausgesetzt sein. Ferner muss die Unternehmensspitze und mit ihr das
Unternehmen
selbst
unmittelbare
Verantwortung
für
die
Verhinderung
von
Rechtsgutsverletzungen trägt. Die Haftungsverantwortlichkeit innerhalb des Unternehmens
muss mit anderen Worten stets so organisiert sein, dass die Unternehmensspitze unmittelbar
Verantwortung trägt. Denn nur dann besteht auch ein Anreiz, Schäden von den absolut
geschützten Rechtsgütern Dritter fernzuhalten.
Gegen die Begründung einer Verkehrssicherungspflicht dieses Inhalts lässt sich auch nicht
mit einem systematischer Umkehrschluss aus § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB argumentieren,
wonach sich ein Unternehmen ja gerade vom Vorwurf einer unerlaubten Handlung dezentral
entlasten kann. Denn drohen besonders schwere Rechtsgutsverletzungen kann es nicht allein
bei der großzügigen Regelung des § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB bleiben. Diese ist nämlich
historisch einer Epoche zuzuordnen, die noch nicht wie die gegenwärtige von industrieller
Arbeitsteilung geprägt war. Gerade wenn die unternehmerische Tätigkeit die Rechtsgüter
Dritter daher in erheblichem Umfang gefährdet, muss das Unternehmen selbst durch die
erwähnten organisatorischen Vorkehrungen für die Sicherheit im Verkehr Vorsorge treffen
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und
trägt
entsprechend
die
Haftungskonsequenz,
wenn
es
entsprechende
Organisationspflichten verletzt.
Nach einer Mindermeinung, der sog. Lehre von der Repräsentantenhaftung, ist das durch
§ 831 Abs. 1 Satz 2 verursachte Regelungsproblem nicht durch die Begründung einer
besonderen Verkehrssicherungspflicht zu lösen, sondern durch eine analoge Anwendung des
§ 31 BGB. Das von beiden Theorien analysierte Problem besteht darin, dass ein arbeitsteilig
organisiertes Unternehmen besonders schadensträchtige Tätigkeiten nicht auf die unteren
Hierarchieebenen abwälzen darf, um sich dann durch Führung des dezentralen
Entlastungsbeweises nach § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB nachträglich exkulpieren zu können.
Nach der Lehre von der Repräsentantentheorie ist deshalb jede Person „Vertreter“ des
Unternehmens i.S.d. § 31 BGB, die in letzter Verantwortung eine Aufgabe übernimmt, die
das Unternehmen ansonsten nur einem echten organschaftlichen Vertreter iSd. § 31 BGB
überlassen dürfte. Das Verschulden dieser Personen wird der Gesellschaft dann nach § 31
BGB analog zugerechnet, ganz so als wären die tatsächlich beauftragte Person von Rechts
wegen Vertreter des Unternehmens i.S.d. § 31 BGB. Durch die Betrauung eines Angestellten
mit Aufgaben, die nur von einem Vertreter nach § 31 BGB wahrgenommen dürfen, bestellt
das Unternehmen den Angestellten praktisch zu seinem Repräsentanten: Der Anwendung des
§ 31 BGB soll es dabei nicht ausweichen können. Allerdings überdehnt diese Auffassung den
Anwendungsbereich des § 31 BGB in gefährlicher Weise. Denn diese Norm beruht auf dem
Rechtsgedanken, dass die juristische Person das Verschulden ihrer Organe wie eigenes zu
verantworten hat. Damit soll verhindert werden, dass die juristische Person bei der Haftung
gegenüber natürlichen Personen privilegiert wird. Denn auch diese können sich von den
„Taten“ ihrer Organe (Hände oder Münder) nicht distanzieren. Dieser Gedanke passt aber
nicht auf die Fälle der vorliegenden Art, wo es nicht um die Besonderheiten der juristischen
Person und ihrer organschaftlichen Vertreter geht, sondern um die deliktische Verantwortung
innerhalb der arbeitsteiligen Organisation eines Betriebs, den eine natürliche Person führt.
Auch kann diese Lösung nicht ausreichend zwischen Fällen schwerer Rechtsgutsgefährdung,
deren Behandlung nicht der Regelung des § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB überlassen bleiben kann,
und einfacheren Gestaltungen differenzieren. Auch dies spricht gegen diese Lehre, weswegen
die Lehre vom Organisationsverschulden eher überzeugt.
Die Lehre vom Organisationsverschulden ist im vorliegenden Fall anwendbar, weil es um
eine besonders schwerwiegende Rechtsgutsverletzung geht. Die gegen G gerichtete
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Behauptung, als Lagerarzt tätig gewesen zu sein, betrifft nämlich dessen sozialen
Achtungsanspruch in erheblichem Maße, vor allem, da sie im Rahmen eines vermeintlich
seriösen Werkes erhoben wird.
Fraglich ist daher, ob S eine Organisationspflicht als Verkehrssicherungspflicht verletzt hat.
Die Redaktion eines Werks über Konzentrationslager, in der konkrete Vorwürfe gegenüber
namentlich benannten Personen erhoben werden, beschwört aber eine besondere, über das
allgemeine Lebensrisiko hinausreichende Gefahr von Persönlichkeitsrechten herauf. Deshalb
musste auch S ihren Betrieb im erwähnten Sinne sicher organisieren. Gegen die Wahrung
einschlägiger Organisationspflichten spricht jedoch, dass S keine Sicherheitsvorkehrungen zur
Vermeidung einschlägiger Rechtsgutsverletzungen getroffen hatte (Arbeitsanweisungen,
Qualitätskontrolle durch Korrekturlesen usw.). Auch waren die Betriebsabläufe so organisiert,
dass dem Angestellte L die alleinige Verantwortung im haftungsrechtlichen Sinne zukam.
Darin liegt die Verletzung zweier Organisationspflichten.
Die Verletzung dieser Pflichten hat gerade zur Rechtsgutsverletzung des G geführt. Die
Rechtsgutsverletzung ist S daher wegen Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht
zurechenbar.
3. Rechtswidrigkeit und Verschulden
Durch die Verletzung der Organisationspflicht wird die Rechtswidrigkeit indiziert. Letztlich
bedeutet die Verletzung der Organisationspflicht auch, dass die Geschäftsführer der S die
nach § 276 Abs. 2 BGB im Verkehr erforderlichen Verhaltensstandards nicht eingehalten
haben. Das Verschulden der Geschäftsführer wird der S nach § 31 BGB zugerechnet.
4. Entschädigung
Eine Entschädigung kann G wegen der Verletzung des APR nur verlangen, wenn die
Beeinträchtigung besonders schwerwiegend ist. Dies wurde bereits bejaht (oben II 2). Ferner
findet eine Entschädigung nur statt, wenn die Verletzung des APR nicht in anderer Seite zu
beseitigen oder wiedergutzumachen ist. Dafür spricht vorliegend, dass die Behauptung in
einem nach außen seriös recherchiert wirkenden Buch aufgestellt wird. Dieses wurde an eine
Vielzahl von Bibliotheken und
sonstigen Nutzern vertrieben. Sein Inhalt wird dort auf
absehbare Zeit wahrgenommen werden. Auch wenn G neben dem Anspruch auf
Entschädigung Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche aus § 1004 Abs. 1 analog BGB
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zustehen, können diese den eingetretenen Schaden nie ganz beseitigen. Deshalb muss hier der
S vor Augen geführt werden, dass sie bei der Erstellung eine Werkes zu dieser heikelen
Materie nicht so sorglos verfahren kann. Dies spricht für das Zuerkennen einer
Entschädigung.
5. Ergebnis
Der Anspruch besteht.
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