Handschreiben – Handschriften – Handschriftlichkeit

OBST 85
9 783942 158947
Universitätsverlag Rhein-Ruhr
ISSN 0936-0271
Handschreiben – Handschriften – Handschriftlichkeit
ISBN 978-3-942158-94-7
OBST
Handschreiben – Handschriften –
Handschriftlichkeit
Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie
85
OBST
201485
Handschreiben – Handschriften – Handschriftlichkeit
Herausgegeben von
Manuela Böhm & Olaf Gätje
Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (OBST)
Redaktion
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ISSN0936-0271
Satz
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978-3-942158-94-7 (Printausgabe)
978-3-942158-95-4 (E-Book)
UVRR
format publishing, Jena
Printed in Germany
Inhalt
Manuela Böhm & Olaf Gätje
Handschreiben – Handschriften – Handschriftlichkeit:
Zu Praktik, Materialität und Theorie des Schreibens mit der Hand.............7
Sybille Krämer
Über die Handschrift: Gedankenfacetten..................................................23
Stephan Kammer
Signatur des Individuellen. Die Tropen des Schrift-Wissens......................35
Thorsten Gabler
Kontaktbilder. Zur ‚Magie‘ brieflicher Autographen in der Romantik.......61
Günther Schorch, Manuela Böhm & Olaf Gätje
Geschichte der Didaktik des Handschreibens............................................83
Werner Wicki & Sibylle Hurschler Lichtsteiner
Verbundene versus teilweise verbundene Schulschrift –
Ergebnisse einer quasi-experimentellen Feldstudie...................................111
Rüdiger Weingarten
Schreiben mit der Hand und Schreiben mit dem Computer.
Chirographie, Typographie und Diktat...................................................133
Alexandra Lavinia Zepter
Zur Körperlichkeit der Schreibhandlung.................................................151
Till A. Heilmann
Handschrift im digitalen Umfeld............................................................169
Reiner Küpper
Rezension: Siegfried Jäger (2012): Kritische Diskursanalyse....................193
Eduard Haueis
Rezension: Einleitungen ohne Anleitung. Maike Prestin (2011):
Wissenstransfer in studentischen Seminararbeiten...................................205
Anschriften der Autorinnen und Autoren...........................................................209
Manuela Böhm & Olaf Gätje
Handschreiben – Handschriften – Handschriftlichkeit:
Zu Praktik, Materialität und Theorie des Schreibens mit
der Hand
Handschreiben – Handschriften – Handschriftlichkeit lautet der Titel des vorliegenden OBST-Heftes und spannt damit ein Themengebiet auf, das in den
vergangenen Jahren auch jenseits der professionsbedingten Interessen der
Paläographie, Mediävistik oder Grundschuldidaktik in den Fokus rückt. Mit
dem Hefttitel werden zunächst der Tätigkeitsaspekt (Handschreiben) und der
Gegenstandsaspekt, das von Hand Geschriebene, also die Manu-Skripte (vgl.
Ludwig 2005, 15) adressiert, zwei Aspekte von Handschriftlichkeit, die in
einem theoretisch noch zu klärenden Verhältnis zueinander stehen. Der an
dritter Stelle befindliche Terminus Technicus Handschriftlichkeit ist dagegen
nicht gegenstandsbezogen, sondern dient uns als Label für ein diffuses Forschungsfeld, in dem es u. a. geht um die den Handschreibprozess (die händische
Geste) beeinflussenden psychomotorischen, medientechnischen und natürlich
auch pragmatischen Faktoren, um Manuskripte bzw. deren Schriftbilder als
Spuren des Handschreibprozesses, um den Erwerb und die Entwicklung von
Handschrift in der Institution Schule und außerhalb dieser, um Fragen nach
den Praktiken und Funktionen von Handschrift im Kontext medientechnischer Innovationen oder um die historisch kontingente gesellschaftliche
Wahrnehmung und Einschätzung von Handschrift.
