Daniel Fulda ∙ Sandra Kerschbaumer ∙ Stefan Matuschek (Hg.) Aufklärung und Romantik Laboratorium Aufklärung Herausgegeben von Olaf Breidbach, Daniel Fulda, Hartmut Rosa Wissenschaftlicher Beirat Heiner Alwart (Jena), Harald Bluhm (Halle), Ralf Koerrenz (Jena), Klaus Manger (Jena), Stefan Matuschek (Jena), Georg Schmidt (Jena), Hellmut Seemann (Weimar), Udo Sträter (Halle), Heinz Thoma (Halle) Band 28 Daniel Fulda ∙ Sandra Kerschbaumer Stefan Matuschek (Hg.) Aufklärung und Romantik Epochenschnittstellen Wilhelm Fink Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Friedrich-Schiller-Universität Jena Eine Veröffentlichung des Forschungszentrums Laboratorium Aufklärung www.fzla.uni-jena.de Umschlagabbildung: Kolorierte Zeichnung von Friedrich August von Klinkowström: ABC-Büchlein, Buchstabe H, 1818 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2015 Wilhelm Fink, Paderborn (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5962-6 Inhalt Daniel Fulda/Sandra Kerschbaumer/Stefan Matuschek Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Tom Kindt Epoche machen! Zur Verteidigung eines umstrittenen Begriffs der Literaturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Ludwig Stockinger ‚Romantik‘ und ‚Aufklärung‘ – einige Überlegungen zum Gebrauch dieser Begriffe, insbesondere des Begriffs ‚Aufklärung‘ . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Matthias Löwe Epochenbegriff und Problemgeschichte: Aufklärung und Romantik als konkurrierende Antworten auf dieselben Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Michael Titzmann ‚Aufklärung‘ und ‚Romantik‘. Zum theoretischen Status zweier Begriffe . . 69 Jens Ewen Periodisierungsprobleme zwischen Aufklärung und Romantik – am Beispiel Heinrich von Kleists . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Daniel Fulda Die Aufklärung als Epoche einer fundamentalen Emotionalisierung – reflektiert durch Schillers „romantische Tragödie“ Die Jungfrau von Orleans . 101 Norman Kasper Flexible Differenzen. Die Konstellation Aufklärung – Romantik in der Literaturgeschichtsschreibung 1800/1850 . . . . . . . . . . . . 119 Stefan Matuschek/Sandra Kerschbaumer Romantik als Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 k Daniel Fulda/Sandra Kerschbaumer/Stefan Matusche Vorwort Epochenbegriffe halten sich, trotz des stetigen Streits um sie, aus Gewohnheit. Sie haben sich pragmatisch etabliert, auch wenn man nicht immer genau angeben kann, wie man sie sachlich bestimmt, begründet und gegeneinander abgrenzt. Darin entsprechen sie unseren sonstigen Gewohnheiten: Im alltäglichen Gebrauch sind sie wie selbstverständlich, und diese Selbstverständlichkeit verliert sich genau dann, wenn man sich Rechenschaft über sie zu geben und sie genau zu definieren versucht. Die Epochenbegriffe ‚Aufklärung‘ und ‚Romantik‘ geben dafür ein gutes Beispiel. Als Kapitel der Literaturgeschichtsschreibung sind sie zwar selten genau definiert, doch mit einer solchen Fülle konventionell als repräsentativ angesehener Namen, Werke und Merkmale verbunden, dass die Vorstellung davon niemals leer und das Verständnis zureichend gesichert bleibt. Auch über ihre gegenseitige Abgrenzung kann man Auskunft geben: Üblicherweise steht hier der kritische Vernunftgebrauch und die emanzipatorische Berufung auf die universelle menschliche Natur, die im 18. Jahrhundert mit der Erosion der statisch-ständischen Gesellschaft und ihrer Autoritäten einhergehen, dort der Ende des 18. Jahrhunderts neu einsetzende Impuls, aus der durch die Aufklärung entstandenen kritischen Subjektivität heraus die traditionellen transzendenten Sinnstiftungen zu reformulieren