Ich arbeite in der Unfallklinik Murnau. Wie der Name schon sagt, behandeln wir in aller Regel Menschen, die einen Unfall erlitten haben. Daher rede ich im Folgenden von frisch atemgelähmten Patienten, die in aller Regel eine Verletzung der Halswirbelsäule erlitten haben. Im Folgenden werde ich von dem Patienten, den Patienten sprechen, aber natürlich sind damit auch Patientin, die Patientinnen gemeint. Wenn ein Patient eine Verletzung der Halswirbelkörper hat, die eine Atemlähmung zur Folge hat, sind im Allgemeinen auch Funktionseinbußen der gesamten Motorik zu erwarten. Man nennt solche Patienten Tetraplegiker. Sie haben die willentliche Kontrolle über Ihren Körper unterhalb der Halswirbelsäule verloren. Sie können also nicht mehr ihre Arme und Beine bewegen und auch die Blasen- und Stuhlkontrolle nicht mehr ausführen. 1. Situation: So ein Patient ist gewöhnlich so wie Sie und ich morgens aufgestanden. Er ist wie jeden Morgen seiner Routine nachgegangen. Er hat einen Plan im Kopf, wie der Tag verlaufen sollte. Und dann verläuft der Tag ganz anders. In einer nie vorgestellten Weise. Er hat einen schweren Unfall. Nie in seinem Leben hatte er damit gerechnet, in eine solche Situation zu kommen. Und nun gerät er in eine Lage, bei der er das Gefühl haben wird, ausgeliefert zu sein. Er hat nicht nur die willentliche Kontrolle über seiner Körper verloren. Er hat seine anfangs auch teilweise sein Selbstbestimmungsrecht zunächst eingebüßt. Je nachdem, ob er das Bewusstsein bei dem Unfall verloren hat oder nicht, erlebt er diese Nichtkontrolle sofort oder erst später, wenn er wieder zu Bewusstsein kommt. Auf einer Intensivstation hat er das Gefühl, ausgeliefert zu sein. Entscheidungen über sein Leben kann er nicht mehr selbstständig fällen. Hinzu kommen Belastungen durch das therapeutische Setting auf einer Intensivstation: • • • • Störung des Tag-Nacht-Rhythmus durch engmaschige Kontrollen der Vitalfunktionen, häufige diagnostische oder therapeutische Maßnahmen oder permanente Beleuchtung Permanente Reizüberflutung durch unbekannte Geräusche medizinischer Geräte etc. Fehlende Rückzugsmöglichkeiten und Privatsphäre Deprivation natürlicher sensorischer Bedürfnisse, wie Berührungen, Hören von Lieblingsmusik, Riechen angenehmer Gerüche etc. Intimste Verrichtungen kann er nicht mehr selbstständig ausführen und er muss hinnehmen, dass diese Verrichtungen in der Regel dann ausgeführt werden, wenn es die tägliche Routine der Station vorsieht. Er wird geweckt, gewaschen, bekommt Medikamente, Therapie wird mit ihm gemacht, das Ganze auch gegen seinen Willen. Er ist der Umgebung nahezu völlig ausgeliefert. Er ist sich seines Atems, seines Körpers nicht mehr bewusst. Er spürt einen Schlauch in seinem Hals, muss das häufige Absaugen, das mit Würgegefühlen verbunden ist, über sich ergehen lassen. Hört die Pumpgeräusche des Beatmungsgerätes. Manche Patienten können aus Angst nicht einschlafen, wenn sie im Wegdösen das Geräusch nicht mehr deutlich hören. Die meisten Patienten erleben diese Hilfslosigkeit so stark, dass es wie ein Albtraum empfunden wird, aus dem sie hoffen, schnell wieder aufzuwachen. Besonders gravierend wird die Hilflosigkeit empfunden, wenn der Patient durch die Beatmung nicht die Möglichkeit hat zu sprechen. Er will etwas sagen, kann aber keinen Laut erzeugen, aufschreiben ist ihm durch die Lähmung der Hände nicht möglich. Nur die Mimik kann über sein Befinden Auskunft geben. Lippenlesen ist für den Patienten und den Betreuer ein frustranes Erlebnis. Der Patient versucht wieder und wieder etwas zu sagen, wird immer erregter, die Lippenbewegungen immer schneller. Auf Seiten des Betreuers beginnt ein Rätselraten und viele Deutungsversuche. Der Patienten reagiert mit einer entsprechenden Mimik. Der Patient fühlt sich missverstanden. Der Patient reagiert häufig mit Aversionen gegen den Betreuer. Hilfreich ist es, erstmal den stummen Redefluss zu unterbrechen. Mit einer entsprechenden Buchstaben- und Worttafel kann nun in einem langsamen Prozess stichwortartig das Anliegen des Patienten