Anatomie der Pantomime

Leseprobe:
Anatomie der Pantomime
(die gescannten Bilder sind von recht mäßiger Qualität, um die Datei nicht riesengroß werden zu lassen,
ansonsten ist diese PDF unserer Druckvorlage entnommen.
EXERCISE : GEOMETRISCHE PANTOMIME
Die Übungen des Exercise - auch geometrische Pantomime genannt - stammen größtenteils aus der
französischen Schule, deren großer Animator Etienne Decroux war und in mancher Hinsicht bis heute ist.
Einige Übungen sind hinzugekommen, andere sind modifiziert worden. Aus dem Exercise Iäßt sich die
pantomimische Technik vollständig aufbauen.
Zu manchen Übungen wird der Leser sowohl Zeichnungen als auch Fotos finden. Die Zeichnungen sollen
das reine Prinzip verdeutlichen; die Fotos zeigen, in welchem Maß der menschliche Körper in der Lage ist,
der Idealvorstellung zu entsprechen.
Grundpositionen
Das Pantomimen-Exercise kennt drei Grundpositionen, die sich durch verschiedene Grundstellungen der
Füße unterscheiden.
1. Position. Der Mime steht auf kleinster Fläche. Die Knie sind gestreckt, die Füße berühren sich an den
Fersen, die Fußspitzen sind nur leicht geöffnet. (Diese Position wird in der Decrouxschen Schule
„Baum“ genannt.)
2. Position. Die Füße stehen parallel oder leicht auswärts. Die Fersen sind etwa eine Fußlänge voneinander
entfernt, die Knie sind gestreckt. (Diese Position wird, nach dem Eiffelturm, auch „Position Eiffel“
genannt.)
3. Position. Die Füße sind weit voneinander entfernt. Die Knie sind so stark eingebeugt und nach außen
gedreht, daß die beiden Oberschenkel einen waagerechten Balken bilden. Die Unterschenkel stehen
senkrecht, die Fersen sind unter den Knien. Die Füße stehen sehr auswärts, sie bilden im Idealfall eine
Linie. Der Rumpf hält sich senkrecht und gestreckt. Die ganze Figur wird zur frontalen Fläche. (Das ist
die „japanische Position“ oder „Position Japonaise“.)
Die Fußpositionen und die Verteilung des Körpergewichts auf die Füße müssen während der Übungen
immer unter Kontrolle bleiben. Der Mime muß sicher und bewußt stehen, um eine gute Körpertechnik
aufbauen zu können. Standfestigkeit erlangt man vor allem durch eine große Standfläche. Es muß also
bei den ersten beiden Positionen darauf geachtet werden, daß die Füße nicht zu auswärts stehen.
Ballettpositionen werden nicht angestrebt, denn je mehr die Fußspitzen nach außen zeigen, um so
schmaler und damit unsicherer wird die Standfläche.
Eine Ausnahme bildet die Position Japonaise, sie ist sehr auswärts. Zudem ist sie anstrengend und
erfordert bereits ein trainiertes Gleichgewicht; sie wird anfangs nicht als Basisposition für Übungen des
Rumpfes benutzt.
Der Fuß ist für den Pantomimen kein passiver Unterbau, auf dem der übrige Körper lastet. Auch wenn der
Mime sich nicht bewegt, ist der Fuß aktiv. Er muß eine bestimmte Eigenspannung haben und den
Gewichtsverlagerungen des Körpers gegenüber aufmerksam sein. Technisch wird das dadurch erreicht,
daß der Mime sich bemüht, den Fuß nicht platt auf die lnnenkante sinken zu lassen, sondern daß er
bewußt auf der Außenkante steht.
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Dadurch ist außerdem gewährleistet, daß Knie und Fußspitzen wirklich in dieselbe Richtung zeigen, daß
nicht die Füße stärker auswärts gedreht sind als die Knie. Darauf ist zu achten, weil sonst die Knie- und
Fußgelenke überlastet werden. In der Position Japonaise ist die Gefahr besonders groß, weil das
Auswärts der Füße in der starken Kniebeuge viel leichter zu erreichen ist als das Auswärts der Knie. Die
Knie neigen dann dazu, nach vorn zu fallen und die Fußspitzen hinter sich zu lassen. Man muß sich also
darauf konzentrieren, die Knie beinahe hinter die Fußspitzen zu bringen und die Außenkanten der Füße
zu belasten. auch wenn dadurch die Flächigkeit der Figur (das ideale Auswärts der Füße) nicht ganz
erreicht wird.
