Leseprobe - Ernst Reinhardt Verlag

Antidepressiva 19
Tabelle 7: Rezeptorbindungsprofile der Antidepressiva erster und zweiter
Generation (Benkert & Hippius, 2013)
NA-I Inhibition der Rückaufnahme von Noradrenalin, 5-HT-I Inhibition der
Rückaufnahme von Serotonin, ACh Antagonismus des cholinergen Systems,
H1 Antagonismus des histaminischen H1-Rezeptors, 5-HT2 Antagonismus des
serotoninergen 5-HT2-Rezeptors, α1 bzw. α2 Antagonismus des noradrenergen
α1- bzw. α2-Rezeptors
Wirkstoff
Therap.
Eigenschaft
NA-­I
5-­HT-­I
ACh
H1
5-­HT2
α1
α2
Amitriptylin
Sedierend
++
++
++
+++
++
+++
0
Clomipramin
Aktivierend
++
+++
++
+
+
++
0
Doxepin
Sedierend
++
+
+
+++
++
+++
0
Imipramin
Aktivierend
+++
++
+
+/-
+
+
0
Maprotilin
Sedierend
++
0
++
+++
+
+
0
Mirtazapin
Sedierend
0
+/-
+/-
+++
++
+
++
Nortriptylin
Aktivierend
+++
+
+
+
+
+
0
Trimipramin
Sedierend
0
0
++
+++
+
+++
0
Die Nebenwirkungen der Antidepressiva erster und zweiter Generation
sind von ihrem Wirkmechanismus abhängig. Das Rezeptorbindungsprofil bestimmt die Nebenwirkungen.
Weitere Nebenwirkungen der Trizyklika sind → Arrhythmien, → Tachykardien, → Hypotonie, Veränderungen des Blutbildes, Krampfanfälle, → Myoklonien und → Tremor. Hypertone Krisen kann es bei
MAO-Hemmern geben.
20 Präparateklassen
Tabelle 8: Nebenwirkungen nach Neurotransmittersystem
Wirkmechanismus
Hauptwirkung
Nebenwirkungen
Noradrenalin-Rückaufnahmehemmer
Aktivierung
Tremor, Tachykardie,
Schwitzen, Schlaf­
störungen
Serotonin-Rückaufnahmehemmer
Aktivierung
Habituation
Gastrointestinale
Beschwerden,
Übelkeit, Anorexie,
Kopfschmerzen,
Nervosität, sexuelle
Dysfunktionen
H1-Antagonismus
Sedierung
Hypotonie, Gewichtszunahme
mACh-Antagonismus
Sedierung
Mundtrockenheit,
verschwommenes
Sehen, Obstipation, Harnretention,
Hypotonie mit reflektorischer Sinus­
tachykardie, Gedächnisstörungen
Alpha1-Antagonismus
Sedierung
Hypotonie,
Schwindel
MAO-Hemmer werden in reversible (Moclobemid) und irreversible
(Tranylcypromin) unterschieden. Der Wirkmechanismus besteht darin,
dass das Enzym MAOA selektiv inhibiert und dadurch der Abbau von
Serotonin, Noradrenalin und Dopamin verhindert wird. MAO-Hemmer
sind stark antriebssteigernd. Irreversible MAO-Hemmer werden wegen
starker Nebenwirkungen nur stationär eingesetzt. Da tyraminhaltige
Speisen und Getränke (alles Fermentierte) durch Monoaminooxidasen
abgebaut werden, muss eine Tyramin-freie Diät eingehalten werden wegen der Gefahr von Tyraminakkumulation mit eintretenden sympathikotonen Blutdruckkrisen. Tyramin wirkt im Körper als indirektes Sympathikomimetikum. Es wird in die noradrenergen Synapsen aufgenommen
und in der umgewandelten Form Octopamin in den Vesikeln gespeichert.
Antidepressiva 21
Antidepressiva der dritten Generation wurden in den 1980er Jahren mit dem Ziel geringerer Nebenwirkungen entwickelt. Sie binden
selektiv an ein einziges Neurotransmittersystem oder eine angestrebte
Kombination von Neurotransmittern. Der Wirkmechanismus der Antidepressiva der dritten Generation besteht in einer selektiven Rückaufnahmehemmung von Serotonin (SSRI) bzw. Noradrenalin (SNRI) bzw.
von zwei Monoaminsystemen Serotonin und Noradrenalin (SSNRI)
bzw. von Noradrenalin und Dopamin (NDRI) oder in der Bindung an
zwei Serotoninrezeptoren (DSA). Das neue Antidepressivum Agomelatonin agoniert Melatonin. Es bestehen weniger Nebenwirkungen und
eindeutigere Hauptwirkungen, wobei ein publication bias existiert.