Als ein einschlägiger Beitrag zur Erschließung des skizzierten Forschungsfeldes Handschriftlichkeit ist die 2008 erschienene Monographie „Abdruck und
Spur. Handschrift im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit“ von
Sonja Neef anzusehen, die im Titel bereits die Gründe für das neu gelagerte
Interesse andeutet. Denn in Anbetracht der zunehmenden Digitalisierung
schriftlicher Kommunikation mehren sich in den vergangenen Jahren Stimmen, die die Kulturtechnik des Handschreibens im Paper-Pen(cil)-Paradigma
durch das Tastaturschreiben – sei es auf der materiellen Computertastatur, sei
es auf der virtuellen Tastatur eines berührungsempfindlichen Bildschirms –
entweder vom Untergang bedroht oder in Randbezirke der Schriftlichkeit
abgedrängt wähnen. Nun ist die Rede von dem Verfall, der Marginalisierung
oder gar von dem Verschwinden der Handschrift keineswegs ein AlleinOsnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 85 (2014), 7-21
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Manuela Böhm & Olaf Gätje
stellungmerkmal des Informationszeitalters, sondern ein in der Geschichte
des Schreibens regelmäßig wiederkehrender Topos (vgl. Neef 2008, 336), der
u. a. immer dann bemüht wird, wenn es zu den Schreibprozess betreffende
medientechnische Innovationen innerhalb einer Kultur kommt, die entweder
aus veränderten kommunikativen Bedürfnissen evolvierender Gesellschaften
hervorgehen oder die neue Kommunikationspotentiale und damit -bedürfnisse
erst entstehen lassen. Dabei haben Druckerpresse, Stahlfeder, Füllfederhalter,
Telegraph, Schreibmaschine, Kugelschreiber und natürlich der Computer
nicht nur die Praxis des Handschreibens verändert, sondern ihre Spuren
auch in den Schreibprodukten hinterlassen und selbstverständlich auch die
mit ihnen verbundenen Schreibkonventionen verändert.1 Die „Technisierung
des Schreibens“ (Ludwig 1994, 62), vor allem die in den letzten Jahrzehnten
in alle Bereiche vorgedrungene digitale Schriftkommunikation, führt auch
dazu, dass Tastaturschreiben und Typoskripte zur Regel, Handschreiben und
Manuskripte dagegen zur Ausnahme werden. Diese Entwicklung wird, wie
das Verschwinden des Handschreibens generell, von öffentlich geführten
Debatten begleitet, und das nicht nur in Deutschland.2 Dabei ist, wie gesagt,
gar nicht zu bestreiten, dass der medientechnische Konkurrenzdruck auf das
Paper-Pen(cil)-Paradigma – das ja wiederum die Vorherrschaft des Federkiels
im Bereich des Handschreibens abgelöst hat – erst durch die Schreibmaschine
um 19003 und dann durch die digitale Computertastatur und Textverarbeitung
im letzten Drittel des 20 Jh.s dazu geführt hat, dass das Schreiben mit Stift und
Papier sich heute auf vereinzelte Register der Schriftverwendung beschränkt. Es
ist sicherlich mehr als ein Zufall, dass zeitgleich mit der Erfindung der Schreibmaschine und ihrer schnellen, flächendeckenden Verbreitung in den Büros
1 An dieser Stelle seien einige ausgewählte Studien lediglich genannt, die den Zusammenhang der Transformation von Technik, Gesellschaft und Schriftkultur sowie deren Deutung
als Umbruch oder Kontinuität diskutieren (vgl. Eisenstein 1980, Kittler 1986, Giesecke
1991, Gitelman 1999, Baron 2009, Deegan / Sutherland 2009, Heilmann 2012).
2 Debatten dieser Art wurden etwa angestoßen von Helga Andresen in der taz (Andresen
2010 und Andresen 2011a und 2011b), Heike Schmoll in der FAZ (Schmoll 2011) oder
von Burkard Spinnen in der SZ-Wissen der Süddeutschen (Spinnen 2008). Das Pendant,
das sich, mit einem erstaunlich ähnlichen Arsenal an Argumenten, auch in den USA nachzeichnen lässt, wurde u. a. von Anne Trubek (2009) kritisch unter die Lupe genommen.
3 Spätestens seit der Berliner Schreibmaschinenausstellung von 1899 setzt sich gerade im
geschäftlichen und offiziellen Schreibverkehr die Schreibmaschine immer mehr durch,
was u. a. auch mit dem umfangreichen Unterrichtswesen für das Maschinenschreiben zu
erklären ist, das sich parallel zu den Verkaufserfolgen der Schreibmaschine entwickelt hat
(vgl. von Eye 1941, 21).