und zu revitalisieren. Wenn man auf diese Weise ‚Aufklärung‘ und ‚Romantik‘ gegeneinander zu definieren beginnt, fangen die Schwierigkeiten an. Denn was als Periodisierung der Literaturgeschichte eingeübt ist, wird zum Problem, wenn man es inhaltlich präzise zu bestimmen und trennscharf abzugrenzen versucht. Was genau ist ‚Aufklärung‘, was genau ist ‚Romantik‘, wo hört sachlich wie historisch die eine auf und fängt die andere an? Der beste Schauplatz dieser Grenzstreitigkeiten ist die deutsche Frühromantik, für die oftmals Merkmale beider Epochenbegriffe in Anspruch genommen werden: der kritische Vernunftgebrauch der Aufklärung und die subjektivierte Transzendenz der Romantik. Ist die Frühromantik deshalb etwas Drittes zwischen den beiden großen Epochen? Ist sie mehr die Fortsetzung der einen oder der Beginn der anderen? Die Debatte um die Einheit der Romantik ist bekannt. Alle Beiträge dieses Bandes fragen nach der Schnittstelle zwischen ‚Aufklärung‘ und ‚Romantik‘, nach diesen beiden Begriffen, ihrer Abgrenzung und Koordinierbarkeit, aber auch – und das ist ja das Wichtigste – nach ihrer Erkenntnisfunktion für die literarhistorischen Phänomene, schließlich auch nach Alternativbegriffen und dem durch diese zu erwartenden Erkenntnisgewinn. Was man aus der Lektüre dieser Beiträge vielleicht lernen kann, ist ein geschärfter Sinn für die verschiedenen Bezugsfelder und Leistungen der Epochenbegriffe. Es ist etwas anderes, ob man sie vor allem als Ordnungsbegriffe der Literaturgeschichte oder als Deutungsbegriffe einzelner Werke verwendet, ob man mit ihnen 8 Daniel Fulda/Sandra Kerschbaumer/Stefan Matuschek vor allem das Verbindende von Literatur-, Philosophie-, Wissenschafts- und Sozialgeschichte oder spezifisch Literarisches herausstellen will. Etwas anderes ist es ferner, ob man mehr an der Rekonstruktion historischer Diskurse oder an dem allgemein Modellhaften interessiert ist, das in den historischen Belegen musterhaft zum Ausdruck kommt. Wer von ‚Aufklärung‘ und ‚Romantik‘ und deren Spannungsverhältnis spricht, spricht deshalb nicht immer von demselben – auch wenn es sich (im vorliegenden Band) durchweg um Belange der deutschen Literaturgeschichte handelt. Die primäre Erkenntnisfunktion, die man den beiden Begriffen zuweist, deren Bezugsfelder und Reichweiten sind oft verschieden. Damit der Streit um die angemessenere Definition und Verwendung produktiv wird, muss diese Verschiedenheit bedacht und für die gemeinsame Arbeit an den Begriffen koordiniert werden. Dazu will dieser Band beitragen. Tom Kindt beginnt mit einer philosophisch-linguistischen Begriffsreflexion und bezeichnet Epochen als merkmalscharakterisierte Namen, als Bündel von Textmerkmalen, die für die Literatur einer spezifischen historischen Phase bestimmend sind. Indem er sich auf wegweisende Beiträge von Michael Titzmann beruft, betont Kindt, dass es sich bei einer Epoche nicht nur um ein System handelt, dass von einer Menge von Texten abstrahiert wird, sondern dass zu diesem bottom-upProzess ein top-down-Prozess hinzukommt, der einen Rahmen vorgibt, nach welchen Merkmalen und Eigenschaften eigentlich gesucht wird. Es ergibt sich für ihn ein rekursiver Rekonstruktionsprozess zwischen Textdeutung und Rahmenannahmen. Das Zusammenspiel von deduktiven theoretischen Vorannahmen und induktiven Beobachtungen an Texten zeigt sich in den folgenden Beiträgen von Ludwig Stockinger und Matthias Löwe. Beide entscheiden sich für eine problemgeschichtliche Rahmung und leiten ihre Epochenkonstruktionen aus von ihnen als zentral angenommenen Problemen ab, auf die sie Texte reagieren und antworten sehen. Stockinger versteht