Die unsichtbare Mauer Porträt der einstigen UNO

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Die unsichtbare Mauer
Porträt der einstigen UNO-Schutzzone Gorazde in Ostbosnien
von Erica Fischer und Senada Marjanovic
O-Ton Abida Kudin:
Ono gore brdo. Alles oben. Alle Berge oben. Oben Top ... Granate od oben. Granate alles. Andere Seite auch ... alles Granaten, alles Gorazde. Oben Hause alles kaputt. Unten auch. Alles. Zu viele kaputt. Zu viel Granaten ... Mladic i Karadzic, oben, oben bleiben. Onda Granaten ... to kaputt. Visegrad srbisch. Foca auch
srbisch. Alles zu viel schneiden, zu viel...
Zu viel töten.
Ja, zu viel tot. Zu viel tot. Zu viel.
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Abida Kudin war die erste Person, die auf der Fahrt nach Gorazde die Totenstille im Bus
durchbrach. Die Leute haben immer noch Angst, wenn sie die eineinhalb-Stunden-Strecke
von Sarajevo nach Gorazde fahren. Zweimal täglich machen sich Busse in beide Richtungen auf den Weg durch serbisches Gebiet. Viele Muslime ziehen aber immer noch den
erheblich längeren Umweg über den Berg Grebak vor. Privatautos und Lkw mit dem
Kennzeichen der bosniakisch-kroatischen Föderation sind auf der serbischen Strecke überhaupt nicht zu sehen. Die Leute trauen der serbischen Polizei nicht. Zu oft ist es schon
vorgekommen, daß man den Reisenden bei Straßenkontrollen ihre Wertsachen weggenommen hat. Auch ganze Lkw-Ladungen und Privatautos werden beschlagnahmt. Menschen, die sich widersetzten, werden mißhandelt oder verschleppt.
Vor dem Krieg hat man in Gorazde gut gelebt. Jeder dachte nur an die Arbeit. Was zählte,
war das eigene Auto. Nach Ljubljana hatte Gorazde die größte Pkw-Dichte von ganz ExJugoslawien. Von den 30 000 Einwohnern der Stadt fuhr jeder zweite ein Auto. Und an
Sonntagen führten sie auf dem Korso ihre neuen Kleider spazieren. So auch am 3. Mai
1992.
Atmo "Krieg"
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Am 4. Mai um 20 vor 8 war Krieg. Zu dieser Zeit hatten die meisten Serben bereits die
Stadt verlassen. Manche schon Monate vorher. In ihren Häusern fand man später Waffen
und Radiostationen. Alle serbischen Bewohner wurden auf die Konspiration eingeschworen. Die nicht mitmachen wollten, wurden bedroht. Diese Warnzeichen wollte niemand
wahrhaben. "Es wird nur ein paar Tage dauern", ließen sie sich beruhigen von den wenigen serbischen Nachbarn, die geblieben waren. So war es auch geplant. In ein paar Tagen
sollte Gorazde serbisch sein.
Das liebliche Städchen Gorazde liegt in der Talsenke des Flusses Drina, eingezwängt zwischen Hügeln. Dort oben pflanzten sich die Serben auf. An manchen Tagen wurden die
Bewohner mit 2 000 bis 3 000 Granaten beschossen.
O-Ton Jasmina Musanovic:
Naravno puno je Gorazdana otislo vani, ali isto tako iz svih ostalih mjesta oko Gorazda - iz Foce, Visegrada i Cajnica ljudi su bjezali za Gorazde. Ovdje se slila jugositocna Bosna. Gorazde kao centar te regije je bio jedini grad koji je ostao slobodan. Jedan koncentracioni logor je bilo Gorazde, jer svi koji su bili u Gorazde bili
su u logoru.
Jasmina Musanovic ist Leiterin des Kultur- und Jugendzentrums, das den ganzen Krieg
hindurch versucht hat, ein Notprogramm für die jungen Leute der Stadt aufrecht zu erhalten. "Viele Leute haben im Krieg Goražde verlassen, aber viele sind auch gekommen",
erzählt Jasmina, "Vertriebene aus Foča, Višegrad und Čajniće, hier war fast ganz Südostbosnien. Goražde war der einzige freie Ort in der Umgebung, aber es war vier Jahre lang
auch ein Konzentrationslager. Fast 7 000 Menschen haben ihr Leben verloren.