Handschreiben – Handschriften – Handschriftlichkeit
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und Sekretariaten von Behörden und Handelsunternehmen die Handschrift
zunehmend als Mittel zur Darstellung von Individualität und Persönlichkeit4
und schließlich sogar als Spiegelbild des Charakters des Schreibers angesehen
wurde, wie bspw. in der Graphologie à la Klages (1917).
In den verbliebenen Registern der Handschriftlichkeit kommt entweder
das spezifische Funktionspotential des Handschreibens mit Stift und Papier
zum Tragen, und/oder die in weiten Teilen der Gesellschaft verbreitete Wertschätzung handschriftlich verfasster Texte wird symbolisch kapitalisiert. Zu
der ersten Gruppe zählen die ephemeren Texte, die häufig eine (Selbst)Erinnerungsfunktion haben (wie z.B. Einkaufszettel oder Mitschriften) und
anderseits Skizzentexte, in denen Schrift häufig entlinearisiert, in eine logische
oder kausale Strukturen repräsentierende räumliche Anordnung gebracht
und durch graphische und bildliche Elemente ergänzt wird, so dass die
zweidimensionale Beschriftungsfläche zu einem erkenntnisstrukturierenden
und -produktiven Textraum umgewandelt wird. Zur zweiten Gruppe gehören
beispielsweise die privaten und familiären Verwendungskontexte von Schrift
wie Geburtstagseinladungen, Tischkarten, Tagebucheinträge usw. Eben weil
das Schreiben mit Stift und Papier für die Realisierung bestimmter Schreibpraktiken prädestiniert ist und als Kulturtechnik immer noch – und immer
mehr? – wertgeschätzt wird, besteht auch kein Anlass zu der Sorge, dass
die Kulturtechnik des Handschreibens im Paper-Pen(cil)-Paradigma dem
Untergang geweiht ist, jedenfalls so lange nicht, wie die Institution Schule
diese Kulturtechnik als selbstverständlichen Vermittlungsgegenstand des
muttersprachlichen Erstunterrichts betrachtet. Dass die Kulturtechnik des
Handschreibens als schulischer Vermittlungsgegenstand aber nicht sakrosankt
ist, zeigen die Ausführungen von Weingarten in diesem Heft.
Nun weist Neef zu Recht darauf hin, dass das Handschreiben schon immer
eine Kulturtechnik war und zwar in dem ganz elementaren Sinn, dass das
Schreiben mit der Hand ein komplexes technisches Symbolisierungsverfahren
unter Beteiligung der Hand ist. In diesem Verständnis ist Schreiben also,
ungeachtet der denkbaren medientechnischen Konfigurationen, notwendig
4 Stephani nimmt bereits zu Beginn des 19. Jh.s bereits einige der zu Beginn des 20. Jh.s
von der Reformpädagogik und Kunsterziehungsbewegung formulierten Ideen vorweg,
etwa wenn der Schreibunterricht für ihn nicht mehr allein darin bestehen soll, dass die
Schüler „eine gute Vorschrift erträglich gut kopiren [...] lernen“, sondern das höhere Ziel
zu verfolgen hat, dass die Schüler „sich selbst eine gute Handschrift bilden lernen“ (1815,
36).
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Manuela Böhm & Olaf Gätje
als Handschreiben zu begreifen. Ganz in diesem Sinne argumentieren auch
einige Beiträger des vorliegenden Heftes.
Kann es, so fragt Krämer, eine Schrift ohne die Hand überhaupt geben?
Vor diesem Hintergrund wird auch die paradoxe Formulierung Neefs verständlich, nach der, „Handschrift – auf unsere westlichen Schreibweisen
mitsamt ihrer Vorformen und nächsten Verwandten bezogen – [...] nicht,
wie man vielleicht auf den ersten Blick vermuten mag, eine Schrift [ist], die
mit der Hand geschrieben ist.“ (Neef 2008, 69) Denn schließlich können
„auch alphabetische Druckbuchstaben [...] handgeschrieben sein“ (ebd., Hervorheb. im Org.). Was sich beim ersten Lesen noch kontraintuitiv anhört,
erweist sich beim zweiten Nachdenken als recht triviale Wahrheit, wie der
Blick auf den Schreiberstunterricht vieler Grundschulen zeigt, in denen sog.