Aufklärung in Anschluss an Panajotis Kondylis als Kampfplatz konkurrierender Konzepte. Löwe deutet den Epochenübergang als einen Wechsel in den Problemlösungsstrategien hinsichtlich der Aufgabe säkularer Normenfindung und -begründung. Michael Titzmann plädiert für eine grundsätzliche Trennung von Denk- und Literatursystemen und sucht das Epochenverständnis aus spezifischen Corpora von Erzähltexten und deren Merkmalen abzuleiten. Jens Ewen und Daniel Fulda fokussieren noch enger, indem sie an einem Autor (Kleist) und einem Werk (Schillers Jungfrau von Orleans), deren Zuordnungen in Frage stehen, die Epochenbegriffe zu präzisieren versuchen. Norman Kasper bietet einen begriffs- als wissenschaftsgeschichtlichen Rückblick und analysiert den Umgang mit Epochenkonstellationen in der Literaturgeschichtsschreibung seit 1800. Der abschließende Beitrag von Stefan Matuschek und Sandra Kerschbaumer schlägt vor, auf Modelltheorien zurückzugreifen, um das Epochenverständnis und zugleich die Tradierung und Aktualisierbarkeit von Romantik zu untersuchen. Die ‚Nachbarschaft‘ zur Aufklärung ist dabei konstitutiv, so dass sich die Schnittstelle zwischen den beiden nicht als ein Drittes, sondern Vorwort 9 als ein Teil der Epochenbegriffe selbst erweist. Es ist nicht nur der letzte Beitrag, sondern der ganze Band, der das sichtbar macht. Die Beiträge dieses Bandes gehen auf einen Workshop zurück, den das „Forschungszentrum Laboratorium Aufklärung“ der Friedrich-Schiller-Universität Jena und das „Interdisziplinäre Zentrum für die Erforschung der europäischen Aufklärung“ der Universität Halle in Jena veranstaltet haben. Es war eine Gesprächsrunde, die sich auf Kurzvorträge stützte und sich vor allem der Diskussion widmete. Erst nach dieser Diskussion wurden die vorliegenden Beiträge verfasst, denen ein dialogischer Charakter hoffentlich anzusehen ist. Tom Kindt Epoche machen! Zur Verteidigung eines umstrittenen Begriffs der Literaturgeschichte Der Begriff der ‚Epoche‘ ist seit rund einem Jahrhundert Gegenstand intensiver literaturwissenschaftlicher Diskussionen. Die betreffenden Debatten haben, wie das bei vergleichbaren Auseinandersetzungen oft der Fall ist, mehr Aufregung verursacht als Erträge erbracht; einige grundlegende Klärungen sind aber erzielt worden und manche von ihnen haben sogar breitere Anerkennung gefunden.1 Wie groß die Unklarheit und Uneinigkeit in den Diskussionen gleichwohl noch immer ist, zeigt sich bei dem Versuch, etwas genauer zu bestimmen, was als Konsens der Literaturwissenschaft in Sachen Epochenbegriffe gelten kann. Weiter als Rainer Rosenberg bei einem entsprechenden Vorhaben im Jahr 2003 gelangt ist, wird man auch heute nicht kommen – und besonders weit ist das nicht.2 Breitere Anerkennung scheinen im Positionsspektrum zu Epochenkonzepten letztlich nur zwei recht allgemeine Annahmen zu finden – erstens die, dass es sich bei Epochen um ‚Konstruktionen‘ geschichtlicher Perioden handelt, und zweitens die, dass Epochen als solche ‚Konstruktionen‘ für das Unternehmen der Literaturgeschichtsschreibung nützlich sind. Neben diesen Ansätzen zu einem Konsens lassen sich in der Literaturwissenschaft und einigen verwandten Fächern allerdings nicht unerhebliche Zweifel an Epochenbegriffen beobachten: Wer von ‚Epochen‘ spricht, wer Epochenbegriffe wie etwa ‚Barock‘ oder ‚Goethezeit‘ verwendet, der läuft leicht Gefahr, unter Naivitätsverdacht zu geraten. Die Epochenskepsis, aus der sich diese Gefahr ergibt, tritt im Wesentlichen in zwei Varianten auf, die oft miteinander verbunden werden: Bei ihr kann es sich einerseits um ontologische Skepsis handeln, wie dies eine berühmte