LS4 Grammatik I Phonologie S. Hackmack Hintergrund: Phonem, Morphem und zugrundeliegende Strukturen Morpheme Das bei Hall verständlicherweise sehr knapp eingeführte Konzept »Morphem« und eigentlich gar nicht eingeführte Konzept »Stamm« bezeichnen jeweils Grundeinheiten der Morphologie, also der Wortformenlehre. Der Name »Morphem« erinnert an das Konzept »Phonem«, also an die Grundeinheit der phonologischen Beschreibung, und tatsächlich gibt es bei der Definition dieser Konstrukte große Analogien. Morph: ein Morph ist ein rekurrentes Minimalzeichen. Beispiel: die drei Wortteile in dem Wort unfaithful: alle drei sind a. Zeichen, d.h. bestehen aus einer Ausdrucksseite (/ʌn/, /feɪθ/ und /fʊl/) und einer Inhaltsseite (un-: 'Negation, Gegenteil', faith: 'Glaube, Treue, Loyalität', -ful: 'voller X, im Besitz von X'), b. minimal, können also nicht in weitere Zeichen zerlegt werden, c. rekurrent ('wiederkehrend', von lat. currere 'laufen' und re- 'wieder, zurück'), d.h. sie tauchen auch in anderen Kontexten auf (unfair, untidy, uncertain, faithless, faith-healer, beautiful, tearful, hateful). Morphem: ein Morphem ist eine Klasse von Morphen, die semantisch/funktional äquivalent sind, d.h. dieselbe Bedeutung und/oder grammatische Funktion haben bzw. erfüllen und komplementär verteilt sind oder in freier Variation auftreten, das Morphem also in unterschiedlichen Umgebungen realisieren. Beispiel: das Plural-Nominativ-Morphem im Deutschen mit (u.a.) den Formen -s, -en, -e, vgl. • Auto-s, Silo-s, Ticket-s usw., • Frau-en, Hemd-en, Welt-en usw., • Tisch-e, Bier-e, Los-e usw. aber z.B. nicht *Auto-e, *Tisch-en oder *Frau-s. Die Menge derjenigen Formen, die ein Morphem realisieren können (diese Menge kann auch aus nur einem Element bestehen), sind dessen Allomorphe. Morpheme stellen – wie auch Phoneme– Abstraktionen dar, in tatsächlichen sprachlichen Äußerungen ist ein Morphem also notwendigerweise stets durch eines seiner Allomorphe realisiert. In Halls Kapitel 2 finden Sie mit dem engl. Plural-Morphem {z} ein ausführlich diskutiertes Beispiel. Man kann die Morpheme einer Sprache noch weiter unterteilen und klassifizieren, beispielsweise mit Bezug auf die Frage, ob sie alleine auftreten können, oder nicht: während Tag, bald, also oder Hund allein stehen können und also freie Morpheme darstellen, wären, un-, -lich, ver- oder -keit gebundene Morpheme. Zentral ist hier die Unterscheidung zwischen Basis, Wurzel und Stamm einerseits und verschiedenen Arten von Affixen andererseits. Bei Hall scheint das Konzept »Stamm« recht undifferenziert verwendet zu werden für jede Form, an die ein Affix gehängt wird. Persönlich finde ich diese Verwendung des Konzeptes »Stamm« nicht so gut, da nicht genau getrennt wird zwischen Stämmen, Basen und Wurzeln. Im Falle des engl. Pluralmorphems oder auch der Beispiele zu den Wörtern Tag und Tage ist das unkritisch: hier wird jeweils ein Flexionssuffix angehängt, und eine Standarddefinition von »Stamm« lautet 'diejenige Form, die einen Flexionsprozess durchläuft'. Bei einem Wort wie Schönheit hingegen findet kein Flexions-, sondern ein Derivations- oder Wortbildungsprozess statt. Hier bezeichnet man schön im Allgemeinen nicht als Stamm, sondern als Basis bzw. Wurzel. In dem Wort Verkleidung wird schließlich das Suffix -ung an verkleid- angehängt – und da dieses Element selber komplex ist (ver+kleid-) kann man es nicht im engeren Sinne als Wurzel bezeichnen sondern würde es »Basis« nennen. Zu diesen Termini werden Sie im Morphologie-Seminar noch mehr Information bekommen, behalten Sie hier einfach im Hinterkopf, dass die Gleichsetzung »Stamm« = »Form, an die irgendetwas angehängt wird« nicht sonderlich genau ist. In Kapitel zwei wird Ihnen {tag} als ein Morphem vorgestellt, dass je nach Kontext durch verschiedene Allomorphe repräsentiert sein kann: nämlich [tak] im Kontext / __# (also wenn es 2 wortfinal auftritt) und [tag] in allen anderen Fällen. Ebenfalls durch verschiedene Allomorphe repräsentiert ist das englische Pluralmorphem {z}: dieses tritt nach Sibilanten in der Form [ɪz], nach stimmlosen Nicht-Sibilanten als [s] und in allen anderen Fällen als [z] auf. Um es etwas salopp auszudrücken: Phone und Morphe können ganz unabhängig von der Frage, wozu sie in Sprache X dienen, allein aufgrund ihrer substantiellen Eigenschaften beschrieben werden. Im Falle der Phonetik geht es ja letztlich um genau eine solche Beschreibung der Phone. Sie können aber auch betrachtet werden mit Bezug auf die Frage, welche Funktion bzw. welchen Status sie im System einer Einzelsprache innehaben. »System« können wir hier verstehen als eine Menge von Elementen, zwischen denen eine Menge bestimmter Relationen bestehen und in denen die Elemente bestimmte Aufgaben wahrnehmen. Genau auf dieser Ebene ist es, auf der Aussagen wie »ein Phonem ist die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit der Sprache« oder »ein Morphem ist die kleinste bedeutungstragende Einheit der Sprache« Sinn ergeben. Im Grunde entsprechen die fraglichen Konstrukte somit in etwa dem, was man auch über das System der (Mutter)Sprache konzeptualisiert hat: wenn wir umgangssprachlich über den Laut »r« sprechen, haben wir eigentlich das Phonem vor Augen, nicht dessen zahlreiche Realisierungen (darum gibt es für diesen Laut auch nur eine orthographische Repräsentation). Wenn wir von einer »Pluralendung« sprechen, meinen wir damit nicht die einzelnen Instanzen (die nicht nur im Englischen unterschiedlich sind – siehe Auto-s, Hemd-en, Kind-er, Boot-e…), sondern das Morphem mit der Bedeutung »mehr als eins«, das verschieden realisiert sein kann. Zugrundeliegende Struktur Auch das Konzept »zugrundeliegende Struktur« ist nicht nur für die Phonologie bzw. die Morphophonologie relevant, sondern auch für andere Ebenen der Sprachbeschreibung. Zwei Kerngedanken, die diesem Konzept zugrunde liegen, lauten wie folgt: • zugrundeliegende Strukturen geben die für einen sprachlichen Ausdruck idiosynkratischen Eigenschaften wieder, also diejenigen Eigenschaften, die nicht durch entsprechende Regeln beschreib- und also vorhersagbar sind (siehe Hall 2011:49), • zugrundeliegende Strukturen können entsprechend dazu dienen, oberflächlich verschiedene, aber doch zusammengehörige Ausdrücke sehr präzise zueinander in Relation zu setzen. Diese beiden Punkte klingen vielleicht etwas abstrakt, darum ein Beispiel zur Illustration, das bewusst nicht der Phonologie, sondern der Syntax entstammt. Wenn Sie die folgenden Sätze vergleichen: (1) Harry holte den Wagen. (Aktiv) (2) Der Wagen wurde von Harry geholt. (Passiv) (3) Den Wagen holte Harry. (Topikalisiertes Objekt) (4) Es war der Wagen, den Harry geholt hat. (Spaltsatz) stellen Sie fest, dass auf diese Sätze