Druckschriften als Erstschrift unterrichtet werden, worunter unverbundene
und nicht-kursive Schriften zu verstehen sind. Wicki/Hurschler erwähnen in
ihrem Beitrag zu diesem Heft die sog. Steinschrift, die bis vor Kurzem in der
Schweiz als Erstschrift im Primarbereich unterrichtet wurde und die curricular
in der 2. Klasse durch die verbundene Schweizer Schulschrift ersetzt wurde,
die umgangssprachlich als Schnürlischrift bezeichnet wird. An der von den
Schweizern erfundenen Metapher Schnürlischrift zur Bezeichnung der in
Schweizer Primarschulen unterrichteten Schulschrift lässt sich nun das zentrale Merkmal dieser kursiven Handschrift gut verdeutlichen: Schnurartige
Verbindung der Buchstaben im Wortinnern!
Aus den bisherigen Ausführungen zum Hefttitel lässt sich zunächst der
Schluss ziehen, dass das Verhältnis zwischen Handschriften i. S. von Schreibprodukten und dem Prozess des Schreibens mit Hand als ein diffiziles Hervorbringungsverhältnis zu beschreiben ist, denn das Schreiben mit der Hand
bringt zwar auch aber nicht nur Handschriften i. S. von Schnürlischriften
hervor. Handschriften i. S. von Schnürlischriften zeichnen sich im Unterschied
zu Druckschriften, die in Handarbeit in Stein eingemeißelt, in Wachs eingedrückt, mit der Tastatur auf einem Display sichtbar gemacht oder etwa mit
dem Stift auf Papier geschrieben sein können, dadurch aus, dass sie aus einer
fließend fortlaufenden Handschreibbewegung zu einem kursiven Schriftbild
führen, in dem – wenn überhaupt5 – nur die Worte durch Spatien getrennt
sind. Schrifthistorisch gesehen hat die kurrente Handbewegung der alltäglichen Gebrauchsschrift mit der Minuskel ihre Spuren im alphabetischen
Graphemsystem hinterlassen (vgl. Stetter 1994, 691). Vor dem Hintergrund
5 Aus Phylo- und Ontogenese ist auch die sog. Scriptio continua bekannt, in der die Wortgrenzen nicht durch Spatien markiert sind.
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dieser Überlegungen wird deutlich, dass es sinnvoll ist, zwischen Praktiken
des Handschreibens und den entsprechenden Resultaten, Schriften i. S. von
Hand- bzw. Schnürlischriften und Druckschriften, zu unterscheiden.
Handschriften als Schreibprodukte
Der Begriff Handschriften im Sinne von handschriftlich angefertigten Notaten
bzw. händisch gefertigten Schreibprodukten, von antiken und mittelalterlichen
Schriftrollen oder Codices bis hin zu neuzeitlichen Manuskripten und Autographen, zielt auf die Materialität und damit auf den phänomenologischen
Aspekt des Schreibens mit der Hand. Es dauerte, wie Ludwig (1994) zeigt,
viele Jahrhunderte bis zur Ausdifferenzierung hin zu der Form schriftlicher Äußerungen, die wir heute als ‚Texte‘ oder ‚Manuskripte‘ bezeichnen. Angesichts
der Dynamik dieser Entwicklung lässt sich fragen, ob das Paper-Pen(cil)-Paradigma nicht lediglich eine vorübergehende Episode in der longue durée der
Schriftgeschichte ist, das durch andere mediale Konfigurationen des Schreibens
wenn nicht völlig abgelöst, so doch ergänzt wird. Dafür sprächen verschiedene,
aktuell beobachtbare Trends und Praktiken im schriftkulturellen Bereich.