Bemerkung Karlheinz Stierles mit wünschenswerter Deutlichkeit zum Ausdruck bringt: „Es gibt keine Epochen. Epochen sind Anschauungsformen des geschichtlichen Sinns“.3 Epochenskepsis kann andererseits aber auch in methodischer Skepsis bestehen; sie setzt in diesem Fall zumeist ontologische Skepsis voraus und deutet Epochen als historiografische Konstruktionen, geht aber noch einen Schritt weiter und zieht die Stichhaltigkeit oder den Nutzen entsprechender Konstruktionen in 1 Das lässt sich bei einer Sichtung neuerer Aufsatzsammlungen zum Epochenproblem feststellen, beispielsweise anhand der Beiträge des „Epochen“-Heftes der Mitteilungen des Germanistenverbandes von 2002. 2 Vgl. Rainer Rosenberg, Zur Konstituierung literaturgeschichtlicher Epochenbegriffe, in: Ders., Verhandlungen des Literaturbegriffs. Studien zu Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft, Berlin 2003, S. 85–95, S. 86. 3 Karlheinz Stierle, Renaissance. Die Entstehung eines Epochenbegriffs aus dem Geist des 19. Jahrhunderts, in: Reinhart Herzog/Reinhart Koselleck (Hgg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987, S. 453–492, S. 453. 12 Tom Kindt Zweifel.4 „Jede Epochengliederung hat etwas Mißliches an sich“, so schreibt zum Beispiel Reinhart Koselleck in diesem Sinne: „Zahlreiche Unstimmigkeiten müssen in Kauf genommen werden, weil sich die jeweils angebotenen Einteilungen nicht mit allen geschichtlichen Befunden zur Deckung bringen lassen.“5 In polemischer Zuspitzung wird methodische Epochenskepsis zum Vorwurf historiografischer Blindheit für Individualität und Innovativität, wie er sich in pointierter Form beispielsweise bei Vladimir Nabokov findet: [I]n literary history the vague terms ‚classisism‘, ‚sentimentalism‘, ‚romanticism‘, ‚realism‘ and the like straggle on and on, from textbook to textbook. There are teachers and students with square minds who are by nature meant to undergo the fascination of categories. For them, ‚schools‘ and ‚movements‘ are everything; by painting a group symbol on the brow of mediocrity, they condone their own incomprehension of true genius.6 Für eine adäquate Beschäftigung mit literarischen Werken seien Epochenterme kurzum ein Hindernis: „[T]hey distract the student from direct contact with, and direct delight in, the quiddity of individual artistic achievement“.7 Auch wenn ich Nabokov literarisch für ein ‚true genius‘ halte, so kann ich doch literaturtheoretisch die ‚fascination for categories‘ zu gut nachvollziehen, als dass mich epochenskeptische Bemerkungen wie die beispielhaft angeführten nicht zu einer Erwiderung herausfordern würden, zu einer zumindest skizzenhaften Verteidigung literaturwissenschaftlicher Epochenbegriffe. Diese Verteidigung soll vor allem offenlegen, warum mir die verbreiteten methodischen Reserven gegenüber Epochenbegriffen nicht überzeugend erscheinen; ganz an ihrem Ende werde ich allerdings auch andeuten, aus welchen Gründen ich die ontologische Epochenskepsis für problematisch halte. Meine Apologie erfolgt im Wesentlichen in zwei Schritten: Im ersten Abschnitt werde ich erläutern, wie die begrifflichen Konturen von Epochenkonzepten nach meiner Einschätzung zu bestimmen sind. Der zweite Teil soll dann über den Blick auf die Bildung und Verwendung von Epochenbegriffen deren Nutzen für die Literaturwissenschaft andeuten. Meine Betrachtungen zu Epochenbegriffen orientieren sich grundsätzlich am Modell explikativer Begriffsklärung.8 4 Prinzipiell besteht natürlich kein Widerspruch zwischen methodischen Vorbehalten gegenüber Epochenbegriffen und der ontologischen Überzeugung, dass es Epochen gibt. Soweit ich sehe, wird eine entsprechende Position in der Epochendebatte aber von niemandem vertreten. 