Projektbeschrieb zur Sonderausstellung

Museum HAARUNDKAMM Mümliswil
www.haarundkamm.ch
„Der 30. September 1915 - Brandspuren“
Sonderausstellung 100 Jahre Explosionskatastrophe von Mümliswil
Projektbeschrieb
(Stand: 28.08.2014)
Die Ausgangslage
Im Jahre 1915 ereignete sich in der damaligen Kammfabrik Mümliswil ein
verheerender Grossbrand. Jener 30. September entriss aus der Mitte der
Dorfgemeinschaft zweiunddreissig Menschenleben. Die Explosionskatastrophe von Mümliswil, mitten in der schwierigen Zeit des Ersten Weltkriegs,
erschütterte die damalige Schweiz. Davon zeugen unzählige zeitgenössische
Presseberichte, Beileidskundgebungen und Hilfsangebote, die im Archiv des
Museums HAARUNDKAMM aufbewahrt werden. Ein Massengrab vor der
Mümliswiler Pfarrkirche erinnert bis heute an jenes schicksalshafte Ereignis.
Aus der Aufarbeitung ergab sich eine Reihe von
neuen Erkenntnissen bezüglich der Katastrophenmedizin und der Sicherheit von
Industrieanlagen. Am 30. September 2015
jährt sich der Tag der Explosionskatastrophe
zum hundertsten Mal.
Ein Jahrhundertfund auf dem ehemaligen Kammfabrikareal
Im Frühjahr 2014 wurde am Standort der einst vom Brand zerstörten Kammfabrik bei
Erweiterungsarbeiten durch die heutige Inhaberin des Areals, die Firma Glaeser Mümliswil AG, ein
eingemauertes Blechbehältnis freigelegt. Dieses war dort anlässlich der Grundsteinlegung zur neuen
Fabrik am 20. November 1915 deponiert worden. Es enthält
die Gründungsurkunde zur neuen Kammfabrik unter Otto
Walter-Obrecht, Dokumente zur ersten Mümliswiler
Kammfabrik aus dem Jahre 1869, einige Kammmuster nebst
historischen Publikationen. Ausgehend von diesen
Fundobjekten plant das Museum HAARUNDKAMM zum
Gedenken an jenen schicksalshaften Tag eine thematische
Sonderausstellung.
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Die Sonderausstellung „Der 30. September 1915 – Brandspuren“
Thematische Module als Brücken zwischen damals und heute
Um den historischen Fund herum werden verschiedene thematische Ausstellungseinheiten
entwickelt und ein Dokumentarfilm produziert. Beide zeichnen die tragischen Ereignisse jenes 30.
Septembers 1915 anhand von zeitgenössischen Dokumenten und
Objekten nach. Das Geschehen wird eingebettet in die Sozial- und
Wirtschaftsgeschichte der Gründerzeit, welche dem Guldental einen
wirtschaftlichen Aufschwung bescherte, der mit dem Ausbruch des
Ersten Weltkriegs jäh unterbrochen wurde. Die Schau sucht mit
unterschiedlichen didaktischen Mitteln Brücken über hundert Jahre
hinweg zu bauen.
Zerstörung und Wiederaufbau der ersten mechanisierten Schweizer Kammfabrik
Um die Ereignisse besser einordnen zu können, wird der Bau
der ersten mechanisierten Kammfabrik der Schweiz in
Mümliswil thematisiert, der in die zweite Hälfte des 19.
Jahrhunderts fällt. Ein massstäbliches 3D-Modell des 1915
zerstörten Hauptgebäudes ergänzt die Originalbaupläne und
Bildmaterial aus jener Zeit. Rekonstruierte Aufenthaltsorte von
darin Beschäftigten, den Opfern und den Überlebenden, sowie
die nachgezeichneten Fluchtwege vergegenwärtigen das
dramatische Geschehen von damals. Ein Thema in der Ausstellung
ist auch die Brandbekämpfung vor hundert Jahren. Einbezogen
werden Originalobjekte, darunter eine historische Feuerspritze, die
damals beim Löschen zum Einsatz kam. Ein Brückenschlag über die
Zeit hinweg soll auch ermöglicht werden durch die
Gegenüberstellung von historischen Fotografien aus der Fabrik mit
aktuellen Ansichten vom selben Aufnahmeort her. Durch eine
moderne Überblendtechnik (Lentikularbilder) wird die Dimension der Zeit direkt erlebbar.
