Vorschau - Netzwerk Lernen

Ausgrenzung im Mittelalter
Reihe 12
S1
Verlauf
Material
Klausuren
Glossar
Literatur
Verrückt, unrein, sündig, verdammt – Motive und
Formen gesellschaftlicher Ausgrenzung im Mittelalter
Dr. Ingeborg Braisch, Hamburg
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A
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I/E2
Arme und Bettler im Mittelalter – am Rand der Gesellschaft und doch Teil des göttlichen Heilsplans?
(Zeichnung nach der Manessischen Liederhandschrift)
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O
V
n dieser Unterrichtsreihe befassen sich
die Lernenden mit dem Phänomen gesellschaftlicher Ausgrenzung im Mittelalter: In Predigten, Versromanen, Beichtspiegeln, Gesetzen und Legenden aus
dem 8. bis 14. Jahrhundert lernen sie
Schicksale von Menschen kennen, die
aufgrund ihrer sozialen Situation, ihres
Berufs, ihrer religiösen Einstellung, ihrer
sexuellen Orientierung oder einer Krankheit aus der Gemeinschaft der Christen
ausgeschlossen, entrechtet oder sogar
verfolgt und getötet wurden. In der Auseinandersetzung mit Ungleichbehandlung,
Marginalisierung und Diskriminierung in
einer Gesellschaft, die ganz anders strukturiert war als unsere heutige, erarbeiten
die Schülerinnen und Schüler Motive und
Formen von Ausgrenzung. Abschließend
vergleichen sie Exklusionsprozesse im
Mittelalter mit Beispielen heutiger Ausgrenzung.
Klassenstufe: 7./8. Klasse
Dauer: 6 Stunden
Aus dem Inhalt: Ausgrenzung am Beispiel
von Hexen, Ketzern, Leprakranken, Spielleuten, Heiligen, Prostituierten, Homosexuellen
Kompetenzen:
– das Phänomen der Ausgrenzung in einer
Gesellschaft erkennen
– Motive und Formen der Ausgrenzung
systematisch darstellen
– unterschiedliche Quellenarten angemessen analysieren und interpretieren
– aus mehreren Primärquellen eine gut
lesbare, abstrahierende Zusammenfassung erstellen
– erworbene Kenntnisse in kreativ-gestaltenden Aufgaben anwenden
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92 RAAbits Geschichte November 2015
Ausgrenzung im Mittelalter
Reihe 12
S3
Verlauf
Material
Klausuren
Glossar
Literatur
Die Betroffenen
a) Alle diejenigen, die einen „unehrlichen“ Beruf ausübten und keiner Zunft angehörten
(wie z. B. Henker, Straßenkehrer, Latrinenreiniger, zuweilen auch Schlachter bzw. Metzger,
umherziehende Händler und Hausierer) oder die ihren Lebensunterhalt auf eine Weise verdienten, die als amoralisch galt (Prostituierte, Bader, Spielleute, Gaukler).
b) Körperlich oder geistig Behinderte („Blinde“, „Lahme“, „Krüppel“, „Geisteskranke“)
und Menschen, die an einer gefährlichen ansteckenden Krankheit litten (Aussätzige =
Leprakranke). Krankheiten wurden vielfach als Strafe Gottes für ein Vergehen angesehen;
ein Schlaganfall oder Herzinfarkt wurde als Eingriff des Teufels gedeutet.
c) Bettler, wobei allerdings unterschieden wurde zwischen denjenigen, die ohne Verschulden in Not geraten waren und denen man helfen sollte, und denjenigen, die vagabundierten, angeblich oder wirklich nicht arbeiten wollten und Krankheiten vortäuschten.
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d) Fremde. Da normalerweise jeder, der aus einem anderen Herrschaftsbereich stammte,
als Fremder galt (z. B. war im 13. Jahrhundert ein Mann aus Bologna in Rom ein Fremder)
und nach christlicher Vorstellung jeder Mensch ein Fremder auf Erden war, können wir
nicht von heutigen national geprägten Vorstellungen ausgehen: Pilger durften nicht ausgegrenzt werden, qualifizierte Fremde konnten Rechte erwerben; in kirchlichen Institutionen
spielte die Frage nach der örtlichen Herkunft lange überhaupt keine Rolle, weil ihre Mitglieder – von der Kurie bis zu den unbedeutendsten Orden – aus allen Ländern Europas stammten.
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I/E2
e) Nichtchristen, also Heiden, Juden und Muslime; Christen, die Kritik oder Zweifel an
Glaubensvorstellungen oder an der Politik der Kirche äußerten und zu Ketzern erklärt wurden; Menschen, die sich aufgrund ihrer Auffassung vom wahren christlichen Leben selbst
von ihrer Umwelt abwandten, wie z. B. (spätere) Heilige, und nicht selten zunächst ausgegrenzt wurden.
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f) Menschen, die gleichgeschlechtliche Beziehungen oder Geschlechtsverkehr mit
Tieren hatten. Wegen ihrer Vergehen, die als widernatürlich galten, wurde ihnen oft die
Schuld an Katastrophen zugeschrieben.