Inklination
Inklination heißt Neigung und bezeichnet in der Pantomime das Einbeugen der Wirbelsäule. Die
Wirbelsäule wird vom Kopf aus in die verschiedenen Richtungen regelrecht eingerollt: nach vorn, nach
hinten, nach rechts und nach links.
Ausgangsposition ist die 2. Position. In fünf einzelnen Bewegungen wird die Wirbelsäule eingebeugt:
1. Der Kopf wird eingebeugt, der oberste Halswirbel ist der Drehpunkt.
2. Der Hals wird eingebeugt, der unterste Halswirbel ist der Drehpunkt.
3. Der Brustkorb wird eingebeugt, der Drehpunkt liegt zwischen den Spitzen der Schulterblätter.
4. Der Mittelkörper wird eingebeugt, der Drehpunkt liegt in Taillenhöhe. Man sollte sich vorstellen, daß der
Drehpunkt wie ein Gelenk in der Taille liegt, in Wirklichkeit aber muß man das ganze Wirbelsäulenstück
des Mittelkörpers biegen.
5. Das Becken wird eingebeugt, Drehpunkte sind die Hüftgelenke. Gleichzeitig lösen sich die Fersen vom
Boden.
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Die lnklination hat fünf verschiedene Drehpunkte, die nacheinander aktiv werden. In umgekehrter
Reihenfolge der Bewegungen wird die lnklination in ihre Ausgangsposition zurückgeführt. Die lnklination
ist eine gleichförmige Bewegung mit Haltepunkten. Die Haltepunkte sind wichtig, weil sie die einzelnen
Bewegungsabschnitte voneinander isolieren.
Nach hinten werden nur die Abschnitte Kopf, Hals und Brustkorb inkliniert, bei sehr geschmeidiger
Wirbelsäule auch der Mittelkörper. Die lnklination des Beckens nach hinten ist nicht möglich.
Die Einbeziehung der Füße bei der Beckeninklination vorwärts erklärt sich folgendermaßen: Man stellt
sich das Becken als ein aufgestelltes Brett vor, dessen vier Ecken unten die Hüfigelenke und oben die
Hüftknochen sind. Waagerecht, in der Mitte zwischen Hüftgelenk und Hüftknochen verläuft eine gedachte
Achse, die im Raum fixiert ist. Das Becken vollzieht die lnklination nach vorn, indem es in dieser Achse
kippt. Dadurch werden gleichzeitig die Beine in die Höhe gezogen, die Fersen müssen sich vom Boden
lösen. Die lnklination des Beckens darf nicht so groß sein, wie es das Hüftgelenk erlaubt, sie ist von den
Füßen abhängig: Nur so weit, wie sich die Fersen anheben, darf sich das Becken neigen. Soll die
lnklination des Beckens wieder aufgelöst werden, so suggeriert man sich, daß die Fersen, indem sie sich
zu Boden senken, das Becken in die Senkrechte zurückziehen.
Ähnlich verhält es sich bei der seitlichen Inklination. Drehpunkt der lnklination des Beckens ist das
Hüftgelenk, auf dessen Seite der Körper gebeugt ist. Indem das Becken über dieses Hüftgelenk kippt,
hebt sich die andere Beckenseite einschließlich des Beines an. Die Ferse dieses Beines wird angehoben,
und das Knie lockert sich, da dieses Bein entlastet wird. Soll die seitliche lnklination des Beckens wieder
aufgehoben werden, so zieht die Ferse des entlasteten Beines zuerst das Knie gerade, und dann, indem
sie auf dem Boden aufsetzt, zieht sie das ganze Becken in die Waagerechte zurück.
