Slavoj Zizek: Das Jahr der gefährlichen Träume

Slavoj Zizek:
Das Jahr der gefährlichen Träume
Rezension von Marco Maria Emunds
Salvoj Zizek gilt als das Enfant terrible der gegenwärtigen
Philosophieszene. Geboren im ehemaligen Jugoslawien, lehrt
der Slowene Zizek als Gastprofessor an unterschiedlichen
Universitäten in Europa und den Vereinigten Staaten. Seine
wirkliche Heimat ist nach eigener Aussage allerdings die
Theorie, das Denken und Fragen, mit dem er seit einigen
Jahren seine Bücher füllt. Dabei kreist sein eigener Kosmos
um eine Reihe von Fixsternen, auf die er immer wieder Bezug
nimmt. Kant, Hegel, Nietzsche, Freud, Marx und Badiou
bilden dieses Amalgam verschiedenster Anknüpfungspunkte,
in deren Mitte der französische Psychoanalytiker Jacques
Lacan steht, von dem Zizek seine Hauptinspiration bezieht.
Viele von Zizeks Theorien und Gedankenspielen erscheinen
auf den ersten Blick zwischen Abstrusität und Provokation zu
changieren und lassen den Leser mit mehr offenen Fragen
zurück, als das ihm mögliche Antworten geboten werden. Wer
sich jedoch auf dieses Denkabenteuer einlässt, die bohrenden
und nicht selten schmerzhaften Anfragen an gewohnte
Denkmuster und Moralitäten zulässt und aushält, der entdeckt
eine ganze Reihe neuer und erhellender Blickpunkte auf
Fragen und Probleme unserer Gegenwart.
Das Jahr der gefährlichen
Träume.
Slavoj Zizek
S. Fischer Verlag
Eine der Hauptaufgaben, der Zizek sich verschrieben hat, ist das Aufdecken der
unterschwelligen Ideologien, die in unserer Zeit und unserer Gesellschaft verborgen liegen. Die
entscheidende Ideologie, die unser Leben mehr denn je beeinflusst, ist für den bekennenden
Linken Zizek der Kapitalismus mit seinen unterschiedlichen Machtmechanismen und
Ausprägungen. Dabei geht er ebenso hart mit den Ideen und Antworten der klassischen Linken
ins Gericht wie mit der für ihn nur oberflächlich freiheitlichen Idee des Liberalismus und der
Mehrheitsdemokratie. Ein entscheidendes Element, in dem er die Ideologie aufspürt und sie
dem Leser ebenso gekonnt wie unterhaltsam darlegt, ist der moderne Film à la Hollywood.
Diese Themen und diese Methode finden sich auch in seinem neusten Buch „Das Jahr der
gefährlichen Träume“, erschienen im S.Fischer Verlag, wieder.
Der Kapitalismus als „weltlose“ Ideologie
Der Titel bezieht sich auf das Jahr 2011, in dem Zizek in mehreren Ereignissen Umbrüche und
Entwicklungen am Werk sieht, deren wirkliche Bedeutung und Auswirkungen wir erst auf den
zweiten Blick erahnen können. Zu diesen Ereignissen zählt er den Arabischen Frühling, die
Occupy-Bewegung, die Unruhen in London und den Amoklauf des Anders Breivik. Zizeks Ziel
besteht darin, mit Hilfe dieser scheinbar so unterschiedlichen Geschehnisse eine kognitive
Karte zu entwerfen, die uns dabei hilft, unsere Gegenwart auf eine offene Zukunft hin zu
erfassen. Dabei bespielt Zizek gekonnt und in wechselnden Gewichtungen Themen wie die
europäische Wirtschafts- und Bankenkrise, den politischen Rechtsruck in Ungarn oder die
Rolle von immaterieller Arbeit in der westlichen Welt. Bei alle dem fragt der Autor nach der
Brille, durch die wir diese Ereignisse und Entwicklungen betrachten und interpretieren, um
gezielt neue Sichtweisen aufzuzeigen, deren Grundfrage lautet: Ist das Spielen mit der
kapitalistischen Bestie wirklich das einzig vorstellbare Spiel in town?