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g) Unehelich Geborene und – in unterschiedlichem Maße – Frauen.
Diese Übersicht zeigt, dass bestimmte Berufe und Verhaltensweisen aufgrund der Werteverschiebung in unserer heutigen Gesellschaft einen anderen Stellenwert haben, so wie
beispielsweise „Spielleute“, die wir heute als Unterhaltungskünstler bezeichnen würden,
oder „Ketzer“.
Formen und Methoden der Ausgrenzung
a) Misstrauen, Angst oder Empörung aufgrund verletzter religiöser Überzeugungen, die auf
den Aussagen der Bibel beruhen, aber auch ganz konkrete materielle Interessen am Besitz
der Angegriffenen richten sich gegen einzelne Personen oder ganze Gruppen.
b) Den Opfern werden negative Merkmale und Eigenschaften zugeschrieben. Man tadelt
und verspottet sie durch Schimpfnamen, in Liedern, Sprüchen, Redensarten. In Schriften
und – weitaus wirksamer – in Predigten werden sie herabgesetzt oder sogar verdammt.
c) Verordnungen zwingen die Ausgegrenzten dazu, bestimmte Kleidung und besondere
Kennzeichen zu tragen. Sie gestatten ihnen Wohnrecht und Aufenthalt nur in bestimmten
Orten oder Ortsteilen oder vertreiben sie ganz aus einem Herrschaftsbereich. Gesetze verweigern bestimmten Menschengruppen Rechte, gestehen ihnen nur geringere Rechte zu
oder sprechen ihnen die Ehre ab.
d) Einige Gruppen werden dämonisiert, d. h. ihnen wird vorgeworfen, sie seien mit dem
Teufel im Bunde und müssten getötet werden.
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92 RAAbits Geschichte November 2015
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Verlauf
Material
S1
Klausuren
Glossar
Literatur
Materialübersicht
Stunde 1
Einführung ins Thema – Ausgrenzung im Mittelalter
M
1
(Tx)
Der Fall Agnes Weiß
M
2
(Fo)
Verrückt, sündig, verdammt – Ausgegrenzte im Mittelalter
Stunden 2–4
Ausgegrenzte im Mittelalter – arbeitsteilige Gruppenarbeit
M
3
(Tx)
Ausgegrenzte im Mittelalter – Ketzer
M
4
(Tx)
Ausgegrenzte im Mittelalter – Leprakranke
M
5
(Tx)
Ausgegrenzte im Mittelalter – Spielleute
M
6
(Tx)
Ausgegrenzte im Mittelalter – Heilige
M
7
(Tx)
Ausgegrenzte im Mittelalter – Prostituierte
M
8
(Tx)
Ausgegrenzte im Mittelalter – Homosexuelle
M
9
(Tx)
Ausgrenzung im Mittelalter – Auszüge aus der Bibel Gruppe 2, 4, 5, 6
Gruppe 1
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Gruppe 2
Gruppe 3
Gruppe 4
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Gruppe 5
Gruppe 6
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Stunden 5/6
Auswertung und Fazit – Formen und Methoden der Ausgrenzung
M 10
Ausgrenzung im Mittelalter – ein Überblick
(Ab)
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Lernerfolgskontrolle
M 11
(LEK)
Glossar
I/E2
Die Armen im Mittelalter – auch eine Gruppe der Ausgegrenzten?
Ausgrenzung im Mittelalter – wichtige Begriffe
So können Sie kombinieren und kürzen
Die Zahl der Arbeitsgruppen kann reduziert werden, indem einzelne mittelalterliche
Randgruppen unberücksichtigt bleiben. In Lerngruppen, denen es an der nötigen Reife oder Ernsthaftigkeit für eine sachliche Diskussion mangelt, kann z. B. auf die Gruppen 5 und 6 (Prostituierte, Homosexuelle) verzichtet werden.
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Ausgrenzung im Mittelalter
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Verlauf
Material
S3
Klausuren
Glossar
Literatur
M 2 Verrückt, sündig, verdammt – Ausgegrenzte im Mittelalter
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I/E2
S
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Verlauf
Material
S5
Klausuren
Glossar
Literatur
Ergebnissicherung
Im Gespräch über das Schicksal der Agnes Weiß kann sukzessive eine Skizze an der Tafel
entstehen, die die Phasen der Ausgrenzung illustriert:
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Abschluss
I/E2
Am Ende der Stunde informiert die Lehrkraft die Lernenden über das für die folgenden drei
Stunden geplante Projekt: In Gruppen aufgeteilt sollen sich die Schülerinnen und Schüler
mit Menschen befassen, die im Mittelalter aus unterschiedlichen Gründen ausgegrenzt
wurden, und feststellen, ob diese Ausgrenzungen ebenso verliefen wie bei den Hexen.
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Damit die Schülerinnen und Schüler sich bereits in der Hausaufgabe mit ihrem jeweiligen
Thema vertraut machen können, erfolgt am Ende der Einführungsstunde die Einteilung
der Arbeitsgruppen. Wie die Einteilung der Gruppen sinnvollerweise erfolgt, hängt von
der Situation in der Klasse ab. Da die Themen alle einen ähnlichen Schwierigkeitsgrad aufweisen und – abgesehen von der dritten Aufgabe zur kreativen Anwendung der Ergebnisse
– die gleichen Kompetenzen einüben, erscheint eine Einteilung durch die Lehrkraft sinnvoll.