Es herrscht eine Spannung zwischen jenen, die den Krieg über geblieben sind, und jenen,
die jetzt allmählich zurückkommen, manchmal mit einem Auto und mit Geld, um sich ein
Haus oder ein Geschäft zu kaufen. Jasmina Musanovic hätte niemals ihre Stadt verlassen,
aber sie kann jene, die gegangen sind, auch nicht verurteilen.
O-Ton Jasmina Musanovic:
Ti ljudi, ja ne mogu ih osuditi sto su otisli tamo, jer mi svi nismo dovoljno hrabri bili
da ostanemo. Hocu reci nismo imali dovoljno inicijative da odemo. Ja ne osudjujem
djecu koja su otisla. Ja zavidim sto mozda nekom roditelju koji je spasio svoje dijete
rata. Kakvo sam ja imala pravo da ostavim svoju djecu ovdje da ostanu cijeli zivot
traumatizirana, zato sto su prezivjela jedan pakao kakav je bio ovdje.
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Nicht alle hatten den Mut zu bleiben. Wir wiederum, sagt Jasmina, hatten nicht genug Initiative wegzugehen. Manchmal beneidet sie die Eltern, die ihre Kinder vor dem Krieg gerettet haben. Welches Recht hatte sie, fragt sich Jasmina, ihre Kinder zu opfern und sie zu
zwingen, ihr ganzes Leben mit einem Trauma zu verbringen? Andererseits sind ihre Kinder jetzt vielleicht besser auf das weitere Leben vorbereitet als jene, die den Krieg nur aus
der Ferne erlebt haben. Fachleute sagen, daß Heimweh das größte Trauma sei. Es hinterlasse die tiefsten Spuren in der Seele.
Jasmina Musanovic, zeigt in die Ferne auf den Berg Grebak. Bei bis zu 25 Grad Kälte und
auf ständig wechselnden Pfaden stiegen in den drei Kriegswintern Tausende in Kolonnen
auf den Berg, um die Grundnahrungsmittel in Empfang zu nehmen, die ihnen von der bosnische Armee von der anderen Seite über die serbischen Linien gebracht wurden. Hin und
zurück waren es 70 Kilometer, die auch von Frauen mit Babys und alten Leuten zurückgelegt wurden. Manche sind nie wiedergekommen. Auf dem Berg Grebak sind Hunderte von
Menschen erfroren.
Atmo Markt + Atmo Muezzin
unterlegen
Als wir ankommen, ist Markttag in Gorazde. Die ganze Stadt scheint auf den Beinen zu
sein. Hier ist die Domäne der Frauen. Dem Klischee, das man sich im Westen von muslimischen Frauen macht, entsprechen sie nicht: Kaum eine trägt Kopftuch, viel häufiger sind
Jeans und Miniröcke. Später, auf den Straßen und in den Cafés, werden wir vor allem
Männer sehen. Die Preise auf dem Markt werden in D-Mark angegeben. Es gibt praktisch
zwei offizielle Zahlungsmittel: die D-Mark und seit kurzem die konvertible bosnische
Mark. Die Umrechnung ist einfach: eins zu eins. Feilgeboten wird alles, was es in westeuropäischen Billigläden zu kaufen gibt. Sogar die Preise unterscheiden sich kaum. Nicht
jeder kann sie zahlen. Im Frieden hat sich ein Graben zwischen den Menschen aufgetan,
der am Markt am klarsten zu erkennen ist. Die einen kaufen, die anderen schauen zu. Die
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einen kaufen normale Ware, die anderen verfaultes Obst und Gemüse. Viele kommen nur,
um sich die neuesten Schlager anzuhören.
