Interpretation. Arno Schmidt: "Nachbarin, Tod und Solidus"

Bernd Rauschenbach
Arno Schmidt: Nachbarin, Tod und Solidus
Reclam
Arno Schmidt: Nachbarin, Tod und Solidus
Von Bernd Rauschenbach
Zwischen 1955 und 1959 schrieb Arno Schmidt etwa dreißig Kurzgeschichten, die für
Zeitungsfeuilletons bestimmt waren. Sie richteten sich an ein breiteres Publikum als an
das, welches Schmidt sonst mit seinen experimentellen Texten zu erreichen hoffen
konnte – und sie waren dementsprechend einfacher gebaut.
In einer Zeit persönlichen Geldmangels waren Zeitungsveröffentlichungen für
Schmidt dringend benötigte Einnahmequellen, auch wenn er häufig darüber klagte,
dass er bei all diesen »Brotarbeiten« nicht zu seinen eigentlichen Arbeiten komme.1
Poetologisch freilich verteidigte er seinen Rückgriff auf eine vor-experimentelle
Schreibweise bereits 1955 in seinem »Werkstattbericht« BERECHNUNGEN I, in dem er
konstatiert: »Unsere bisher gebräuchlichsten Prosaformen entstammen sämtlich
spätestens dem 18. Jahrhundert […]. Kennzeichnend für sie alle ist, daß sie
ausnahmslos als Nachbildung soziologischer Gepflogenheiten entwickelt wurden. Der
Erzähler im lauschenden Hörerkreis war das Vorbild für Roman und Novelle. […] Ich
hebe ausdrücklich hervor, daß diese Formen keineswegs etwa ›überholt‹ oder ›veraltet‹
sind!«2
Gut die Hälfte der Schmidt’schen Kurzgeschichten gehört der Form nach zum Typ
»Erzähler im lauschenden Hörerkreis«, wobei der »Hörerkreis« – wie im hier
interessierenden Nachbarin, Tod und Solidus – sich bisweilen auf eine Person
beschränken kann, meist aber aus mehreren Personen besteht. Der Aufbau all dieser
Geschichten ist gleich: eingebettet in eine Rahmenhandlung wird eine Binnenerzählung
mitgeteilt.
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© 2007 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
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Die spärliche Sekundärliteratur zu Schmidts kleineren Erzählungen hat die
Geschichten dieses Typs bislang nicht als Textgruppe untersucht. Man würde wohl
erkennen, dass diese Texte eine Versuchsreihe bilden, die die Wechselwirkungen
zwischen Erzählsituation, Erzähler, Erzählung und Zuhörer untersucht bzw. ausprobiert.
Auffällig jedenfalls ist, dass bis zum Ende dieser Reihe (Trommler beim Zaren, vom
August 1959) alle Romane und längeren Erzählungen Arno Schmidts monologisch
angelegt sind: Der Ich-Erzähler produziert seinen zwischen Tagebuch und innerem
Monolog oszillierenden Text ohne Rücksicht auf etwaige Zuhörer oder Mitleser. Ein
halbes Jahr nach Trommler beim Zaren jedoch beginnt Schmidt mit der Niederschrift
seines Romans KAFF auch Mare Crisium, der zur Hälfte aus einer Geschichte besteht,
die der Ich-Erzähler seiner Zuhörerin vorträgt – gewissermaßen der krönende
Abschluss der Versuchsreihe.3
Dass Schmidt in den fraglichen Kurzgeschichten der Mechanismus des Erzählens
interessierte und weniger das Erzählte selbst, belegt der Umstand, dass die
Binnenerzählungen dieser Geschichten nicht von Schmidt erfunden, sondern leicht
modifiziert aus Texten des 18. und 19. Jahrhunderts übernommen worden sind –
jedenfallshat die Forschung bereits eine ganze Reihe solcher Übernahmen aufdecken
können.4
Die Quelle der »in Fiume, 1860« (201) spielenden Binnenerzählung von
Nachbarin, Tod und Solidus ist bislang unbekannt, die Wahrscheinlichkeit der Existenz
einer solchen ist jedoch hoch, da die in der Binnenerzählung vorkommenden
Ortsnamen, Personen und Handlungen innerhalb des sonst ziemlich begrenzten und
bisweilen repetetiven Erzählkosmos des frühen Schmidt singulär sind. Autobiographisch
kann die Begegnung der beiden Sammler auch nicht gelesen werden: Unter Schmidts
Vorfahrenfinden sich weder Ärzte noch Einwohner Fiumes. – Natürlich wirkt sich die
Unkenntnis der Quelle negativ auf den Versuch einer Interpretation aus, könnte doch
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ein Blick auf die Veränderungen, die Schmidt an der Vorlage vorgenommen haben wird,
zeigen, welche Wechselwirkungen zwischen Erzählsituation und Erzähltem Schmidt
hergestellt hat. Aber auch so bietet die Kurzgeschichte genug Material – wobei zu
berücksichtigen wäre, dass diese kleine, binnen eines Tages5 verfasste Geschichte eben
auch eine Brotarbeit ist, der man nicht zu viel Bedeutung aufladen sollte.