Dabei empfiehlt es sich, darauf zu achten, dass die Gruppen hinsichtlich Leistungsstärke
und Motivation heterogen zusammengesetzt sind: Es sollten sich möglichst nicht jeweils
alle leistungsstarken Lernenden und auch nicht alle diejenigen, die sich gern anderweitig
beschäftigen, in einer Gruppe zusammenfinden. In relativ homogenen Klassen kann die
Einteilung der Gruppen alternativ auch nach dem Zufallsprinzip erfolgen, z. B. indem die Bilder der Folie M 2 einzeln vervielfältigt werden und die Schülerinnen und Schüler Lose ziehen. Falls sich in einer sehr großen Klasse mehr als 5–6 Lernende in einer Gruppe befinden
würden, sollten Themen doppelt vergeben werden.
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Nach der Einteilung der Gruppen und der Zuteilung eines Themas im Losverfahren bekommen die Schülerinnen und Schüler die entsprechenden Texte für ihre Gruppe. Als Hausaufgabe erhalten sie den Auftrag, auf dem Arbeitsblatt die grundlegenden Informationen
zum Thema zu lesen (grauer Kasten) und die ersten Quellentexte zu bearbeiten: Sie notieren sich knapp den jeweiligen Inhalt und markieren alle Stellen, die ihnen unklar sind.
Hausaufgabe (für alle Gruppen)
1. Lest zur nächsten Stunde die allgemeinen Informationen auf euern Arbeitsblättern
(grauer Kasten) sowie die Texte 1 und 2.
2. Haltet den Inhalt dieser drei Texte in Stichworten fest.
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Ausgrenzung im Mittelalter
Reihe 12
Verlauf
Material
S6
Klausuren
Glossar
M 3 Ausgegrenzte im Mittelalter – Ketzer
Literatur
Gruppe 1
Was sind Ketzer? – Grundlegende Informationen
5
Als „Häretiker“ oder „Ketzer“ wurden im Mittelalter vor allem diejenigen Menschen bezeichnet, die an den Lehren zweifelten, die die katholische Kirche verkündete, oder Aussagen der Bibel anders erklärten als die Theologen. Auch die Kritik an dem angesammelten Reichtum der Kirche und an ihrer weltlichen Macht galten als Ketzerei. Die
bekanntesten Ketzerbewegungen des Hochmittelalters waren die Katharer, die vor allem
in Südfrankreich auftraten, und die Waldenser, die aus Mittelfrankreich stammten und zu
Ketzern erklärt wurden, weil sie Armut forderten, als Laien die Bibel lasen und predigten,
ohne Geistliche zu sein.
Text 1
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Ein „verrückter“ Bauer
Der Benediktinermönch Rodulfus Glaber erzählt in seinem zwischen 1031 und 1047 verfassten Geschichtswerk von dem Bauern Leutard, der in Mittelfrankreich lebte.
I/E2
5
10
[Leutard schlief eines Tages auf dem Feld ein und träumte, dass ein Bienenschwarm1 durch den After in ihn eindrang, aus seinem Mund hervorquoll, ihn stach und von ihm verlangte, er solle das
Kreuz in der Kirche zerschlagen und den Bauern die Offenbarungen Gottes mitteilen.] Er sprach in
einem nicht endenden Redestrom, aber was er sagte, war nutzlos und falsch. Er wollte wie ein Gelehrter auftreten, lehrte aber [Falsches]. Denn er sagte, den Zehnten2 zu zahlen sei vollkommen
überflüssig und unnötig. [Er bemäntelte seine Aussagen mit Zitaten aus der Heiligen Schrift und
sammelte bald eine große Anhängerschar um sich.] Das erfuhr der sehr gelehrte alte Bischof Jebuin
und ließ Leotard zu sich rufen. […] Er bewies, dass der Mann vom Wahnsinn der Ketzerei befallen
war, und sorgte dafür, dass das getäuschte Volk von seinem Wahnsinn abließ und wieder zum katholischen Glauben zurückfand. Der Bauer aber, der sah, dass er besiegt und von der Volksgunst
verlassen war, stürzte sich in einen Brunnen und beging Selbstmord.
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Rodulfi Glabri Historiarum libri quinque. Hg. u. übers. v. John France. Oxford: Clarendon 1989. Buch II 22. S. 88–91.
Übers. aus dem Lateinischen von I. Braisch.
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V
Erläuterungen: (1) Bienen sind im Mittelalter ein Symbol für Gelehrtheit und die Fähigkeit, sehr gut und überzeugend zu reden: Von einem Heiligen wird erzählt, ein Bienenschwarm sei in seinen Mund geflogen. (2) Der Zehnte war eine Art Kirchensteuer: Jeder Bauer musste jährlich den zehnten Teil seiner Erträge (Getreide, Gemüse, Eier,
Lämmer, Obst etc.) an die Kirche abgeben.