herausgefunden werden. Es werden janein Codes gesucht, z. B. einmal mit den Augen zwinkern bedeutet ja, zweimal nein. Wir haben es zusammengefasst mit einem Menschen zu tun, der absolut hilfsbedürftig ist, der Umwelt und den medizinischen Maßnahmen ausgeliefert und in einem großen Teil seiner Selbstbestimmung beraubt ist. Einem Menschen, dem man nicht sagen kann, das wird schon wieder. Neben dem Erleben der körperlichen Behinderung kann das Bewusstsein zudem von Hoffnungen und verschiedenen Ängsten geprägt sein. Todesangst, Zukunftsängste, Angst vor dem Alleinsein. In diesem Kontext gilt es von allen betreuenden Personen bestimmte Verhaltensregeln einzuhalten: Für das Gespräch zwischen Betreuenden und Patient auf der Intensivstation gelten eine Reihe von einfachen Grundregeln (nach Linus Geisler): Diese Gesprächsregeln gelten sowohl für beatmete Patienten als auch für nicht beatmete Patienten. 1. Grundregel: Den Patienten mit Namen ansprechen und den eigenen Namen nennen. Beispielsweise sagte ein Patient: „Jedes Wort, das an den Patienten auf der Intensivstation gerichtet wird, jedes Wort, und sei es noch so simpel, holt ihn aus dem Gefühl, vereinsamt und verlassen zu sein. Und kein Wort hört der Patient so gern wie seinen Namen. Obwohl es sich niemand gern eingesteht, jedem Menschen ist sein Name in gewisser Weise heilig. Wird sein Name vergessen, verwechselt oder verstümmelt, so trifft ihn dies wie eine körperliche Verletzung. Dieses Gefühl verstärkt sich verständlicherweise noch in der Extrem- bzw. Ausnahmesituation der Intensivstation. Wer mit Namen angesprochen wird, ist kein "Namenloser" mehr, er ist keine Nummer, er wird als Individuum behandelt, er bleibt nicht in einer beängstigenden Anonymität. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Gerade der hilflose Patient fürchtet die Verwechslung ganz besonders: Denn die Angst, verwechselt zu werden, gehört zu den Urängsten des Patienten." Wird der Patient mit Namen angesprochen, dann ist das für ihn ein Signal, dass man ihn als Person, seine speziellen Probleme und seine spezifische Situation kennt. Durch das Nennen des eigenen Namens und der Funktion können Helfer wiederum ein Stück Anonymität und Hintergrundangst abbauen. Das System der Intensivstation mit ihrem hohen Personalaufwand, dem Schichtdienst und einem rasch wechselnden Behandlungsteam erschwert die Orientierung in besonderem Maße. Bei länger dauernder intensivmedizinischer Betreuung ist es sehr wichtig, dass der Patient zumindest eine feste Bezugsperson aus dem Ärzteteam und eine aus dem Pflegeteam dem Namen nach kennt. 2. Grundregel: Rasch die notwendigen Orientierungshilfen geben. Dazu gehört, dass der Patient ruhig und unmissverständlich über Ort, Uhrzeit und Zweck der intensivmedizinischen Betreuung informiert wird. Nirgendwo kann das Zeitgefühl des Patienten so stark gestört sein wie in der Atmosphäre einer Intensivstation. Manche Unruhezustände von Patienten, die auf einer subjektiven Verwechslung von Tages- und Nachtzeit basieren, könnten durch diese einfachen Informationen vermieden werden. Meist ist es medizinisch unbedenklich, dem Patienten die eigene Uhr zu belassen; dennoch ist die Unsitte, Patienten auf der Intensivstation alle "persönlichen Gegenstände" abzunehmen, weit verbreitet. Der Zweck der intensivmedizinischen Betreuung soll möglichst einfach dargestellt werden. Sehr wichtig ist es, den Patienten darüber zu informieren, dass und inwieweit seine Angehörigen benachrichtigt worden sind. Unklarheit in diesem Punkt wirkt besonders quälend und beunruhigend. Eine Information wie: "Wir haben Ihre Frau angerufen und ihr gesagt, dass bei Ihnen alles gut verläuft" ist Beruhigung im doppelten Sinne. 