marginalien

Vorschau - Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung
MARGINALIEN
Zeugnis für und wider Picasso
»Ich male so, wie andere ihre Autobiographie schreiben. Bilder, ob fertig
oder nicht, sind Seiten meines
Tagebuches, und als solche haben sie ihre
Bedeutung. Die Zukunft wird die Seiten aussuchen, die sie für wichtig hält.
Es ist nicht meine Sache, die Auswahl
zu treffen.« Diese Worte Picassos an
seine Freundin Frangoise Gilot stellen
dem Interpreten einen Freibrief aus,
der ihm die indiskrete Verknüpfung
von Formgebilden mit Lebenssituationen geradezu zur Pflicht macht. Picasso ist kein Künstler, der Publizität
scheut. Er liebt es, sein Privatleben
photogen zu inszenieren, mit komödiantischen Scherzen zu versehen. Zahlreiche Photoreportagen geben darüber
Auskunft.
Davon überzeugt, daß seine Kunst
und sein für die Kamera bestimmter
Lebensstil ein ausreichendes Maß an
Selbstpreisgabe enthalten, ist Picasso
außerstande, zusätzliche Bloßstellungen hinzunehmen, die seiner Zustimmung entbehren. Ein solches Unterfangen kommt in seinen Augen dem
unlauteren Wettbewerb mit den von
ihm
autorisierten
Selbstzeugnissen
gleich. Darum betrieb er, ebenso hartnäckig wie vergeblich, die Beschlagnahme von Frangoise Gilots Erinnerungsbuch »Vivre avec Picasso« (»Leben mit Picasso«, Kindler-Verlag, 1965)
und verhalf damit dem Buch zum
internationalen Skandalerfolg. Er will
die Entscheidimg über das, was die
Nachwelt von ihm erfahren soll und
darf, nicht aus der Hand geben. Dieser
Entschluß ist verständlich, wenngleich
er Picasso in Widerspruch zum autobiographischen Charakter seiner Kunst
und zur exhibitionistischen Struktur
seines Lebens bringt.
Kunst und Leben sind für diesen
Menschen nicht gesonderte Sphären:
sie ereignen sich in wechselseitigen,
dramatischen Durchdringungen, in unaufhörlichen Prozessen der Überwältigung des Lebens durch die Kunst und
der Kunst durch das Leben. Dieser
Künstler ist nichts weniger als ein
eklektischer Formalist. Die morphologische Kritik der modernen Kunst wird
darum zur Kenntnis nehmen müssen,
daß seine Auseinandersetzung mit bestimmten Vorbildern und Formquellen
total mißverstanden wird, wenn man
sie als Suche nach neuen, womöglich
schockierenden Sprachmitteln auffaßt.
Als ihn z. B. die Negerskulpturen fesselten, erschloß sich ihm nicht bloß das
Erlebnis kantig-schroffer Dreidimensionalität: »Die Menschen schufen diese
Masken und die anderen
Gegenstände
zu geheiligten Zwecken, zu magischen
Zwecken, als eine Art Vermittler zwischen ihnen selbst und den unbekannten bösen Mächten, die sie
umgaben,
um ihre Furcht und ihren
Schrecken
zu überwinden, indem sie ihnen Formen und Gestalt verliehen. In diesem
Augenblick erkannte ich, daß dies und
nichts anderes der Sinn der Malerei
ist. Malerei ist kein ästhetisches Unterfangen, sie ist eine Form der Magie,
dazu bestimmt, Mittler zwischen jener
fremden feindlichen Welt und uns zu
sein. Sie ist ein Weg, die Macht
an
uns zu reißen, indem wir unseren
Schrecken wie auch unseren Sehnsüchten Gestalt geben. Ab ich zu dieser
Erkenntnis kam, wußte ich, daß ich
meinen Weg gefunden
hatte.«
Diese und andere wichtige Äußerungen Picassos werden von Frangoise
Gilot wahrscheinlich sinngemäß richtig, aber stilisiert und gleichsam intel-