Atmo Musik am Markt
unterlegen
Nach all dem, was Goražde im Krieg mitgemacht hat, hatten wir uns eine total zerstörte
Stadt erwartet. Aber alle öffentlichen Gebäude sind schon renoviert: die Post, das Bürgermeisteramt, die Schule, die Sporthalle. Auf der Stadtbrücke, über die man vier Jahre lang
nur nachts und auch dann nur im Zickzack laufen konnte, stehen dicht an dicht zweiarmige
Kandelaber mit teuer aussehenden Kupferhütchen. Gorazde hat nach dem Friedensvertrag
von Dayton den Status einer offenen Stadt. Die Kommunalpolitiker mußten sich verpflichten, alle Menschen ohne Einschränkungen aufzunehmen, die vor dem Krieg ihren Wohnsitz in Gorazde hatten. Dafür wird die Stadt mit Geldern der Europäischen Union belohnt,
was man an den frischen Fassaden sehen kann. Doch das äußere Bild täuscht.
O-Ton "Verrückter":
Ej, moja Bosno, srusise te. Moram ici u Sarajevo da ispjevam ove rijeci kod Zehre.
Ja sam borac sa Kozare. Ej, ja sam. Volim Bosnu, u njoj sam se rodio. Ej, Bosno
moja, ne dam Bosne, ne dam da je ko dira. Ja sam borac sa Kozare...
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unterlegen und dann wegziehen!
Ach, du mein Bosnien, sie haben dich zerstört, singt der Mann, den alle nur den "Verrückten" nennen. Er war im Krieg Soldat und hat sich davon nicht mehr erholt. Ich fürchtete
mich nicht, als man auf mich schoß, singt er, ich trauere nur um meine Lilien, um meine
Freunde, die auf der Kozara gefallen sind. Jetzt bin ich allein. Manchmal singe ich,
manchmal weine ich. Die Tschetniks haben im Krieg meine eintausendzweihundert Soldaten getötet. Mein Herz kann das nicht vergessen. Aber ich habe ihnen nicht erlaubt, mein
Gorazde zu erobern. Meine fremden Freunde, hört mein Lied, mein Schmerz ist unendlich.
Ich bin allein auf der Welt, ohne Kameraden, ohne Mutter, ohne Vater. Auch meinen Bru-
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der haben die Tschetniks umgebracht. Ich heiße Cosabegovic Omer und mehr habe ich
nicht zu sagen.
O-Ton anheben und wegziehen...
Mehr als eintausend demobilisierte Soldaten warten in der Stadt auf Arbeit. So etwas wie
Sozialhilfe gibt es nicht in Bosnien. Die Soldaten sehen, wie das Leben in die Stadt zurückkehrt, aber um sie kümmert sich niemand. Auch den Flüchtlingen hat der Frieden keinen Frieden gebracht.
O-Ton Amira:
Ja sam bila ..... za radio.
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In Amira Alajbegovics Zimmer fällt es schwer, ein ruhiges Interview zu führen. Seit sechs
Jahren müssen sich hier sieben Menschen zusammenzwängen. Amira, ihr Mann, die vier
Kinder und Amiras alte Mutter sind Flüchtlinge aus Orahovo in der Nähe von Rogatica. Es
liegt heute in der Republika Srpska. Früher hatte die Familie Land und ein großes Haus. Es
wurde dem Erdboden gleichgemacht. Amira und ihr Mann haben Glück, denn sie arbeiten
beide im Hotel Ambasador, in dem auch wir abgestiegen sind, doch sich ein neues Haus in
Gorazde zu kaufen, daran ist mit ihrem kärglichen Verdienst gar nicht zu denken. Wie
lange sie in ihrem Zimmerchen bleiben können, ist ungewiß. Bosniakische Flüchtlinge, die
in serbischen Wohnungen leben, müssen jederzeit damit rechnen, sie zu räumen, wenn die
früheren Besitzer zurückkehren. Das finde ich nicht in Ordnung, sagt Amira.
O-Ton Giba:
Telefon ... Molim ... socijalni radi izbeglice. ... Ist eine Hoffnung, Sozialcenter. Eine
kleine Haus mit drei Stock, richtig für soziale Sache für Staat, und meine Firma private hat alles Möbel da geschickt, Teppiche und ganze Haus und jetzt ist offen um
ein Uhr. 38"
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Die Wirtschaft im Nachkriegsbosnien ist vor allem eine Vetternwirtschaft. Ragib Omanović, den alle Giba nennen, ist der persönliche Freund und Wirtschaftsberater des Bürgermeisters. Über seinen Schreibtisch im Rathaus laufen alle Kreditanträge für neue Firmen
in Goražde. Als wir mit ihm sprachen, kam er gerade von Verhandlungen über die Wirtschaftskooperation mit den benachbarten Städten Lukavica und Višegrad. In Višegrad
wurden Tausende von Muslimen ermordet und von der Brücke in die Drina geworfen.