Text 2
Eine Anfrage
Im Jahr 1143 schreibt der Probst eines westfälischen Klosters an Bernhard von Clairvaux,
den berühmten Leiter eines Reformordens, einen Brief. Darin finden sich folgende Zeilen.
5
10
Hier in der Umgebung von Köln sind kürzlich einige Häretiker entdeckt worden, von denen einige, nachdem sie Buße geleistet hatten, zur Kirche zurückgekehrt sind. Zwei aber – ein Mann, der als
ihr Bischof bezeichnet wurde, mit seinem Begleiter – widersetzten sich uns in einer Zusammenkunft von Geistlichen und Laien, während der Herr Erzbischof selbst und einige große Adlige anwesend waren, und verteidigten ihre Häresie mit den Worten Christi und des Apostels Paulus. [...]
Als sie drei Tage lang ermahnt worden waren und nicht hatten widerrufen wollen, wurden sie vom
Volk ergriffen, das von allzu großem Eifer erfasst war, und gegen unseren Willen ins Feuer geworfen und verbrannt. Was noch erstaunlicher ist: Sie hielten die Qual des Feuers nicht nur geduldig
aus, sondern gingen sogar voller Freude ins Feuer und ertrugen es. Hier, ehrwürdiger Vater, wäre
ich bei dir, wünschte ich mir deine Antwort, wieso diese Gefährten des Teufels einen Mut zeigen,
den man kaum selbst bei Menschen findet, die sehr fest im Glauben an Christus sind.
Epistola CDLXXII, 3 Everini Steinfeldensis praepositi ad S. Bernardum (Brief des Abtes Eberhard von Steinfels an
den hl. Bernhard). In: S. Bernardi abbatis primi Clarae-Vallensis opera omnia (Alle Werke des Abtes Bernhard v.
Clairvaux). Hg. v. Jean Mabillon. In: Migne, Jacques-Paul: Patrologia Latina. Bd. 182. Turnholt: Brepols 1966 (1854).
S. 675. Sp. 677 B/C. Übers. aus dem Lateinischen von I. Braisch.
92 RAAbits Geschichte November 2015
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Text 5
Verlauf
Material
S8
Klausuren
Glossar
Literatur
Maßnahmen des Kaisers
1232, als die Kirche bereits Inquisitoren einsetzt, erlässt Kaiser Friedrich II. eine Verordnung
gegen die Ketzer im Reich, die er als „Schlangensöhne des Unglaubens“ bezeichnet.
5
10
[Alle Ketzer, die von der Kirche verurteilt wurden, sollen hingerichtet werden. Wer aus Angst vor
dem Tod zum katholischen Glauben zurückkehrt, wird mit lebenslänglicher Kerkerhaft bestraft.]
Außerdem sollen diejenigen, die jeweils die Gerichtsbarkeit haben, alle Ketzer, die [...] im Reich
durch Inquisitoren des Apostolischen Stuhls und andere Männer, die eifrig für den rechten Glauben kämpfen, aufgespürt [und von ihnen angezeigt wurden], festnehmen und streng bewachen,
bis sie diese nach dem Urteilsspruch der Kirche einen schändlichen Tod erleiden lassen. [Die Todesstrafe gilt auch für ihre Helfer sowie alle, die der Ketzerei abgeschworen haben, aber rückfällig
geworden sind.] Alle, die Ketzer begünstigen und verteidigen, sollen außerdem dadurch bestraft
werden, dass ihre Kinder und Enkel allen Besitz verlieren und keine öffentlichen Ämter und Ehrenposten bekleiden dürfen. Aber in unserer Barmherzigkeit verfügen wir, dass Söhne, die der
Ketzerei ihrer Väter nicht folgen und den heimlichen Unglauben der Väter bekannt machen,
gleich wie die Bestrafung ihrer Väter ausfällt, wegen ihrer Unschuld der oben erwähnten Strafe
nicht unterliegen.1
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Constitutio (Verordnung) Friedrichs II. vom März 1232. In: Huillard-Bréholles, J.-L.-A.; Albertis de Luynes, H.: Historia diplomatica Friderici Secundi. Paris: Plon 1854. Bd. IV, 1. S. 300 f. Übers. aus dem Lateinischen von I. Braisch.
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Erläuterung: (1) Sie können also erben und haben Zugang zu allen Ämtern und Ehrenposten.
Aufgaben
Ketzer im Mittelalter
1. Lest alle Texte auf den Arbeitsblättern für eure Gruppe und fragt eure
Lehrkraft, falls ihr etwas nicht verstanden habt.
a) Was verstand man unter Ketzern?
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2. Schreibt einen gut lesbaren Artikel
über Ketzer im Mittelalter, den ihr
ohne Bedenken ins Internet stellen
könntet.
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V
Tipp: Achtet darauf, dass euer Text
alle Fragen im Kasten rechts beantwortet.