genau das zutrifft, was weiter oben gesagt wurde: sie sind oberflächlich verschieden, aber doch zusammengehörig. Dass dem so ist, steht außer Frage: alle Sätze geben den gleichen außersprachlichen Sachverhalt wieder bzw. weisen – als komplexe sprachliche Zeichen gesehen – dieselbe Inhaltsseite auf. Wir könnten für diese Sätze entsprechend eine gemeinsame zugrundeliegende Struktur annehmen, in der beispielsweise folgende »idiosynkratische Eigenschaften« repräsentiert wären: 1 Vollverb=holen Tempus=Präteritum Subjekt=Harry Objekt=den Wagen Anordnung: Subjekt–Hauptverb–Objekt 1 Das sind sehr reduzierte und informelle Angaben. »In Echt« wäre das Ganze viel komplexer, weniger umgangssprachlich und mit anderen Kategorien und Funktionen. Es geht uns ja nur um das Grundprinzip. 3 Basierend auf diesen Angaben können wir nun eine Menge von Regeln formulieren, die auf die Elemente Bezug nehmen, die in der zugrundeliegenden Struktur aufgeführt sind. Den Aktivsatz können wir als Default bezeichnen – hier müssten keinerlei Regeln zur Anwendung kommen. Die Passivkonstruktion dagegen könnte beispielsweise wie folgt abgeleitet werden: Zugrundeliegende Anordnung: [Harry]SUBJEKT [holte]VOLLVERB [den Wagen]OBJEKT Regel 1: Mache das Subjekt zum Argument der Präposition von und setze diese Konstruktion an das Satzende: HOLTE DEN WAGEN VON HARRY Regel 2: Mache das Objekt zum Subjekt und setze es an den Satzanfang: DER WAGEN HOLTE VON HARRY Regel 3: Setze das Hauptverb ins Partizip 2 und stelle es an das Satzende DER WAGEN VON HARRY GEHOLT Regel 4: Füge die Kopula werden hinter dem Subjekt ein und gib ihr das ursprüngliche Tempus des Satzes: DER WAGEN WURDE VON HARRY GEHOLT Vielleicht denken Sie jetzt »oh je, wie umständlich«. Dann übersehen Sie allerdings, dass wir mit derartigen Beschreibungen eigentlich nicht nur die Beziehung zwischen (1) und (2) beschreiben – wir beschreiben damit systematisch, also generalisiert die Beziehung zwischen Aktiv- und Passivsätzen, die sich in unbegrenzt (das ist ganz wörtlich gemeint) vielen Satzpaaren finden lässt und stets auf diese oder ähnliche Weise erfasst werden kann: die blau gedruckten Aussagen sind allgemein und nicht auf einen spezifischen Satz bezogen. Diese Herangehensweise und das Konzept der zugrundliegenden Struktur wird im Rahmen der Syntax häufig mit Ansätzen verbunden, die in den 50-60er Jahren des letzten Jahrhunderts Konzepte wie Tiefen- und Oberflächenstruktur als Kernbegriffe der syntaktischen Beschreibung etablierten. Die dahinter stehende Idee aber ist (a) wesentlich älter und (b) nicht nur im Rahmen der linguistischen Syntax relevant, sondern auch in ganz »normalen«, deskriptiven Werken anzufinden – sehen Sie sich einfach mal an, was z.B. der Duden zur Passivkonstruktion sagt. Damit zurück zur Phonologie. Bei Hall tritt das Konzept »zugrundeliegende Struktur« zuerst im Kontext des Beispiels Tag vs. Tage, also im Zusammenhang mit der Auslautverhärtung auf. Dass die beiden Morphe [taːk] in Tag und [taːɡ] in Tage etwas miteinander zu tun haben, steht außer Frage: sie tragen dieselbe Bedeutung bzw. weisen – als sprachliche Minimalzeichen gesehen – dieselbe Inhaltsseite auf. Wenn wir von der Annahme ausgehen, dass analoge Formen aus analogen zugrundeliegenden Strukturen abzuleiten sind, stellt sich hier nur die Frage, wie diese zugrundeliegende Struktur aussehen