Giba scheint das verdrängt zu haben.
O-Ton Giba:
Muß vergessen, der Krieg muß vergessen, die Verbrecher hat ihren Platz. Wir müssen richtig denken für die Leute für Weiterleben. Die Plan ist gestern für Kühlfabrik,
dieser ganze Kreis ist weltbekannt mit Obst, mit Apfel, mit Pflaumen, und dann hat
für Strom Gespräche, Hydrozentrale, eine für Strom, ist auf serbischem Gebiet,
Višegrad, wir kriegen von da Strom. Wir haben auch selber ein Vertrauen in neuen
Premier von Republika Srpska und seine Leute.
45"
Atmo - Musik Elvedin Hrelja
unterlegen
Elvedin Hrelja, der Bürgermeister von Gorazde, ist ein lebenslustiger Mann. Wenn er Gäste hat, greift er gern selbst zur Gitarre. Er hat große Pläne für die Stadt. Österreicher haben
bereits in die Werkzeugfabrik investiert, Schweden in einen Dachziegelbetrieb, eine eben
angekommene Delegation aus Italien interessiert sich für die Holz- und Möbelproduktion.
Mit Arbeitskräften gibt es keine Probleme - vor dem Krieg hatte Gorazde mehrere große
Betriebe, in denen Tausende gut ausgebildete Arbeiter beschäftigt waren. Bis auf eine - die
Munitionsfabrik "Sieg" - sind alle Firmen bereits privatisiert. In Zukunft will Gorazde mit Unterstützung der Niederlande - mehr auf die Landwirtschaft setzen, die im Sozialismus unterentwickelt war. Bürgermeister Hrelja weist auf die wertvollen Kräuter und Pilze
hin, die auf den Hügeln um Gorazde wachsen. Bei uns zurück bleibt die ungestellte Frage,
wie er sich das eigentlich vorstellt: Die gesamte Umgebung von Gorazde ist vermint. Tag
und Nacht sehen wir in der Ferne Feuer brennen. Auf diese Weise hofft man, wenigsten
einzelne Landstriche zu entminen.
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Die hochfliegenden Pläne von Elvedin Hrelja scheitern aber auch an der politischen Realität. Nach wie vor ist die einstige UNO-Schutzzone eine von Serben umzingelte Enklave.
Wir fragen den Bürgermeister, wie sich das ändern kann.
O-Ton Elvedin Hrelja:
Pa to je vrlo jednostavno. Ako je Gorazde otvoren grad, onda Medjunarodna zajednica mora da prisili ove ostale iz Republike Srpske da se otvore, da se vrate svi na
svoje, da nam obnove poruseni stambeni fond i obnove privredu. Ukoliko ne pokrenemo proizvodnju, dzaba sto cemo mi primiti ove ljude iz Republike Srpske, i prognanike iz Njemacke, Svajcarske, ukoliko im ne mognemo ponuditi radna mjesta. Od
toga nema napretka.
20"
unterlegen und wegziehen.
Hreljas Antwort ist so einfach wie politisch in weiter Ferne: Ist Gorazde eine offene Stadt.
dann müsse die internationale Gemeinschaft alle Städte in der Republika Srpska zwingen,
sich an die Regeln zu halten und sich zu öffnen. Jeder solle nach Hause zurückkehren
können. Dann solle sich die internationale Gemeinschaft beim Wiederaufbau engagieren.
Ohne Ankurbelung der Wirtschaft, sagt Hrelja, könne Gorazde weder die Rückkehrer aus
der Republika Srpska noch aus Deutschland und der Schweiz aufnehmen.