Grenzen überschreitende Solidaritätswelle
In diesem Zusammenhang wird anhand von zahlreichen
Zeitungsartikeln und Dokumenten auch vor Augen geführt,
wie gross die Anteilnahme der damaligen Schweiz war.
Behörden, Unternehmen, Schulen wie Private reagierten mit
Beileidsbriefen, Hilfsangeboten und Naturalspenden auf die
Schreckensnachricht aus Mümliswil und lösten eine
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überwältigende Unterstützungswelle für die leidgeprüfte Gemeinde aus. Auch für heute lebende
Menschen sind diese vielen sehr persönlich gehaltenen Botschaften bewegend.
Die technisch-wissenschaftliche Aufarbeitung der Katastrophe
Ausgangspunkt zu diesem Schwerpunkt der Ausstellung bildet eine an der medizinischen Fakultät der
Universität Zürich 1916 eingereichte Dissertation mit dem Titel „Erfahrungen bei der CelluloidExplosion: Ein Beitrag zur Katastrophenmedizin“. Sie beruht auf Befragungen sämtlicher
Überlebender des Unglücks. Zwischen Ohnmacht und Heroismus entschieden sich innert Sekunden
und Minuten menschliche Schicksale. Die wissenschaftliche Arbeit enthält Namen und Erfahrungen
vieler Betroffener sowie detaillierte Schilderungen von packender Unmittelbarkeit. Speziell für die
einheimische Bevölkerung mögen diese Aufzeichnungen von besonderem Interesse sein.
Die Zürcher Dissertation ist aufschlussreich auch im Hinblick auf die
Erforschung von Brandursachen und die Weiterentwicklung der Katastrophenmedizin. Manche noch heute geltenden Sicherheitsvorschriften am
Arbeitsplatz haben ihren Ursprung in den tragischen Ereignissen jenes 30.
Septembers 1915.
Zeitzeugen von damals und heute
Speziell zur heutigen Bevölkerung der Region sucht die Ausstellung Brücken zu
bauen. Zahlreiche Familien waren damals direkt betroffen. Sie verloren
Ernährer, Angehörige und Freunde. Etliche mussten mit auffälligen
Brandnarben gezeichnet weiterleben. In Zusammenarbeit mit dem
Historischen Verein Guldental werden Verzeichnisse der damaligen
Beschäftigten aufgearbeitet und ihre familiären Bezugsfelder ermittelt. In
solchen Strukturen widerspiegelt sich die
Sozialgeschichte der Region. Ein interaktives
Ausstellungsmodul bietet heute lebenden
Nachkommen von Betroffenen die einmalige
Möglichkeit, einem Stück lebendiger Familiengeschichte zu
begegnen und ebenso eigene Beiträge zur „oral history“
einzubringen.
Eine neue Dimension für die Musterbücher der Kammfabrik
Parallel zu den Vorbereitungsarbeiten werden die im Museumsdepot
vorhandenen Musterbücher aus der ehemaligen Mümliswiler Kammfabrik
inventarisiert und fachgemäss digitalisiert. Einige von ihnen benötigen vor
ihrer elektronischen Erfassung eine aufwändige Restaurierung, weil sie
durch Feuereinwirkung beschädigt sind und sich durch Löschwasser3
einwirkung verklebte Seiten nicht mehr öffnen lassen. Es ist auch dokumentiert, dass beim
Fabrikbrand verschiedene Mitarbeiter auf der Flucht nach draussen ihre zu bearbeitenden
Werkstücke in den Händen festhielten. Ein solches Erinnerungsobjekt, eine angesengte Hornplakette
zu einem Staubkamm, handschriftlich bezeichnet mit dem Unglücksdatum, befindet sich in der
Dauerausstellung. Kaum etwas könnte augenfälliger die Verbundenheit der Arbeiter mit ihren
Produkten zeigen. Um die Musterbücher der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, soll die in der
Dauerausstellung vorhandene Plattform zur Explosionskatastrophe aktualisiert und mit einer
Touchscreen-Monitorstation ergänzt werden.