Die Geschichte beginnt undeutlich: »Blaßgrünes Gesicht, mit schwarzer
Mundschleife locker zugebunden – so sah es wenigstens bei Mondlicht aus«. (199)
»Es«? Auch mit der Einführung der Nachbarin drei Zeilen später wird der Bezug nicht
eindeutig, und selbst der Name »Ingebartels« (199), den die Uhr angeblich spricht,
kann nicht grammatikalisch bestimmt auf die Frau am Fenster bezogen werden. Die
Syntax ist den schlechten Sichtverhältnissen der Morgendämmerung angepasst.
Der zeitgenössische Leser wird möglicherweise gewusst haben, was uns später
der Autor in einem Aufsatz von 19586 verrät: dass Inge Bartels eine
Nachrichtensprecherin im Rundfunk der DDR war – die Nennung ihres Namens ist also
ein erster Hinweis in Richtung Osten, dem bald deutlichere folgen. Morgenwolken im
Osten werden genannt (199), ein »Ostbahnhof« (200) und ein Zug, der »in Richtung
Aschaffenburg« (200) fährt – das, vom vermutlichen Erzählschauplatz Darmstadt7 aus
gesehen, östlich liegt.
Das Werk Arno Schmidts ist durchzogen von der Auseinandersetzung mit der
Teilung Deutschlands, Europas und der Welt in West und Ost. Dass selbst in dieser
Kurzgeschichte die heute harmlos scheinende Betonung des Ostens politisch
unterfüttert ist, erhellt der oben genannte Aufsatz, in dem Schmidt bekennt, er höre
die von Inge Bartels gesprochenen DDR-Nachrichten zur Austarierung der WestNachrichten. Der Ich-Erzähler und seine Nachbarin nehmen sich denn auch etwas
fremd aus vor der Kulisse des westdeutschen Wiederaufbaus. Während andere mit
einem »unsichtbare[n] Motorrad« oder einem »schwarze[n] Auto« (199) Teil am
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Wirtschaftswunder haben,8 lehnen die beiden aufgrund ihrer Erfahrung von »zweimal
Krieg […], plus Flüchtling, plus Inflation« (200) skeptisch-beobachtend in ihren
Fenstern und warten »weiter auf den Tod« (202).
In der Binnenerzählung wird die Ausrichtung nach Osten fortgeführt: Der
Schmuggler besitzt nach einer »Orientreise« (201) Münzen aus dem byzantinischen
Kaiserreich – also aus Ostrom. Eine dieser Münzen ist das Gelenkstück9 zwischen
Rahmenhandlung und Binnenerzählung: der »Solidus Kaiser Justinians« (200). Ihn holt
der Ich-Erzähler »als Beleg« (200). Wofür? Die Beantwortung der Frage bleibt wieder
im unklaren Dämmerlicht des Mondes.
Mit der Geschichte Byzanz’ und speziell der Regierungszeit Justinians hat sich
Schmidt intensiv beschäftigt – sein 1954 geschriebener Kurzroman Kosmas10 spielt in
jenen Jahren in Thrakien. Er wusste11, dass das Oströmische Reich unter Justinian
zahlreiche Kriege führte (etwa zur Rückeroberung des nördlichen Balkans – an dessen
nördlichem Rand Fiume liegt), dass die Zeit infolge der Völkerwanderung und einer
tyrannischen Politik des Kaisers voller Flüchtlinge12 war, dass die spätantike
»Leitwährung« Solidus unter Justinian ein Sechstel ihres Wertes verlor:13 »Krieg […],
plus Flüchtling, plus Inflation« (200). Glaubt man dem Geschichtsschreiber Prokopius,
so befiel Justinian »wie sonst nur ein vom Himmel verhängtes Unheil das ganze
Menschengeschlecht […]. Sie wünschten nur noch, daß ihr Zustand, und sei es durch
den jammervollsten Tod, ein Ende finden möge«14 – »und warteten weiter auf den Tod«
(202), schließt Schmidts Geschichte.
Mit dem Tod freilich nahm in Byzanz die Unterdrückung noch kein Ende:
Ungläubigen untersagte Justinian, ihren Besitz an ihre Kinder oder andere Verwandte
zu vererben.15 Sicher wäre auch der Großvater des Ich-Erzählers unter dieses Verdikt
gefallen, glaubt dieser doch nicht einmal an das Gericht Gottes (202). »›Und von
diesem Großvater haben Sie das Goldstück geerbt?‹. Nicht geerbt; zur Konfirmation.«
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(202) Merkwürdig unökonomisch erscheint diese nach der Präsentation des Solidus
bereits zweite Erwähnung der Konfirmation (201), zumal angesichts eines ungläubigen
Großvaters und eines zumindest nicht an das ewige Leben glaubenden Enkels (200).
Wenn man bei »Konfirmation« allerdings nicht an den protestantischen Brauch denkt,
vielmehr (im spätantiken Kontext nahe liegend) die in dem Wort steckende lateinische
Vokabel mit »Bestätigung« übersetzt, fällt plötzlich auch Licht auf den Bezug des immer
noch in der Dämmerung liegenden Wortes »Beleg«: Der Solidus mit seinem
geschichtlichen Hintergrund dient dem Ich-Erzähler als Beleg und doppelte Bestätigung
für seine pessimistische Weltsicht mit Krieg, Unterdrückung und Verlust als immer
wiederkehrenden Konstanten menschlichen Lebens.
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