5 Reinhart Koselleck, Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: Herzog/Koselleck (Hgg.), Epochenschwelle, S. 269–282, S. 282. 6 Aleksandr Pushkin: Eugene Onegin: a Novel in Verse, 4 Bde., New York 1964, Bd. 3: Commentary to Chapters Six to Eight, hg. v. Vladimir Nabokov, S. 32. 7 Ebd. – Freilich weist Nabokov unmittelbar im Anschluss an die betreffenden Bemerkungen darauf hin, dass sich auf entsprechende Begriffe trotz dieser Einwände nicht vollständig verzichten lasse. 8 Vgl. grundlegend Lutz Danneberg, Zwischen Innovation und Tradition. Begriffsbildung und -entwicklung als Explikation, in: Christian Wagenknecht (Hg.), Zur Terminologie der Literaturwissenschaft, Stuttgart 1989, S. 50–68 und modellhaft Tom Kindt/Hans-Harald Müller: The Implied Author. Concept and Controversy, Berlin/New York 2006. Epoche machen! 13 I. Begriffliche Konturen von Epochenkonzepten In den Debatten über Epochenbegriffe ist eine Frage bisher kaum beachtet worden, obgleich ihre Klärung für das Verständnis von Epochen grundlegende Bedeutung besitzt – die Frage, um was für einen Typ von Ausdrücken es sich bei Epochenbegriffen eigentlich handelt. Die ausführlichsten und scharfsinnigsten der seltenen Überlegungen zu dieser Frage sind von Eric Achermann vorgelegt worden: In einem vor rund zehn Jahren erschienenen Aufsatz hat er die These ausgeführt, dass Epochenbegriffe nicht der Klasse von Ausdrücken zuzurechnen sind, mit der sie in der Literaturwissenschaft gemeinhin in Verbindung gebracht werden, nämlich der Klasse der Prädikate oder generellen Termini;9 bei Epochenausdrücken handelt es sich ihm zufolge vielmehr um Namen, und zwar um sogenannte Sammelnamen.10 Mag diese Kategorisierung auch auf den ersten Blick unspektakulär erscheinen, so besitzt sie bei näherer Betrachtung doch eine provozierende Pointe: Sammelnamen versteht Achermann nämlich mit John Stuart Mill als Ausdrücke, die der Bezugnahme auf komplexe Gegenstände dienen, deren Teile keine gemeinsame Eigenschaft haben müssen (sein Beispiel ist der Ausdruck ‚76. Regiment‘); und als solche sind sie streng von Ausdrücken zu unterscheiden, mit denen auf mehr oder weniger umfangreiche Gegenstandsklassen Bezug genommen wird, die gerade durch die gemeinsamen Eigenschaften ihrer Bestandteile bestimmt sind (Beispiele wären Prädikate wie ‚dreisilbig‘ oder ‚Hund‘). Wer etwa vom ‚Barock‘ oder von der ‚Goethezeit‘ redet, der verwendet Achermann zufolge also Ausdrücke wie ‚76. Regiment‘; er bezieht sich – anders als es die literaturwissenschaftlichen Standardauffassung von Epochenbegriffen voraussetzt – nicht auf Zusammenhänge, die auf Ähnlichkeitsbeziehungen beruhen, sondern auf Zusammenhänge, bei denen Teil-Ganzes-Beziehungen maßgeblich sind. „Verstehen wir solche Sammelnamen falsch als allgemeine Termini“, so Achermann, „fragen wir nach der Eigenschaft, die den einzelnen Teilen zukommt, um ihrer Menge zuzugehören. Es ist dies ein Kategorienfehler, genauer: eine unzulässige Hypostasierung von Eigenschaften“.11 Es ist hier nicht nötig, die skizzierte Position im Detail zu diskutieren; ich möchte aber kurz andeuten, weshalb ich sie als Beitrag zur Klärung des Konzepts der Epoche für wichtig, zugleich aber für unzureichend halte. Mit seiner Grundidee liegt Achermann richtig: Epochenausdrücke sind keine Begriffe, sondern Namen. Seine Folgerungen aus dieser Annahme führen aber in die Irre, weil er von einem Namenstyp ausgeht, dem Epochenausdrücke bei aller Übereinstimmung nicht entsprechen. Deutlich wird dies, wenn man Epochennamen nicht im Anschluss an Mill als Sam 9 Zu Prädikaten bzw. generellen Termen vgl. Ernst Tugendhat/Ursula Wolf, Logisch-semantische Propädeutik. Stuttgart 1983, Kap. 8. 