Die deutsche Innenpolitik hält sich nicht an diese Logik. Am 10. Juli wurden in Berlin 74
zum Teil schwer traumatisierte Flüchtlinge im Morgengrauen mit einem großen Polizeiaufgebot aus den Ausländerwohnheimen geholt und nach Sarajevo abgeschoben. Weitere
sollen folgen. Nur wenige von ihnen können hoffen, in Sarajevo zu bleiben. Die anderen
müssen schauen, wo sie unterkommen.
Atmo Jugendliche am Fluß
unterlegen
Viele, die sich nicht zwingen lassen wollten, sind bereits zurückgekehrt. Freiwillig, wie es
so schön heißt. Darunter viele Jugendliche, die in verschiedenen westeuropäischen Staaten
zur Schule gegangen sind, vor allem aber in Deutschland. Die Jugendlichen teilen sich in
zwei Gruppen. Die einen sind nach der neuesten Jugendmode gekleidet und unterhalten
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sich manchmal auch auf Deutsch, die anderen tragen die billigen Kleider, die wir auf dem
Markt gesehen haben. Das Verhältnis zwischen jenen, die den Krieg im Ausland verbracht
haben, und jenen, die in Gorazde geblieben sind, ist gespannt. Die einen mokieren sich
über die Diaspora-Bosnier, die es sich gut haben gehen lassen, die anderen sind sauer, weil
sie gegen ihren Willen nach Bosnien zurückkehren mußten.
Das Geschwisterpaar Adisa und Sadat Malešević, sie 17, er 14, sind vor kurzem aus Berlin nach Gorazde zurückgekehrt. Die Umstellung auf das bosnische Schulsystem macht
ihnen zu schaffen.
O-Ton Sadat und Adisa:
Sadat: Hier ist das Doppelte schwer als in Deutschland. Man verlangt ganz viel
Wissen, daß man eine Zensur kriegt. Und außerdem man kann nicht mit den Lehrern
so sprechen wie .... Die Lehrer, sie beantworten die Fragen kaum, sie reden kaum,
sie sind so streng. Sie wollen nicht die, wie es heißt, die Autorität verlieren als Lehrer. Sie reden kaum ein Wort. Sie sagen nur, wird das morgen sein und dann ...
Adisa: Das war's.
Sadat: Wir lernen alles, auch was wir nicht brauchen, wir lernen es trotzdem, aber
in Deutschland tun sie es nicht. Sie lernen nur das Wichtigste, was nötig ist und was
man braucht. Und deswegen sind sie auch, sagen wir mal, klüger als wir.
Adisa: Ja, ich sage das immer, obwohl wir so viel lernen, wir können nie klüger sein
als die Deutschen. Ich meine, es gibt keine bosnischen Wissenschaftler und so.
Sadat: Ja, genau.
Adisa: Doch, doch.
Sadat: Es sind immer von anderen Ländern, von Deutschland, Amerikaner, Engländer, die irgendwas erfinden. Aber von uns kommt nie was.
1'40"
Soviel zum nationalen Selbstbewußtsein der bosnischen Jugend. Die meisten Deutschbosnier hoffen, doch noch einen Weg zurück nach Deutschland zu finden, spätestens nach der
Matura. Was bei den Jugendlichen vor allem auffällt, ist, daß sie den Politikern und ihrem
Zweckoptimismus kein Wort glauben. Sie blicken illusionslos in die Zukunft.
O-Ton Haris Mirvic:
Goražde ist eine sogenannt offene Stadt. Die Serben haben das Recht zurückzukommen, wir haben das angenommen, wir haben damit nichts dagegen, daß sie zurückkommen, aber, wie gesagt, wir können in keine der Städte, die sie besetzen, können
wir nicht zurück, in gar keine hier in Bosnien. Was soll man dazu sagen? Da sieht
man wieder, wer was erreichen will mit dem friedlichen Wegen und so, aber das
kann man nicht beschrieben. Die wissen das alle, alle UNO-Staaten wissen das, was
hier abläuft, ziemlich gut, nur alle stellen sich dumm und so. Aber wir können da
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nichts tun. Wir müssen einfach unser Ding machen, wir müssen zusehen, wie wir mit
unserem Leben durchkommen, was soll man machen?