3. Lest die folgende Geschichte und
entwerft ein Skript für den Film „Der
Fall Antonio Rossi“.
b) Weshalb wurden sie so streng von der Kirche verfolgt?
c) Welche Bilder, Vergleiche und Ausdrücke
wurden für sie benutzt?
d) Was wurde ihnen, abgesehen von ihren
Glaubensvorstellungen, noch vorgeworfen?
e) Mit welchen Methoden gingen die Kirche
und weltliche Machthaber (Könige, Stadträte usw.) gegen sie vor?
f) Was bedeutete das für Ketzer und diejenigen, die als Ketzer angeklagt wurden?
In Siena in der Toskana gibt es um 1280 noch immer einige Familien, die nicht mit der
Politik des Papstes einverstanden sind, obwohl diese Haltung zu dieser Zeit sehr gefährlich ist. Dazu gehört auch Antonio Rossi, der sehr erfolgreich mit Getreide aus Sizilien handelt und seinen Konkurrenten in Siena einige gute Geschäfte weggeschnappt
hat. Vor Kurzem hat er einen Palazzo gekauft, auf den auch der papsttreue Ratsherr
Adenolfo ein Auge geworfen hatte. Antonios Frau Marguerite stammt aus Toulouse, wo
angeblich die Katharer noch immer nicht ausgerottet sind. Nun hat sich ein päpstlicher
Inquisitor angesagt, um zu überprüfen, ob sich in Siena möglicherweise Ketzer verborgen halten …
92 RAAbits Geschichte November 2015
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Ausgrenzung im Mittelalter
Reihe 12
Verlauf
Material
S 29
Klausuren
Glossar
Literatur
Galvano, der lieber mit seinen Freunden ausreitet, als im Geschäft des Vaters zu arbeiten.
2. Szene: Adenolfo berät mit einigen Geschäftsfreunden, wie man Antonio schaden könnte.
Adenolfos Frau soll das Gerücht ausstreuen, sie wisse, dass Marguerite sich schon mehrfach nachts heimlich aus dem Haus in den Keller einer Ruine geschlichen habe und erst im
Morgengrauen zurückgekehrt sei. Aus diesem Keller habe man unheimliche Gesänge, Kreischen und Stöhnen vernommen. Wahrscheinlich träfen sich dort Ketzer, um Orgien zu feiern. 3. Szene: Der Inquisitor zieht in Siena ein und fordert alle Einwohner auf, ihm Ketzer anzuzeigen. Wer das tue, zeige, dass er keine Gemeinschaft mit ihnen habe. 4. Szene: Adenolfo
zeigt Antonio anonym beim Inquisitor an: Er habe sich abfällig über den Papst und dessen
Politik geäußert. Galvano erfährt davon, dass sein Vater vielleicht als Ketzer angeklagt werden könnte, und hat Angst, sein Erbe zu verlieren.
Erläuterungen (M 4)
Gruppe 2: Leprakranke
Zu 2: a) Laut der Bibel entschied bei den Juden ein Priester darüber, ob jemand krank war.
Der Erkrankte musste durch seine Kleidung, sein ungepflegtes Äußeres und Rufe zeigen,
dass er unrein war, er durfte nicht mit den anderen Juden zusammenleben und auch nicht
an Gottesdiensten teilnehmen. Ein König konnte sein Amt nicht mehr wahrnehmen. Ein
Grund für den Aussatz konnte eine Strafe Gottes sein, weil jemand gegen seine Gebote verstoßen hatte. b) Kennzeichen der Lepra waren Hautverfärbungen, Knotenbildung, Haarausfall, Veränderung der Stimme und Verformungen und Absterben der Gliedmaßen. Die anderen Menschen ekelten sich vor dem Erkrankten und verspotteten ihn. c) Die Lepra wurde
wie in der Bibel als Strafe Gottes angesehen, z. B. für Gotteslästerung. d) Der Erkrankte wurde für tot erklärt, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und verlor seinen Besitz. Er musste eine besondere Kleidung tragen und sich mit einer Klapper oder Glocke bemerkbar machen. Menschenansammlungen musste er meiden, manchmal war auch das Verlassen des
Leprosoriums verboten. In Krisenzeiten wurde Leprakranken beispielsweise auch die
Schuld an Krankheiten zugeschoben. e) Die Behauptung, jemand sei an Lepra erkrankt, wurde missbraucht, um unliebsame Menschen bzw. Familien zu schikanieren, sie aus der Gemeinschaft auszustoßen und auch, um sich ihres Vermögens zu bemächtigen.
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Zu 3: Die Gruppe kann sich für die Variante entscheiden, dass Bernhard sich tatsächlich angesteckt hat, oder aber, dass der Konkurrent seines Vaters ihn wegen einer angeblichen
Lepraerkrankung beim Rat der Stadt anzeigt und Bernhard aufgrund seines Hautausschlages und einer schweren Erkältung für leprakrank erklärt wird. Sollte das der Fall sein, kann
Hans Morus darauf spekulieren, billig das Geschäft aufzukaufen und einen Konkurrenten
loszuwerden.