Einem dieser Phänomene, den Schreibschrift-Fonts oder script typefaces,
widmet sich Till Heilmann in seinem Beitrag in diesem Heft. Er thematisiert
Handschriften im digitalen Umfeld, d.h. Entstehung und Einsatz von Schreibschrift-Fonts, die nicht nur bei Gestaltern und Typographen im Trend liegen,
sondern sich vor allem in der breiten Masse der Computerbenutzer wachsender
Beliebtheit erfreuen.6 Heilmann analysiert die Handschrift als Kulturtechnik,
die im Gegensatz zur Druckschrift durch die Geste und Bewegung der Hand
„die Unverwechselbarkeit und Einmaligkeit des Geschriebenen“ und damit die
„singuläre Form der Schriftzeichen“ (S. 169ff.) bildet. Diese Unverwechselbarkeit der Handschrift, die ihr eignende Schriftbildlichkeit, die sich vor allem
aus der Varianz der Formen in ihrer Reproduktion ergibt, kann jedoch „kein
Letternsatz und kein Font“ (S. 178) generieren und bleibt deshalb Simulation,
remedialisierte Handschrift. Das ‚eigentlich‘ Handschriftliche, das Heilmann
im „grafischen Überschuss“ händisch-individueller tokens verortet, steht in
6 Auf dem digitalen Markt (wie z.B. bei https://www.fontfont.com) wie auch dem BuchMarkt sind unzählige Einzelfonts, aber auch zum Teil umfangreiche Schreibschriftensammlungen zu finden, die sich auch an (typographische) Laien richten. Sie bieten oftmals, wie
etwa Hong 2010, nicht nur eine Übersicht über existierende Fonts, sondern auch frei nutzbare Fonts zum Experimentieren und mit Gestaltungs- bzw. Anwendungsvorschlägen, die
nicht nur in ihrer äußeren Form, sondern auch in ihrer Funktion an die frühneuzeitlichen
Schreibmeisterbücher erinnern.
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Manuela Böhm & Olaf Gätje
Differenz zu den abstrakten types digitaler Fonts. Die steigende Leistungsfähigkeit von Digitalcomputern ermöglicht die Nachzeichnung jeder grafischen
Form durch Pixel oder Vektoren und machte so auch verbundene Schriften
verfügbar. Für die Laien, denen in der Regel bis dato Kenntnisse bzw. Fertigkeiten und nötige Werkzeuge fehlten, um Texte händisch kalligraphisch zu
gestalten, bedeuten die neuen Schreibschrift-Fonts nach Heilmann vor allem
Demokratisierung. Ihr großes Interesse an diesen script typefaces erklärt er vor
allem durch das Bedürfnis, die für Text und Inhalt vermeintlich adäquate,
vor allem aber individuelle Form jenseits des Massenprodukts wählen zu
können – um den Preis des nicht selten unsachgemäßen Gebrauchs, wie sich
zeigt. Die Schreibschrift-Fonts können somit als Versuch gelesen werden, die
der Handschrift und den daraus gefertigten Schreibprodukten zugeschriebene
Individualität in das neue Paradigma der digitalen Schriftproduktion zu überführen und durch digitale Fonts den Verlust von Teilen einer einst analogen
Kulturtechnik zu kompensieren. Heilmanns Prognose für die Handschrift
und, so könnte man hinzufügen, für die mit ihr historisch fest verknüpften
Schreibprodukte, lautet: Nischendasein (S. 189).
In diesen Bereich der Residuen einst händischer oder zumindest prädigitaler Schreibtechnik, die jüngst ein Revival oder ihre Renaissance in gut
sortierten Nischen erleben, gehören auch das (private) Briefeschreiben, die
historischen deutschen Schreibschriften (wie Kurrent, Sütterlin, etc.) oder
die Schreibmaschine.7 Diese Phänomene reflektieren nicht nur, sie bestätigen
paradoxerweise den Wechsel vom Papier/Stift zu Tastatur/Bildschirm.
Wendet man den Blick vom prophezeiten Ende zurück zum Anfang,
dann zeigt sich, dass händisch gefertigten Texten schon in historisch vorgängigen Zeiten das Auratische der Authentizität zugeschrieben wurde und
dies kein durch den Rückgang des Handschreibens verursachter Effekt ist.