55"
Der 15jährige Haris Mirvic ist mit seinen Eltern vor fast einem Jahr aus Deutschland zurückgekehrt, wo er in Hamburg die Schule besucht hat. "War keine schlechte Zeit", sagt er,
"hab keine schlechten Erfahrungen gemacht mit den Deutschen." Sein Vater hat mit dem
Geld, das er sich im Exil zusammengespart hat, einen kleinen Lebensmittelladen aufgemacht. Im Vergleich zu den meisten anderen Leuten, sagt Haris, ginge es ihnen ziemlich
gut. Die Einrichtung im Haus ist gediegen, und wie immer in Bosnien ist alles makellos
sauber. Im Nebenhaus ist sein Freund Faruk Hubjer zu Gast aus Osnabrück. Die Familie
Hubjer wollte das Grab von Faruks Onkel und dessen Haus im Dorf Hubjeri besuchen, aus
dem sie 1992 von den Serben vertrieben wurden.
O-Ton Faruk Hubjer:
Wir wollten da hin, aber es gibt ja keine Möglichkeit, keiner will uns begleiten dahin. Und man will da eben beten, und allein ist es auch nicht gut, da wird man provoziert von Serben, Sprüche, weiß ich nicht, alles Mögliche. Ja, und letzten Samstag
war ich oben im Dorf und bin nach oben geklettert, war von der Grenze drei Meter
entfernt oder so, weiß nicht. Hab von meinem Onkel, der verstorben ist, Haus gesehen und mehr nicht, also die Entfernung war zwei Kilometer oder so, aber man
konnte so ein bißchen sehen, aber näher kann man nicht kommen. Weil man hat ja
Angst, wenn man als Moslem dahin geht zum muslimischen Grab und dann - ja, man
hat ja Angst, ich weiß nicht, wie die Serben reagieren würden. Also bis jetzt, also
was ich gehört habe von den Leuten, sagen die, ja, es ist nicht gut, wenn man alleine
geht, man wird provoziert, auch wenn IPTF oder was weiß ich mit dahin geht, da
wird man trotzdem provoziert, egal ob UNO oder SFOR oder weiß nicht, da wird
man eben provoziert.
1'10"
Die IPTF - die International Police Task Force - sieht das Problem der Sicherheit ganz
anders. In einem Fotoladen an der Marschall-Tito-Straße lernen wir Thomas Jürgs aus
Erfurt kennen. Er ist einer der beiden deutschen Polizisten in dem 28 Mann starken internationalen Polizeikommando von Goražde.
O-Ton Thomas Jürgs:
Das Problem liegt in den Leuten selbst. Wir haben freedom of movement, jeder kann
gehen, wohin er will, die Leute sind ganz einfach nicht bereit dazu. Weil sie ihre innere Furcht nicht überwinden wollen. Und deswegen kommen sie immer und fragen
uns, ja, könnt ihr mich nicht begleiten. Es ist leider nicht vorgesehen in unserem
Mandat. Wir werden das auch nie machen. Aus den Köpfen - hier will niemand je-
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manden umerziehen, das werden wir auch nicht schaffen. Das eine, was wir machen: Wir versuchen, den Leuten immer wieder zu erklären, wir haben freedom of
movement, jeder kann gehen, wohin er will. Versucht's ganz einfach. Wenn's Probleme gibt, dann werden die mit Sicherheit geahndet, die werden nicht unter den
Tisch gekehrt, und und und. Das ist die Mentalität, die immer noch in den Köpfen
steckt, sobald die da irgendwo hingehen, daß sie gleich verhaftet werden oder sonst
irgend etwas. Das denken die immer.
42"
Während die einen die Probleme nur im Kopf ansiedeln, malen andere den Teufel an die
Wand. So der Hotelbesitzer Abduselam Sijercic, den alle Pelam nennen. Er war im Krieg
Oberkommandierender der Stadt und ist jetzt einer der reichsten Männer und Anführer der
Partei für Bosnien-Herzegowina in Goražde. Sie tritt für einen einheitlichen bosnischen
Staat ein, der nicht von den drei nationalen Parteien regiert wird.