Die Musterbücher stellen als Nebenprodukt zur
Kammherstellung auch ein Kulturgut von besonderem ästhetischen Reiz dar. Diese Bände repräsentieren exemplarisch
150 Jahre Produkte- und Designgeschichte am Beispiel von
Frisierkämmen, Haarschmuck und Objekten des täglichen
Gebrauchs. Als Ergänzung zur bestehenden Dauerausstellung
vermitteln sie Einblicke in die Vielfalt von Modellen und
widerspiegeln das zeittypische Geschmacksempfinden. Die
notwendigen konservatorischen Massnahmen für die Bücher
sind durch einen bestehenden Spezialfond bereits abgedeckt, dessen Gelder ausschliesslich für
diesen Zweck bestimmt sind. Hingegen macht eine museumsdidaktische Aufbereitung die
Anschaffung eines Touchscreen-Monitors notwendig, verbunden mit medientechnischer
Unterstützung zur Einrichtung der Station.
Der Film „Brandspuren“ zum 30. September 1915
Ein dokumentarisches Projekt über die Explosionskatastrophe
1915 berichtete in der Schweiz nicht nur die Presse über die
Katastrophe von Mümliswil. Auch ein Film der Wochenschau, welche
damals in den Schweizer Kinos die Rolle späterer TVInformationssendungen erfüllte, wurde der Fabrikbrand landesweit
thematisiert. Eine Suche nach den Originalaufnahmen im Schweizer
Filmarchiv, initiiert von der früheren Museumskuratorin Christina
Fankhauser vor zehn Jahren, verlief leider ergebnislos. Dennoch
vermag das Medium Film wie kein anderes Medium jene historischen
Ereignisse aufleben zu lassen. So soll im Rahmen der Ausstellung auch
ein Dokumentarfilm realisiert werden, welcher aus der Spannung
zwischen Gegenwart und Erinnerung heraus entwickelt wird. Die
Herausforderung, nach so langer Zeit einen Dokumentarfilm zu dieser
Thematik zu produzieren, besteht vor allem darin, mit der Dialektik des hundertjährigen Abstands
sorgsam umzugehen. Eine auf gesicherten Fakten basierende Dramaturgie soll dem Einst und dem
Jetzt gleichermassen gerecht werden.
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Der Fabrikbrand hatte nicht nur in vielen
Familien schmerzliche Lücken hinterlassen
und Väter, Mütter, Geschwister und
Freunde von der Arbeit weg in den Tod
gerissen. Auch seelisch hatte der Schock der
Ereignisse in den betroffenen Familien lange
Zeit nachgewirkt. Welche Spuren davon sind
im kollektiven Gedächtnis der Nachkommen
nach einem vollen Jahrhundert noch
eingebrannt? In akribischer Arbeit sind
bereits Nachkommen damaliger Opfer und
Überlebenden ermittelt worden, um in kurzen Interviews danach befragt zu werden, welche
Erinnerungen unter Enkeln, Gross- und Urgrossenkeln heute noch lebendig sind.
Die Anlage des Films zeichnet die Ereignisse jenes schicksalhaften
Tages nach. Sie zeigt eine Ausnahmesituation in der Fabrik
paradigmatisch als Kette von Ursache und Wirkung, bei der sich
Ausgeliefertsein mit mutigem Handeln betroffener Menschen
verketten. Um die Dramatik jenes 30. Septembers nachvollziehbarer zu machen, werden in den Ablauf auf zurückhaltende
Weise nachgestellte kurze rekonstruierte Szenen eingestreut,
welche das Geschehene verständlicher machen. Der rote Faden
führt den Betrachter durch die Dramatik jenes Tages, ausgehend von einer Zeit des industriellen
Aufbruchs und der Expansion auf überseeischen Märkten. Der Bogen erstreckt sich über den
Wiederaufbau der Fabrik bis in die Gegenwart hinein.
Der Dokumentarfilm wird als Teil der Sonderausstellung zur Aufführung gelangen. Durch diese
Produktion entsteht für das Museum ein nachhaltiger Mehrwert, weil er in die Dauerausstellung
integriert werden kann.
Konzept und Redaktion:
Josef C. Haefely, Projektleitung
Museum HAARUNDKAMM
Kontakt: [email protected]
Josef C. Haefely ist Mitglied der Fachkommission und im Museum zuständig für
Sammlungsbetreuung, museologische Fragen und die historische Aufarbeitung der ehemaligen
Kammfabrik.
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