10 Vgl. Eric Achermann, Epochenbegriffe und Epochennamen. Prolegomena zur einer Epochentheorie, in: Peter Wiesinger (Hg.), Zeitenwende – die Germanistik auf dem Weg vom 20. Ins 21. Jahrhundert. Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses, Wien 2000. Bd. 6: Epochenbegriffe: Grenzen und Möglichkeiten, Bern u. a. 2002, S. 19–23. 11 Ebd., S. 21f. 14 Tom Kindt melnamen, sondern im Sinne der Onomastik als Ereignisnamen einstuft.12 Wie schon ein flüchtiger Blick auf die Menge der Ereignisnamen zeigt, umfasst sie verschiedene Typen von Ausdrücken – und eine wichtige Unterscheidung ist dabei erkennbar die zwischen solchen Ereignisnamen, für die Mills Kategorie angemessen erscheint, wie etwa ‚das 18. Jahrhundert‘, ‚Stalingrad‘ oder ‚9/11‘, und solchen Ereignisnamen, für die dies nicht gilt, wie beispielsweise ‚Barock‘ oder ‚Goethezeit‘. Wodurch genau unterscheiden sich nun diese beiden Typen von Ereignisnamen? Kurz gesagt: Durch die Konstruktion ihrer Bezugsgegenstände.13 Etwas genauer gesagt: Die Gegenstände, auf die Ereignisnamen referieren, sind im ersten Fall durch die räumlich-zeitlichen Merkmale ihrer Bestandteile festgelegt, im zweiten aber maßgeblich durch andere als räumlich-zeitliche Merkmale ihrer Bestandteile, beispielsweise durch thematische, konzeptionelle, stilistische o. ä. Eigenschaften.14 Epochen – zumindest literarhistorische Epochen – sind darum nicht zu haben ohne die primäre Referenz auf die gemeinsamen Eigenschaften ihrer potenziellen Elemente; erst im Anschluss an eine Ähnlichkeits-orientierte Bestimmung kann eine Teil-Ganzes-orientierte Betrachtung erfolgen. Ausgehend von dem Blick auf Achermanns Überlegungen ist die begriffliche Besonderheit von Epochenkonzepten und damit die unbemerkte Ursache für manche Uneinigkeit und Unklarkeit in der literaturwissenschaftlichen Epochentheorie leicht auf die Formel zu bringen: Epochenkonzepte sind keine merkmalsdefinierten Begriffe, sondern merkmalscharakterisierte Namen. Es sind Namen, weil es sich um Ausdrücke zur Bezugnahme auf historische Ganzheiten handelt, die sich dadurch ergeben, dass bestimmten Merkmalsbündeln grundlegende Bedeutung für die literarischen Werke eines spezifischen Zeitraums zuerkannt wird. Und diese Namen sind nur merkmalscharakterisiert und nicht merkmalsdefiniert, weil sie den Bezug auf Eigenschaften zwar voraussetzen, durch ihn aber nicht eindeutig bestimmt sind. Von Lutz Danneberg ist auf diesen Umstand schon vor über 20 Jahren hingewiesen worden;15 er hat auf den ‚Überschussgehalt‘ aufmerksam gemacht, den Epochenkonzepte im Unterschied zu Klassenbegriffen besitzen und der sich darin zeigt, dass Texte oft einleuchtend einer Epoche zugerechnet werden, obgleich sie deren maßgebliche Merkmale nur in Auswahl oder sehr unterschiedlicher Ausprägung aufweisen.16 Mit Blick auf die konkrete Modellierung von Epochenkonzepten legen die bisherigen Betrachtungen bereits zweierlei nahe: Erstens sollten Epochenbegriffe, im 12 Vgl. zu Ereignisnamen Damaris Nübling/Fabian Fahlbusch/Rita Heuser, Namen. Eine Einführung in die Onomastik, Tübingen 2007, Kap. 11. 13 Zu den Grundzügen der Konstruktion entsprechender ‚historischer Ganzheiten‘ vgl. Arthur C. Danto, Narration and Knowledge. Including the Integral Text of Analytical Philosophy of History, New York 1985, S. 166–170. 14 Im ersten Fall hat man zunächst einen Namen, aus dem dann bisweilen ein Prädikat abgeleitet wird (in diesem Sinne wird etwa vom ‚langen 18. Jahrhundert‘ gesprochen); im zweiten Fall hat man zunächst ein Prädikat, aus dem dann ein Name entwickelt wird (in diesem Sinne wird beispielsweise von ‚Goethezeit‘ gesprochen). 