Wenn man, wie Sonja Neef (2008, 46-51) oder Sybille Krämer in diesem
Heft, mit Verweis auf den Paläontologen André Leroi-Gourhan den Anfang
allen Schreibens als „Graphismus des Symbolischen“ (S. 23ff.) in der Hand
verortet, so gilt das Diktum „Im Anfang war die Hand“ (Neef 2008, 48) für
7 Aus der Vielzahl hierfür existierender Beispiele sei nur das nahezu zeitgleiche Erscheinen
dreier Bücher zur Kunst des Briefeschreiben (vgl. Hensher 2012, Sansom 2012, O‘Connell
2012) als symptomatisch herausgegriffen. Die wachsende Faszination für Handgeschriebenes zeigt sich auch hierzulande in zahlreichen Anleitungen zu Kalligraphie, zum Erlernen
deutscher historischer Schreibschriften oder Neuauflagen populärer Literatur des 19. Jh.s
in Sütterlinschrift (Struwwelpeter, Max & Moritz, Grimms Märchen, etc.). Zur Renaissance der Schreibmaschine, vgl. Bruder 2011.
Handschreiben – Handschriften – Handschriftlichkeit
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Handschriften im Sinne von Schreibprodukten in ganz besonderem Maße.
Denn: Bis zur Einführung des Buchdrucks war per se jeder Text ‚Handschrift‘.
Diesen Status als alleiniges bzw. dominantes Schriftstück verliert die Handschrift nach und nach und in mehreren Etappen an Druckerpresse, Schreibmaschine und Digitalcomputer. Zunächst führte der Erfolg der Druckerpresse
zur pragmatisch-funktionalen Neusortierung der Textproduktion: Sämtliche
pragmatische Schriftlichkeit im administrativen und wirtschaftlichen Bereich
(Urkunden, Protokolle, Buchhaltung, Geschäftsbriefe, Listen etc.) wie auch
im privaten Kontext (private Korrespondenz, Journale, Memoiren etc.) blieb
der händischen Textproduktion vorbehalten. In Umfang und Menge war der
Erfolg des Buchdrucks enorm: Um 1500 schon wurden die handschriftlichen
Texte von den Drucken überholt (Stein 2010, 226). Dennoch sorgte die
Druckerpresse nicht für die Verdrängung händisch gefertigter Texte. Im
Gegenteil; infolge wachsender Literalität und damit der Popularisierung von
Schriftkultur stieg auch die Schriftproduktion im handschriftlichen Bereich,
der sich inhaltlich und formal zunehmend am Vorbild der druckschriftlichen
Kultur ausrichtete (Stein 2010, 226).
Soziokulturelle Prozesse wie Expansion, Popularisierung, Demotisierung,
Privatisierung von Schreiben in Neuzeit und Moderne blieben natürlich nicht
ohne Effekt auf die Schreibprodukte. Der private, handgeschriebene Brief
wurde zum Kulminationspunkt neuzeitlicher Schriftkultur; Ausdruck dafür
ist nicht nur die rein quantitative Explosion von Briefkorrespondenz im 18.
Jh., sondern auch die soziokulturelle Dimension des Briefeschreibens als Ausdruck einer explizit bürgerlich verankerten Lese- und Schreibkompetenz und
seine „literarische Nobilitierung“ (Stein 2010, 227) zur literarischen Gattung.
Forschungshistorisch hat man sich bei der Erforschung der Briefkultur, wie der
frühmodernen Schriftkultur generell, stark auf inhaltliche, textpragmatische
und literaturtheoretische Aspekte konzentriert. Die Schriftbildlichkeit, also
die visuell-materiale Oberfläche und das ikonographische Potenzial, das stark
an die handschriftliche Repräsentationsform von Autographen als eigenhändig
gefertigte Schriftstücke gebunden ist, trat erst jüngst in den Horizont der
Untersuchungen.8 Diesen Aspekten gehen in diesem Heft Thorsten Gabler
und Stephan Kammer auf verschiedene Weise nach.
Briefautographen, also eigenhändig geschriebene Briefe, charakterisiert
Gabler in seinem Beitrag als ‚Kontaktbilder‘. Als Spur des abwesenden Schreibers evozieren sie seine Anwesenheit, stellen so eine Kontiguitätsbeziehung
zwischen Schriftstück und Schreiber her und überbücken raum-zeitliche Dis8 Vgl. Krämer / Cancik-Kirschbaum / Totzke 2012 und Giuriato / Kammer 2006.