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Korrekturen: Die Inklination ist ein Einrollen. Bereits vollzogene Inklinationsschritte dürfen mit den
nächsten Bewegungen nicht wieder aufgelöst werden, jede erreichte Beugung wird festgehalten.
Besonders Kopf und Hals neigen dazu, ihre lnklination wieder zu lösen, während Mittelkörper und
Becken eingebeugt werden.
Bei der lnklination des Mittelkörpers nach vorn fällt es schwer, das Becken senkrecht stehen zu lassen,
sich also nur in der Taille zu biegen. Um das Becken aufrecht zu halten, muß die Gesäßmuskulatur
bewußt zusammen- und nach unten gezogen werden.
Bei inkliniertem Becken ist das Gleichgewicht sehr schwer zu halten (Ballenstand bei nach unten
gebogenem Kopf und Körper). Deshalb muß der Übende schon vorher sein Gewicht auf den Füßen nach
vorn verlagern, so daß die Ballen belastet werden und die Fersen sich leicht vom Boden Iösen lassen.
Die Bewegung selbst wird nicht ruckartig, sondern langsam und vorsichtig ausgeführt.
Die meisten Schwierigkeiten macht die seitliche Inklination. Es ist darauf zu achten, daß auch nach der
lnklination des Mittelkörpers und des Beckens der ganze Körper sich absolut in der Frontalebene
befindet.
Die Schultern haben die Tendenz, nach vorn oder nach hinten zu fallen, auch das Becken dreht sich
leicht aus der Fläche heraus.
In der 2. Position bilden die Beine ein gleichschenkliges Dreieck mit der Bodenlinie. Bei der seitlichen
lnklination des Mittelkörpers strebt das Becken automatisch in die Gegenrichtung (um das Gewicht
auszugleichen), wobei das Dreieck aus Beinen und Boden asymmetrisch wird. Diese Haltung ist falsch,
weil das Becken dabei in eine Schräglage gerät.
Die Symmetrie der Beine und die Waagerechte des Beckens müssen erhalten bleiben, auch wenn das
Gewicht dadurch ungleichmäßig auf die Beine verteilt wird und das Bein der Inklinationsseite die größere
Körperlast trägt.
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Als Übungshilfe kann der Mime sich mit dem Rücken dicht an eine Wand stellen, ohne sich direkt
anzulehnen. Dadurch kann er Flächigkeit und Gewichtsverteilung bei den seitlichen Inklinationen kontrollieren.
Wenn man die Inklination, wie eben beschrieben, in Abschnitten und mit Haltepunkten trainiert, werden
die verschiedenen Ansatzpunkte bewußt, und die isolierte Beweglichkeit der Körperteile wird geübt. Die
lnklination kann aber auch fließend trainiert werden; die Aktion des Einbeugens läuft dann von Wirbel zu
Wirbel gleichförmig abwärts beziehungsweise aufwärts, und alle Positionen der lnklination werden
fließend durchlaufen.
Für jede lnklination gilt, daß das Einbeugen kein In-sich-Zusammensinken sein darf. Im Gegenteil, die
Wirbelsäule wird bei dieser Übung gedehnt.
Translation
Translation bedeutet das Verschieben der Wirbelsäulenabschnitte in waagerechter Ebene, seitlich, also
nach beiden Seiten, und nach vorn und nach hinten. Kopf, Brustkorb und Becken können parallel
gegeneinander verschoben werden, Hals und Mittelkörper fungieren bei der Translation als bewegliche
Zwischenglieder. Die Ausgangsposition ist die 2. Position.
Es gibt folgende Möglichkeiten der Translation:
1. Der Kopf wird gegen den gesamten Rumpf in allen vier Richtungen verschoben.
2. Der Brustkorb, Hals und Kopf werden als Ganzes gegen das Becken verschoben.
3. Der Kopf bleibt unbeweglich im Raum stehen (fixiert), und der Brustkorb wird zwischen Kopf und
Becken hin und her bewegt. Hals und Mittelkörper schaffen die bewegliche Verbindung.
4. Der Brustkorb wird im Raum fixiert, das Becken bewegt sich darunter hinweg. Der Kopf kann bei dieser
Übung fixiert, mitgeführt oder gegenbewegt werden.
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