O-Ton Pelam:
Postoji jedna realna opasnost za ovaj prostor i za ove ljude koji su ovdje, da vec u
slijedecoj sezoni dodje do veceg povratka tih takozvanih manjina, odnosno Srba, nego povratka Bosnjaka.// Ja znam isto tako da je na ovom prostoru zivjelo oko 9.000
Srba prije rata. Ako uzmemo u obzir da sad zivi svega tridesetak, znaci i to su potencijalni povratnici na ove prostore. Ja nemam tacnu procjenu njihovu koliko ce se
od njih vratiti, ili koliko ima zelju da se vrati, ili koliko ce realno biti u mogucnosti,
jer veliki broj je njih pucao po ovom narodu, ali zato i ne govorim o njima. Medjutim...
15"
unterlegen und wegziehen
Pelam sieht eine reale Gefahr für alle jene, die während des Krieges in Gorazde geblieben
sind. Vor dem Krieg lebten in Gorazde 73 Prozent Muslime oder Bosniaken, wie sie heute
genannt werden, und 23 Prozent Serben. Nur 30 Serben haben im Krieg ihre Stadt nicht
verlassen. Jetzt wollen viele zurück, auch weil die ökonomische Lage im Föderationsgebiet immer noch besser ist als in der Srpska. Noch fühlt sich in Gorazde niemand bedroht.
Doch während immer mehr Serben wegen einer Rückkehr im Bürgermeisteramt vorsprechen, denken viele bosniakische Familien, die die ganze Zeit ausgeharrt haben, ans Weggehen. Sie wollen in die Vereinigten Staaten, nach Kanada, nach Australien. Die meisten
sind hochqualifizierte junge Menschen. Sie haben keine Geduld, auf bessere Zeiten zu
warten. Wenn es so weitergeht, befürchtet Pelam, werde sich die Zusammensetzung der
Stadtbevölkerung umkehren. Die Moslems würden in der Minderheit sein. Wozu dann der
ganze Krieg?
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O-Ton Vesna Kuljuh:
Republika Srbska - I think in next five years it will be something like nightmare.
8"
Vesna Kuljuh, eine Angestellte des International Rescue Committee, einer amerikanischen
humanitären Organisation, bereist als eine der wenigen Einwohner von Gorazde regelmäßig die umliegenden von den bosnischen Serben eingenommenen Städte und Dörfer. Sie
ist überzeugt, daß Bosnien nur dann eine Chance hat, wenn alle wieder zusammenleben
wie vorher. Auf die Republika Srpska sieht sie in den nächsten fünf Jahren eine Periode
der Scham zukommen, vergleichbar mit Deutschland und Österreich nach dem 2. Weltkrieg.
O-Ton Vesna Kuljuh:
Serb people's nightmare. Bad memory. You know. Now they compare our lifestyles
and theirs. Do you have this and this? How much money is one kilo of coffee? You
know. 16"
Es werde ein Alptraum für die serbischen Menschen sein, sagt die Tochter eines Serben
und einer Muslimin voraus. Schlechte Erinnerungen werden sie plagen. Und sie werden
ihren Lebensstil mit dem von Gorazde vergleichen. Gibt es bei euch das und das? Wieviel
kostet bei euch ein Kilo Kaffee?
Der Vergleich wird zugunsten der offenen Stadt ausfallen. Wozu dann der ganze Krieg?
Atmo Musik Srce Moje und unterlegen bis zum Ende
Derweil verabschiedet sich der Schüler Faruk Hubjer von Gorazde. In Gedanken ist er
bereits in Osnabrück an der Hase. Noch hat die Familie eine Duldung, wie es in Amtsdeutsch heißt. Wenn es nach Faruks Eltern ginge, würde ihr Sohn dort bleiben, auch wenn
sie selbst zurück müssen. Doch diese Hoffnung ist ebenso ungewiß wie Faruks Zukunft in
Gorazde an der Drina.
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O-Ton Faruk Hubjer:
Ich heiße Faruk Hubjer, bin 17 Jahre alt, komme aus Goražde hier, wohne zur Zeit
in Osnabrück, gehe zur Schule da, habe meine Freunde da und wünsche allen, die
hier in Goražde leben, alles Gute. Und sie sollen in Frieden leben.
20"