15 Vgl. Lutz Danneberg, Zur Explikation von Epochenbegriffen und zur Rekonstruktion ihrer Verwendung, in: Klaus Garber (Hg.), Europäische Barock-Rezeption, Wiesbaden 1991, S. 85–93. 16 Ebd., S. 86f. Epoche machen! 15 Wissen um den grundlegenden, aber nicht festlegenden Charakter ihrer Merkmalskomponente, nicht als Klassenbegriffe – also Begriffe mit scharfen Umfangsgrenzen –, sondern als Typenbegriffe – also Begriffe mit unscharfen Umfangsgrenzen – bestimmt werden. Epochen sind, kurz gesagt, so zu fassen, dass sie hinsichtlich der Frage, ob ihnen ein Text zuzurechnen ist, ein ‚Mehr-oder-Weniger‘ und nicht nur ein ‚Entweder-Oder‘ zulassen. Umsetzen lässt sich dies etwa, indem man Epochen über ‚Prototypen‘ bestimmt, also über ‚beste Beispiele‘ für die Art von literarischen Werken, die einen als Epoche verstandenen Zeitraum charakterisieren,17 oder auch, indem man Epochen über ‚Symptome‘ beschreibt, das heißt über textuelle Merkmale, die für eine in fundamentaler Hinsicht als einheitlich wahrgenommene Phase der literarischen Produktion zwar nicht konstitutiv, aber doch typisch sind.18 Besonders viel versprechend erscheint schließlich eine Art Synthese dieser beiden Bestimmungsvarianten, nämlich der Versuch, Epochen als ‚Cluster concepts‘ zu erläutern, also über die Angabe eines ‚Bündels‘ grundlegender Merkmale: Ob ein Text einer Epoche zugehört, das wird in diesem Fall im Rückgriff auf eine möglicherweise längere, aber grundsätzlich abgeschlossene Liste von Merkmalen entschieden, die für sich genommen nicht notwendig, in bestimmten Verbindungen aber hinreichend für die fragliche Einordnung sind.19 Wie angedeutet, besteht der ‚Überschussgehalt‘ von Epochenbegriffen allerdings nicht allein darin, dass Texte die Merkmale ihrer Epoche möglicherweise nur in Auswahl teilen, sondern auch darin, dass sie die betreffenden Charakteristika in unterschiedlicher Ausgestaltung aufweisen können. Bei der Bestimmung von Epochen sollte darum zweitens den Ausprägungsspielräumen von Epochenmerkmalen Rechnung getragen werden. Zu diesem Zweck empfiehlt es sich grundsätzlich, Epochen nicht über eine bloße Bestimmung von Stilgebung oder anderen Aspekten der Textoberfläche, sondern über eine eingehende Erschließung von Strategien und Themen der literarischen Kommunikation zu rekonstruieren. Scheint sich diese Überzeugung in Epochentheorie und Literaturgeschichte mittlerweile weithin durchgesetzt zu haben, so wird sie doch kaum einmal zum Anlass für eine weitere, sehr wichtige Konsequenz genommen – für den Schluss, dass die Bestimmung von epochencharakterisierenden Textmerkmalen sinnvoll nur in Verbindung mit der Bestimmung historischer Problemlagen vorgenommen werden kann.20 Bei Epochenmerkmalen handelt es sich in aller Regel nicht um ‚manifeste‘ Texteigenschaf 17 Vgl. dazu etwa Georges Kleiber, Prototypensemantik. Eine Einführung. 2., überarb. Aufl., Tübingen 1998. 18 Vgl. hierzu am Beispiel der Bestimmung des Begriffs der Kunst Nelson Goodman, Wann ist Kunst?, in: Ders., Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a. M. 1990, S. 76–91. 