Selektive Serotonin-Reuptakeinhibitoren (SSRI) hemmen selektiv
die Rückaufnahme von Serotonin ins Neuron. Damit kommt es zu einer Erhöhung der Serotonin-Konzentration im synaptischen Spalt. In
der Folge kommt es zur Down-Regulation der Rezeptorsensitivität des
Autorezeptors 5-HT1A. Dies führt zu einer erhöhten Ausschüttung von
Serotonin. Der Wirkmechanismus über Desensibilisierung des Autorezeptors macht die Wirklatenz aus. Zugelassene Indikationen sind Depressionen unterschiedlichen Typs, Zwangsstörungen, Angststörungen
und soziale Phobie. Weitere Anwendungen sind → Bulimie, Sucht­
erkrankungen, Aggressivität und Impulsivität. Nebenwirkungen sind
gastro-intestinale Beschwerden, Gewichtsabnahme, Unruhe, Schlafstörungen und sexuelle Störungen.
Wegen der Antriebssteigerung sind SSRI bei agitierten suizidgefährdeten Patienten kontraindiziert!
Bei Suizidgefahr sollten sedierende Antidepressiva verabreicht
werden, u.U. kombiniert mit Benzodiazepinen.
Warnhinweis bei Paroxetin: wegen psychomotorischer Unruhe
besteht insbesondere bei Kindern und Jugendlichen erhöhtes
Suizidrisiko!
Das Serotoninsyndrom wird hervorgerufen durch Addition der Effekte
von Präparaten mit serotoninergem Wirkmechanismus z.B. Gaben von
MAO-Hemmern und SSRI oder Tryptophan und SSRI, aber auch unter
Monotherapie bei zu hoher Dosierung. Es besteht aus Unruhe, Agitiert-
22 Präparateklassen
heit, Verwirrtheit, Übelkeit, Erbrechen, → Diarrhoe, Schwitzen, → Tremor (Zittern), → Myoklonien, eventuell Krämpfen, → Hyperthermie,
Bluthochdruck, epileptischen Anfällen und Tod bei starker Beteiligung
der Atemmuskulatur. Erholung tritt nach Absetzen der Medikamente
ein und dauert mehrere Tage.
Absetzsymptome sind Angstzustände, Fieber, vermehrtes Schwitzen,
Unwohlsein, Muskelschmerzen, Kopfschmerzen, Schwindelanfälle,
Übelkeit und Erbrechen („grippeähnlich“).
Der Selektive Noradrenalin-Reuptakeinhibitor (SNRI) Reboxetin
weist eine hochselektive Hemmung der Noradrenalin-Rückaufnahme
auf und damit eine Erhöhung der Noradrenalinkonzentration im synaptischen Spalt. Zugelassene Indikationen sind Depressionen auch im
Rahmen einer bipolaren affektiven Störung und ADS. Nebenwirkungen sind Übelkeit, gastrointestinale Beschwerden, Kopfschmerzen,
Schlafstörungen, → Tachykardie, Blutdruckanstieg, Angst, Schwindel,
Schwitzen und Impotenz.
Die Selektiven Serotonin-Noradrenalin-Reuptakeinhibitoren (SSNRI) Venlafaxin und Duloxetin weisen eine Serotonin- und Noradre­
nalin-Rückaufnahmehemmung auf, sie haben nur schwache Wirkung
auf andere Neurotransmitter. Es kommt zu einem schnellen Wirkungseintritt. Zugelassene Indikationen sind Depression, Panikstörungen, Soziale → Phobie, Generalisierte Angststörungen und klimakterische Beschwerden. Nebenwirkungen sind Schlafstörungen, Mundtrockenheit,
Verstopfung, → Miktionsbeschwerden, → Tachykardie und Schwindel.
Der Noradrenalin-Dopamin-Rückaufnahmeinhibitor Bupropion
weist eine Dopamin-Noradrenalin-Rückaufnahmehemmung auf und
einen schwachen Antagonismus am histaminischen und noradrenergen System. Er hat aktivierende Eigenschaften und wird beim Nikotinentzug eingesetzt. Nebenwirkungen sind Agitation, Schlafstörungen,
Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen, Schwindel, Schwitzen und Konzentrationsstörungen.
Achtung: Todesfälle ohne gesicherte Kausalität!