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Erläuterungen (M 5)
Gruppe 3: Spielleute
Zu 2: a) + b) Der Begriff „Spielleute“ umfasst viele verschiedene Berufe: Spielleute musizierten, sangen Lieder; wenn sie einen Herren hatten, dichteten sie für ihn Loblieder und
verspotteten seine Feinde. Zu den Spielleuten zählten auch Akrobaten oder Jongleure,
manche führten Zauberkunststücke vor oder dressierte Tiere, andere verkleideten sich,
spielten Sketche oder tanzten. Spielleute traten an den Höfen der großen Herren auf, bei besonderen Gelegenheiten wie Hochzeiten oder einem Ritterschlag und auf Märkten. c) Sie
waren sehr begehrt, denn da sie meist fahrende Künstler waren und durch die Lande zogen,
erfuhr man von ihnen die neuesten Nachrichten. Sie unterhielten und amüsierten die Menschen, lästerten und lobten für Geld – aber das waren in den Augen der Kirche nutzlose Tätigkeiten, keine richtige Arbeit. Sie lebten auf Kosten anderer. Die Kirche untersagte den
Geistlichen, Spielleuten zuzusehen und zuzuhören, und verbot, ihnen etwas für ihre Kunststücke zu schenken. Die Spielleute wurden sogar mit Dienern des Teufels gleichgesetzt. Sie
wurden von Sakramenten ausgeschlossen und kamen angeblich nicht ins Paradies. d) Man
erkannte sie an ihrer Kleidung und ihrem Haarschnitt; die meisten hatten keinen festen
Wohnsitz. e) Ihre Namen deuten darauf hin, dass sie oft kein Dach über dem Kopf und keine
ordentliche Kleidung hatten, Hunger litten und wenig Recht und Schutz genossen; außerdem wurden sie mit Prostituierten und Betrügern gleichgesetzt.
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92 RAAbits Geschichte November 2015
Ausgrenzung im Mittelalter
Reihe 12
Verlauf
Material
S 30
Klausuren
Glossar
Literatur
Zu 3: Beispiel für ein Facebook-Profil:
Thomas Ohnebrot, [email protected] Passwort: Hungerleider! Geburtsdatum: etwa
1252 Familienmitglieder: Bertranda, die Tänzerin (Ehefrau), Jakob, Arnulf, Maria, Anna (Kinder) Freunde: Wilhelm Pfennig (Superjongleur! immer noch Single!), Adam der Bucklige
(spielt wunderbar die Drehleier), Reginald der Lügner (ich kenne niemanden, der bessere
Lügengeschichten erzählt), Suchsbrot (hat seinen Namen leider zu Recht) Ausbildung: beim
Vater Singen, Spielen auf der Schnabelflöte, der Geige und Harfe gelernt. Veranstaltungskalender: im Juli Turnier bei Burg Katzenstein, vielleicht Abstecher zur Burg Niederhaus –
der Hürnheimer hat uns letztes Mal gut empfangen und mir einen Mantel geschenkt; Ende
August: Hochzeit in Göppingen; September: Kirchweih in Schwäbisch Gmünd, nachfragen
wegen Pilgerfahrt nach Kloster Lorch!
Erläuterungen (M 6)
I/E2
Gruppe 4: Heilige
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Zu 2: a) Elisabeth und Franziskus entschließen sich beide, Christus nachzufolgen und das
Armutsideal zu verwirklichen. b) Sie richten sich nach den Aussagen im Neuen Testament,
in denen Christus die Menschen auffordert, sich um die Armen und Kranken zu kümmern.
Auch sagt er, wer ihm nachfolgen wolle, müsse all seinen Besitz weggeben. c) Elisabeth verschenkt so viel wie möglich, gründet ein Hospital und widmet sich ganz der Pflege der Armen und Kranken. Sie verkehrt mit niedriger gestellten Menschen wie mit Ihresgleichen, sie
scheut sich nicht, ekelerregende Bettler zu pflegen, sie beklagt sich nicht, wenn man ihr Unrecht tut, zeigt Demut, wenn sie erniedrigt wird, trägt geflickte Kleider und spinnt Wolle.
Franziskus gibt seinen gesamten weltlichen Besitz auf und wagt es schließlich sogar, halbnackt in seine Vaterstadt zurückzukehren. d) Ihre Umwelt reagiert mit Verwunderung, Tadel,
Spott, Hohn und Verachtung. Elisabeth wird verjagt, man nimmt ihr ihr Vermögen und die
Kinder; der Ritter, der sie zurück nach Ungarn holen soll, ist entsetzt über ihre einer Königstochter unwürdige Kleidung und Beschäftigung. Franziskus wird von seinem Vater sogar
eingesperrt, geschlagen und gefesselt. e) Beide tun Dinge, die man von ihrem Stand nicht
erwartet. Die Verwandten sehen nur das äußere Erscheinungsbild, haben Sorge um Ansehen und Besitz. Dass jemand die Worte der Bibel ernst nehmen und Christus in Armut nachfolgen könnte, wird als etwas Ungehöriges und sogar als Wahnsinn abgetan.
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Zu 3: Beispiele für Tweets:
Sophie von Thüringen @Sothü
10 Jan 1221
Sothü: Dieses Mädchen ist #unmöglichkeinepassendefraufürmeinensohn! #diebenimmtsichwieeinemagd!