19 Vgl. zu diesem Format der Begriffsbestimmung, ebenfalls am Beispiel einer Charakterisierung des Kunstbegriffs, Berys Gaut, ‚Art‘ as a Cluster Concept, in: Noël Carroll (Hg.), Theories of Art Today, Madison 2000, S. 25–44. – Dass sich Epochenbegriffe in diesem Sinne als ‚Bündelbegriffe‘ verstehen lassen, unterscheidet sie, nebenbei bemerkt, grundlegend von anderen Namenstypen wie z. B. Eigenamen, vgl. Saul Kripke, Naming and Necessity, Cambridge 1980, S. 31f. 20 Zum hier leitenden Verständnis von Problemgeschichte vgl. Karl Eibl, Kritisch-rationale Literaturwissenschaft. Grundlagen zur erklärenden Literaturgeschichte, München 1976. – Vgl. zum Zusammenhang auch den Beitrag von Matthias Löwe im vorliegenden Band. 16 Tom Kindt ten wie etwa die Wortzahl eines Textes, sondern um ‚dispositionale‘ bzw. ‚funktionale‘ Texteigenschaften wie beispielsweise das Wirkungspotenzial eines Textes – und welche Eigenschaften dieser Art ein Text besitzt, das hängt nicht allein von ihm selbst, sondern auch von seiner historischen Situierung ab. So kann ein und derselbe Text je nach Entstehungszusammenhang mal die prototypische Veranschaulichung und mal die parodistische Veralberung einer Epoche sein.21 Als merkmalscharakterisierte Namen verweisen Epochenbegriffe eben nicht einfach auf Bündel von Textmerkmalen, sondern auf Bündel von Textmerkmalen, die für die Literatur in einer spezifischen historischen Phase und das heißt in einer konkreten Problemsituation bestimmend sind. Um den umrissenen Zusammenhang von Epochenbestimmung und Problemgeschichte etwas anschaulicher zu machen, sei er kurz am Beispiel einer literarhistorischen Epoche erläutert, die ich bereits gelegentlich erwähnt habe – nämlich an der ‚Goethezeit‘. Unter der ‚Goethezeit‘ verstehe ich in Weiterführung vorliegender Periodisierungsvorschläge22 im Hinblick auf die Literaturgeschichte die Phase von 1770 bis 1815, das heißt die Mikroepoche, die im deutschsprachigen Raum den Beginn der Makroepoche ‚literarische Moderne‘ markiert. Entscheidend für die Annahme einer Epochenzäsur in den frühen 1770er Jahren ist dabei die keineswegs neue Beobachtung, dass sich in der deutschsprachigen Literatur dieser Zeit ein tiefgreifender Umbruch vollzieht, angestoßen durch den grundlegenden Wandel des menschlichen Geschichtsverständnisses und Weltverhältnisses, den Koselleck als ‚Verzeitlichung‘ bezeichnet hat.23 Als fundamentales Bezugsproblem wird Verzeitlichung in den literarischen Texten des ausgehenden 18. Jahrhunderts zwar nur selten explizit zum Thema, prägt diese aber in vielfältiger, mehr oder weniger vermittelter Weise. Ihre radikalsten Konsequenzen zeitigt sie dabei nicht in der Literatur selbst, sondern in den leitenden Vorstellungen von Literatur: Sie schafft die Voraussetzung für die grundlegende Transformation des Verständnisses von Dichtung, die um 1770 einsetzt und zumeist als Übergang von der Regelpoetik zur Genieästhetik eingestuft wird. Wie eng dieser Übergang mit der Verzeitlichungserfahrung zusammenhängt, lässt sich den meisten Formulierungen der neuen Idee von Kunst und Dichtkunst dabei nicht unmittelbar ansehen. „Genie“, so heißt es etwa in Kants Kritik der Urteilskraft, „ist die angeborne Gemüthsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt.“24 Schaut man nun freilich in die Texte, in denen genieästhe 21 Zur Abgrenzung zwischen den Begriffen „Text“ und „Werk“, die hier vorausgesetzt wird, vgl. Paisley Livingston, Art and Intention. A Philosophical Study, Oxford 2005, S. 112–134. 22 Gemeint sind die strukturalistischen Rekonstruktionen der Epoche, vgl. dazu grundlegend Michael Titzmann, Anthropologie der Goethezeit. Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte. Tübingen 2011. 23 Vgl. etwa Reinhart Koselleck, Die Verzeitlichung der Begriffe. In: Ders., Begriffsgeschichten. Stu dien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2006, S. 77–85. 24 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft [1790]. In: Ders., Gesammelte Werke. Akademieausgabe, Bd. V, Berlin 1968, S. 311.
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