sollte: /taːk/ oder /taːɡ/? Um diese Frage beantworten zu können, kommt es im Wesentlichen darauf an, wie denn genau die Regeln aussehen müssten, über die diejenigen Formen aus der zugrundeliegenden Form abzuleiten sind, die nicht dem Default entsprechen. Dabei achten wir darauf, a) wie präzise der jeweilige Regelkomplex die Daten erfasst. Anders ausgedrückt: führen die Regeln zu korrekten Ergebnissen – oder würden sie auch nicht-wohlgeformte Ausdrücke vorhersagen? b) wie komplex der jeweilige Regelapparat aussähe, den wir benötigen, um die individuellen Formen abzuleiten. Als Faustregel gilt: derjenige Regelkomplex, der kleiner ist, ist besser. c) wie »generalisierend« unser Regelkomplex aussieht. Anders ausgedrückt: beschreiben wir mit unseren Regeln nur das jeweils beobachtete Datum – oder können wir damit gleich viele verschiedene Daten erfassen? Was diese Faktoren betrifft, können wir eigentlich gar nicht anders, als für Tag bzw. Tage die Form [taːɡ] zugrundezulegen. Wenn wir das nicht tun, wenn wir also /taːk/ als zugrundeliegendes Allomorph betrachteten, bräuchten wir eine Regel, nach der /k/ → [g] / __V. (/k/ wird als [g] realisiert, wenn es vor einem Vokal auftritt). 4 Diese Regel macht aber falsche Vorhersagen, vgl. [blɪk] und [blɪkə] (Regel sagt *[blɪɡə] voraus), [kraŋk] und [kraŋkə] (Regel sagt *[kraŋɡə] voraus). Setzten wir andersherum [taːɡ] als zugrundeliegend an, bräuchten wir eine Regel, nach der /g/ → [k] / __#. Nicht nur, dass diese Regel keine falschen Vorhersagen macht – sie kann mit Bezug auf die Merkmale [STIMMHAFT]/[STIMMLOS] für alle Obstruenten des Deutschen generalisiert werden und liefert dann die phonologische Regel für den Prozess »Auslautverhärtung«. Damit ist begründet, wieso die zugrundeliegende Form von Tag bzw. Tage /taːɡ/ bzw. /taːɡ+ə/ sein sollte. Ein weiterer Faktor, der bei Hall allerdings eher implizit eine Rolle spielt, ist die Frage nach der Plausibilität einer bestimmten Regel. Wie Sie dem 3. Kapitel entnehmen werden, treten bestimmte phonologische Prozesse gehäuft in den Sprachen der Welt auf (beispielsweise Nasalassimilation, siehe Hall 2011: 90). Wenn Sie zwei konkurrierende Regelsets A und B haben, bei denen A auf derartig häufig zu beobachtende Prozesse Bezug nimmt; B nicht, dann sollte A den Vorzug erhalten. Was bei der zugrundeliegenden Form bzw. derartigen Regelsets ebenfalls eine Rolle spielen kann, kommt dann zum Tragen, wenn mehr als eine Regel benötigt wird. Hier kann die Reihenfolge der Regeln eine wichtige Rolle spielen, um beim korrekten Ergebnis zu landen. Wenn Sie zurückblättern und sich das Regelset für Passivkonstruktionen ansehen, stellen Sie beispielsweise fest, dass die Regeln nicht in anderer Reihenfolge durchlaufen werden können. Genau diesen Punkt beschreibt Hall im Zusammenhang mit dem englischen Pluralmorphem und der Frage, wie die in diesem Zusammenhang zu beobachteten Regeln bezüglich der Assimilation (stimmhaftes /z/ wird vor stimmlosen Konsonanten als stimmloses [s] realisiert) und der Epenthese (zwischen Sibilant und /z/ wird ein [ɪ] eingeschoben) geordnet sein müssen, um nicht falsche Formen wie z.B. *[bæʃs] (statt [bæʃɪz]) oder *[jʌdʒz] (statt ([ [jʌdʒɪz]]) aus der zugrundeliegenden Form abzuleiten. Sehen Sie dazu bei Bedarf Hall 2011:55-59 bzw. die Präsentation vom 02. 11.
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