Heinrich Raspe @Heras
12 Dec 1227
Heras: Verschenkt das #gesamtekorn! Ist die noch bei Trost? Wo kämen wir denn hin, wenn wir den Armen alles gäben?
per Bernardone @PierBern
23 Jun 1205
PierBern: Ich könnte den Bengel umbringen! Diese Schande!
#ganzassisilachtüberihn!
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S 32
Klausuren
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M 10 Ausgrenzung im Mittelalter – ein Überblick
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S 33
Klausuren
Glossar
Literatur
Hinweise (M 10)
Stunde 5/6: Auswertung und Fazit – Formen und Methoden der Ausgrenzung
In einer Doppelstunde tragen die Lernenden die Ergebnisse ihrer Arbeitsgruppen vor. Gemeinsam wird ein Fazit gezogen und die Ergebnisse werden in einem Tafelbild gesammelt
(M 10). Dann erfolgt ein Vergleich mit Beispielen von Ausgrenzung in unserer Gegenwart.
Einstieg
Jede Gruppe berichtet kurz über ihre Arbeit und ihre Erfahrungen. Das kann nach folgendem Schema in vier Schritten geschehen: 1.) „Wir haben uns mit dem Thema ... beschäftigt.“; 2.) „Schwierig war ...“; 3.) „Interessant war … / Spaß gemacht hat ...“; 4.) „Wir haben
unser Thema in Form eines Interviews/Facebook-Eintrags/Tagebuchs … dargestellt.“
Kurz kann im Anschluss darüber diskutiert werden, ob „anachronistische“ gestalterische
Aufgaben wie die Erstellung eines Facebook-Profils, das Verfassen fiktiver Twitter-Nachrichten etc. als sinnvoll oder als störend empfunden wurden – im zweiten Fall sollten die
Lernenden Verbesserungsvorschläge machen.
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Erarbeitungsphase I
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Nachdem die Reihenfolge der Vorträge festgelegt worden ist, trägt die erste Gruppe ihren
von der Lehrkraft korrigierten Internetartikel (Aufgabe 2) vor und antwortet auf Fragen der
anderen Gruppen. Dann stellt die Gruppe ihre Lösung der dritten Aufgabe vor; in einer gut
harmonierenden Klasse kann diese gestalterische Aufgabe mit Punkten bewertet werden.
Der Internetartikel (bzw. der ausgefüllte Steckbrief, siehe Vorlagen auf CD 92) wird allen Lernenden als Datei-Anhang zugeschickt; idealerweise wird er auch tatsächlich (z. B. auf der
Website der Schule) ins Internet gestellt. Dann präsentiert die zweite Gruppe usw.
S
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I/E2
Im Rückgriff auf die fünf Schritte der Ausgrenzung, die in Stunde 1 der Reihe identifiziert
wurden, sollten die Lernenden folgende Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den
Gruppen im Hinblick auf den jeweiligen Prozess der Ausgrenzung herausarbeiten:
O
V
Gemeinsamkeiten
Unterschiede
– Es handelt es sich (zumindest ursprünglich) um Chris- – Gründe der Ausgrenzung:
ten; nur bei Ketzern konnte es vorkommen, dass Kin• Ketzer werden aus religiösen Gründen ausder z. B. von Katharern bereits als Katharer aufwuchgegrenzt
sen.
• Heilige, weil sie sich nicht so verhalten, wie
– Sie gehören nicht mehr zu der Gesellschaft, in der sie
ihre Familie und Umgebung es von ihnen erleben; sie werden durch Verdächtigungen, Schuldzuwartet
weisungen, Spott und Kritik an den Rand gedrängt.
• Leprakranke haben eine ansteckende und
– Sie müssen mit Bloßstellung und Verboten rechnen,
damals unheilbare Krankheit
werden z. T. verfolgt, vor Gericht gestellt und sogar • Prostituierte und Spielleute haben einen „Behingerichtet.
ruf“, der als unmoralisch gilt – die Gesellschaft braucht sie, verachtet sie jedoch
– Die Ausgrenzung ist unabhängig von Besitz und
Stand: Sie kann jeden treffen, die Landgräfin ebenso • Homosexuelle verstoßen nach mittelalterliwie ein armes Mädchen, den reichen Kaufmannscher Vorstellung gegen die Natur und den
sohn ebenso wie einen Knecht.
Willen Gottes
Die Gegenüberstellung macht deutlich: Die am Beispiel der Hexen erarbeiteten fünf Schritte der Ausgrenzung treffen in unterschiedlicher Form und Härte auch die anderen Gruppen.
(Heilige, Spielleute und Prostituierte haben dabei nicht unbedingt eine Funktion als Sündenbock; ein Prozess und die Hinrichtung drohte vor allem Ketzern und Homosexuellen.)
Als Zusatzmaterial finden Sie auf CD 92 eine tabellarische Übersicht der untersuchten Ausgrenzungsprozesse anhand der in Stunde 1 erarbeiteten fünf Schritte.