3. Grundregel: einfache und verständliche Sprache. Diese Regel gilt auf der Intensivstation, wo die Auffassungsfähigkeit des Patienten oft durch die Schwere seiner Erkrankung bzw. Verletzung und durch therapeutische Maßnahmen eingeschränkt ist, in besonderem Maße. Hier erhält jedes Wort ein eigenes Gewicht, und jede unverständliche oder missverständliche Äußerung kann intensive Angst induzieren. Es sollte selbstverständlich sein, dass bei der Visite auf der Intensivstation nur zum und nicht über den Patienten gesprochen wird. Das Sprechen über den Patienten, noch dazu im medizinischen Fachjargon, verstärkt sein Gefühl der Isolation, weckt neue Ängste und kann als Unsicherheit des Behandlungsteams ausgelegt werden. 4. Grundregel: Erklären, was geschieht und was geplant ist. Jede noch so kleine Maßnahme (beispielsweise Blutentnahme, ZVD messen) sollte dem Patienten, sofern er sie nicht kennt, in groben Zügen erklärt werden. Dadurch werden Missdeutungen und Missverständnisse reduziert und vermeidbare Ängste verringert. Dass ein Patient wortlos zu einer Untersuchung gefahren wird, deren Zweck und mögliche Bedeutung ihm nicht mitgeteilt wird, gehört zu den kommunikativen Todsünden. 5. Grundregel: positive Sprache. 1. Ängste, Resignation und Depression bestimmen häufig die Verfassung des Patienten. Versuchen Sie, das Selbstwertgefühl des Patienten zu stützen. Jede Information, die als "positive Nachricht" oder "gute Botschaft" formuliert werden kann, ist daher besonders wichtig. Der Patient will nicht nur sehen, sondern auch hören, dass er aus der schlimmsten Gefahrenzone heraus ist. Die Information muss keineswegs detailliert sein, sondern wirkt um so überzeugender, wenn sie klar und einfach formuliert wird: "Die Operation ist gut verlaufen." "Die Röntgenaufnahme hat nichts Schlimmes ergeben "Ich bin mit dem bisherigen Verlauf bei Ihnen sehr zufrieden." Das Sprechen in Bildern ist manchmal besser geeignet, den Trend im Krankheitsverlauf zu verdeutlichen, als langatmige Erklärungen von Einzelbefunden. Beispiel? Es ist auf der Intensivmedizin sehr wichtig, die sogenannten "kleinen Probleme" des Patienten ernst zu nehmen und sorgfältig zu berücksichtigen. Denn die sog. kleinen Probleme können subjektiv quälender sein als das medizinische Hauptproblem. Zum anderen muss der psychologische Effekt berücksichtigt werden: Der Patient, der erkennt, dass man sich um verhältnismäßig kleine Anliegen ebenso sorgfältig kümmert wie um die anderen medizinischen Probleme, erlebt seine Situation möglicherweise als weniger hoffnungslos. Das Berücksichtigen der kleinen Probleme mindert den Druck der großen. Beispiel? Dem frisch verletzten Patienten, der beatmet wird, muss immer wieder vermittelt werden, dass alles für den Patienten getan werde, damit er seine Atemfunktion wieder erlange, und dass seine Kooperation dabei sehr wichtig ist. Die Aufgaben eines Psychologen sind bei der Behandlung u. a. die bestehenden. Ängste zu erfahren und entsprechend zu intervenieren. Es ist auch wichtig, dass der Patient erfährt, dass regelmäßig ein Ansprechpartner da ist, der ausreichend Zeit für ihn hat. Denn nur so kann sich eine tragfähige therapeutische Beziehung bilden. Die tragfähige therapeutische Beziehung ist wichtig, damit der Patient vertrauen bekommt und über seine persönlichen Angelegenheiten sprechen zu können. Dazu möchte ich ihnen eine Patientin vorstellen. Die Patientin war ca. 25 Jahre alt und hat sich bei einem Verkehrsunfall den 3 Halswirbel verletzt. Sie hatte massive Ängste vor dem Alleinsein. Dies führte dazu, dass sie vor allem nachts ständig die Alarmklingel bediente, damit jemand vom Pflegepersonal zu ihr kam. Die Patientin wurde zu einer großen Belastung für das Pflegepersonal, da durch das ständige Klingeln immer jemand aus dem Pflegeteam beschäftigt war. Sie schilderte, dass ihr Herz rase und sie keinen klaren Gedanken mehr fassen könne, wenn sie nachts allein sei. Ich vermittelte ihr das biologische Angstmodell und das Prinzip der graduierten Exposition. Wir vereinbarten, dass ich sie am Anfang nur 5 Minuten allein ließe, dann kurz zu ihr komme und nach ihrem Befinden frage. Nachdem sie diese Aufgabe bewältigen konnte, wurde das Zeitintervall auf 10 Minuten verlängert und wieder nach ihrem Befinden gefragt. Die Zeitintervalle wurden immer wieder verdoppelt. Nach einem Tag war ihre Angst vor dem Alleinsein gelöscht.
© Copyright 2025 ExpyDoc