Der Kapitalismus besteht heutzutage nicht mehr aus den rauchenden Schloten und düsteren
Fabrikhallen des 20. Jahrhunderts, viel mehr ist er für Zizek mittlerweile eine „weltlose
Ideologie“, die die Welt umspannt und gekonnt versteht, sich allen Kulturen anzupassen. Die
Hauptstrategie dieser Ideologie besteht darin, sich nicht festlegen zulassen und in die Zukunft
auszuweichen. Aus diesem Grund ist das Kapital darauf angewiesen, Wachstum zu generieren.
Dies macht Zizek am Beispiel der Vereinigten Staaten fest, indem er auf eine Entwicklung
hinweist, die nach gut 40 Jahren nun scheinbar ihrem Ende entgegenstrebt. Ausdruck dieser
Entwicklung ist die stetig wachsende negative Handelsbilanz der USA, die täglich auf eine
Milliarde Dollar als externe Auffrischung angewiesen ist, um ihren Verbrauch und die
anfallenden Zinsen zu befriedigen. Die Bedingung dafür, dass andere Nationen ihre
erwirtschafteten Überschüsse in den Bedarf der USA investieren, setzt ein festes und stetes
Vertrauen in die Supermacht voraus, was sich nicht auf militärische sondern ökonomische
Potenz bezieht. Eben dieses Zutrauen gerät zunehmend in Frage und mit ihrem Sturz drohen
die USA die Welt mitin eine tiefe Krise zu reißen. Europa hingegen erlebt eine solche Krise
bereits. Hier folgt Zizeks Argumentation der Linie, dass es sich dabei in Wahrheit nicht um
eine Finanz- und Wirtschaftskrise, sondern um eine ideologisch-politische Krise handelt. Zwar
fällt die Antwort mit der Forderung nach der emanzipatorischen Leitkultur europäischer Werte
eher knapp, theoretisch und vielleicht sogar eurozentrisch aus, aber es sind vor allem die
Fragen, die die Bücher Slavoj Zizeks so lesens- und bedenkenswert machen. Die Frage, ob
man, wenn man für Demokratie und Freiheit eintritt, auch für den freien Markt eintreten muss,
spielt ebenso eine Rolle wie die Frage, was geschieht, wenn die Menschen in Arabien zwar
Demokratie erlangen, aber in materieller Armut verbleiben.
Die Occupy-Bewegung zwischen Futur und Avenir
Auch in Bezug auf die Occupy-Bewegung geht Zizek der Überlegung nach, in wie weit
unsere heutige Form der Demokratie Grenzen und Hindernissen unterliegt, die ein Agieren im
Angesicht einer kapitalistisch globalen Dominanz unmöglich werden lässt. Nationale Politik
und ihre Handlungsmöglichkeiten reichen in der Regel nicht in die Sphären hinein, in denen
der staatenlose Kapitalismus operiert. Das ist keine neue Erkenntnis und auf dieses Problem hat
auch die Occupy-Bewegung keine greifbare Antwort geben können. Aber für Zizek bringt
diese Bewegung aus zumeist jungen Leuten eine authentische Wut zum Ausdruck, die stetig
anwächst und sich entladen wird. Anders als beispielsweise Karl Marx vermeidet Zizek es
allerdings, klare Aussagen über die konkrete Zukunft zu treffen. Vielmehr hält er dem
Vordenker des Kommunismus und großen Teilen der Linken vor, dass sie in ihren Zielen zu
„futuresk“ seien und eben nicht den Raum für jene Form der Zukunft öffneten, die er mit dem
französischen Begriff des „avenir“ verbindet und die auf einen radikalen Bruch, eine
Diskontinuität hindeutet, für deren Auftreten der Mensch laut Zizek offen sein müsse. Wie dies
in der Praxis aussehen könnte, das weist Zizek unter anderem am Beispiel der usamerikanischen Fernsehserie „The Wire“ nach. Solche tiefgründigen und zugleich kurzweiligen
Analysen kann man ebenso in den gut 200 Seiten des Buches nachlesen wie die Frage, was der
Einsatz moderner Kriegstechnologie mit dem Film „300“ zu tun hat, worin der Unterschied
zwischen Lust und Genießen besteht und wieso freies Denken der beste Schutz vor Freiheit
sein könnte.
Wer also vor der Form eines wilden Gedankenrauschs durch unterschiedliche Themenfelder
und Beispielszenen nicht zurückschreckt, Lust am neu und anders Denken hat und Interesse für
philosophische Fragestellungen im Gewand moderner Kinofilme besitzt, dem sei das neuste
Buch von Slavoj Zizek ebenso empfohlen wie all seine früheren Werke.