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S 34
Klausuren
Glossar
Literatur
Ergebnissicherung I
Zur Erinnerung werden an der Tafel noch einmal die Begriffe notiert: „Ketzer, Leprakranke,
Spielleute, Heilige, Prostituierte, Homosexuelle“. Im Klassengespräch wird dann versucht,
die Motive und das Verhalten der damaligen Gesellschaft diesen Gruppen gegenüber zusammenzufassen (siehe Tafelbild M 10).
Diese detaillierte Übersicht sollte abschließend allen Lernenden zur Verfügung stehen.
Überleitung zum Vergleich mit der Gegenwart
Die Lehrkraft macht dann die scheinbar abschließende Bemerkung: „Das, was wir erarbeitet haben, war ja nun ,finsteres Mittelalter‘. Heute in unserer aufgeklärten Gesellschaft gibt
es solche Ausgrenzungen zum Glück nicht mehr!“ – Diese bewusst provokante Aussage erzeugt in aller Regel Widerspruch vonseiten der Schülerinnen und Schüler.
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Erarbeitungsphase II
I/E2
Im Klassengespräch können die Beispiele „Spielleute“ und „Leprakranke“ herausgegriffen
werden. An diesen zwei Gruppen (bzw. ihren modernen Pendants: Künstlern und Aidskranken) kann exemplarisch überprüft werden, wie sich unsere heutige Gesellschaft zu einzelnen Menschen oder Gruppen verhält, die sich durch ihren Beruf oder eine Angst erzeugende Krankheit von ihrer „normalen“ Umwelt unterscheiden. Im Vergleich zum Mittelalter
werden dabei (positive) Entwicklungen ebenso wie (negative) Kontinuitäten sichtbar.
H
C
„Spielleute“: Die Lehrkraft fragt zunächst, ob es eigentlich heute noch „Spielleute“ gebe.
Die Lernenden tragen daraufhin Beispiele zusammen (Schauspieler, Schlagersänger,
Bands, Popstars, Kabarettisten, Moderatoren von Fernsehshows etc.). Sie alle werden heute jedoch nicht mehr ausgegrenzt, sondern stehen häufig in Bezug auf ihr Ansehen, ihre Beliebtheit und ihr Einkommen sogar als „Stars“ an der Spitze der Gesellschaft.
S
R
Die Lernenden werden zunächst Probleme haben, die Gründe für diese Veränderung herauszufinden. Daher kann die Lehrkraft auf das Tafelbild verweisen und Hinweise geben:
Die Menschen haben im Mittelalter ebenso viel Freude an kunstvollen Vorführungen und
Spaß an Unterhaltung gehabt wie wir. Religiöse Überzeugungen („amoralischer Beruf“;
„wer sich unterhalten lässt, denkt nicht mehr an Gott und an sein Seelenheil“) hatten dabei
aber ein viel größeres Gewicht. Für unsere heutige Gesellschaft, in der viele Menschen keiner Glaubensgemeinschaft angehören, sind sie nicht mehr bindend; die Kirche könnte sie,
selbst wenn sie wollte, nicht mehr durchsetzen. Zudem kann auch auf das Grundgesetz und
das darin verankerte Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit verwiesen werden: Zur
freien Entfaltung gehört auch, wie man seine Freizeit gestaltet. Schließlich spielen auch die
Medien eine Rolle: Sie bestimmen unser Leben heute in einem Maße (auch als Wirtschaftsmacht), das selbst für unsere Großeltern noch unvorstellbar gewesen wäre.
O
V
„Leprakranke“: Als zweites Beispiel nennt die Lehrkraft die Krankheit Lepra, heute heilbar,
aber in Asien und Afrika noch immer weit verbreitet. In Europa ist sie fast ausgerottet – 1982
gab es in der Bundesrepublik 60 Leprakranke. Die Lernenden überlegen, ob es bei uns überhaupt noch Krankheiten gibt, die bei der Umwelt Angst erzeugen und aus vorgeblich moralischen Gründen verurteilt werden. Als Antworten sind Hinweise auf „Aids“, auf „Drogenabhängigkeit“ und „Alkoholismus“ denkbar. Die Lehrkraft kann dann die Frage aufwerfen,
weshalb sich bei uns Aidskranke oft scheuen, über ihre Krankheit zu sprechen. (Zur Veranschaulichung kann die Lehrkraft erzählen, dass der Regisseur Ted Demme, als er 1993 den
Film „Philadelphia“ drehen wollte, größte Probleme hatte, einen Schauspieler zu finden,
der bereit war, einen homosexuellen Aidskranken zu spielen.) Als Grund kann herausgearbeitet werden, dass über Aids immer noch viele haltlose Vorurteile im Umlauf sind („Aidskranke sind selbst schuld an ihrer Krankheit, weil sie wahllos Sex haben“; „man kann sich
anstecken, wenn man zusammen arbeitet, gemeinsam in der Kantine isst“ etc.). Wer an
Aids erkrankt ist, muss daher damit rechnen, dass er Nachteile erleidet und ausgegrenzt
wird, wenn seine Krankheit bekannt wird. Er muss befürchten, dass er z. B. auf der Job- oder
92 RAAbits Geschichte November 2015
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