Veranstaltungsbericht Bewaffneter Friede. Die Militarisierung der DDR-Gesellschaft 9. Juni 2015 | 18:00 – 20:00 Uhr | Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin Am 9. Juni 2015 luden die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die Deutsche Gesellschaft e. V. und der Berliner Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR im Rahmen ihrer gemeinsamen achtteiligen Reihe „Erinnerungsort DDR: Alltag, Herrschaft, Gesellschaft“ zur dritten Veranstaltung ein. In der Veranstaltung wurde der Widerspruch zwischen der staatlichen Friedenspropaganda und der starken Militarisierung der DDR-Gesellschaft im Alltag thematisiert und danach gefragt, in welchem Maß das Leben der Menschen davon beeinflusst wurde. Dr. Jens Schöne, stellv. Berliner Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, begrüßte die Veranstaltungsteilnehmer und verwies eingangs darauf, dass die SED-Machthaber von allen DDR-Bürgern die Bereitschaft einforderten, sich der verordneten Militarisierung des Staates unterzuordnen. Unter anderem Militärparaden zum Tag der Republik, Spielzeugpanzer in Kindergärten, die vormilitärische Ausbildung Jugendlicher oder die Mitwirkung in der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) legen ein Zeugnis davon ab. Schließlich wurden wurden mit dem Wehrdienstgesetz aus dem Jahr 1982 sogar Frauen in die Pflicht genommen, ggf. den allgemeinen Wehrpflicht abzuleisten. „Die Militarisierung wurde trotz Protest bewusst als gesamtgesellschaftliches Phänomen vorangetrieben“, so Herr Dr. Schöne. Oberst Prof. Dr. Matthias Rogg, Direktor des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr Dresden, leitete mit einem Vortrag in die Thematik ein. Die Meinungen zu der Frage, welche Rolle das Militär in der DDR spielte, würden stark auseinandergehen. Einige Historiker würden die Bedeutung des Militärs nur als Randbemerkung behandeln. Nicht nur die Größe des Militärs, sondern auch der militärische Habitus und die Überformung politischer, gesellschaftlicher und kultureller Strukturen durch das Militär hätten jedoch in der DDR aus einer zivilen eine militärische Gesellschaft gemacht. Das Militär habe in der DDR eine Rolle eingenommen, die weit über die Landesverteidigung hinausgegangen sei. „Die DDR zählt zu den militarisiertesten Staaten der jüngsten Geschichte“, so die These von Oberst Rogg. Dies spiegle sich in der Statistik wider. Der militärische Sozialismus der DDR habe in den 1980erJahren rund zwei Millionen Menschen durch militärische oder paramilitärische Organisationen erfasst. Jeder vierte bis fünfte Erwachsene sei – etwa als Angehöriger der Grenztruppen, der Nationalen Volksarmee (NVA), der Volkspolizei, der Betriebskampfgruppen oder der aktiven Reservistenkollektive – in das System der sozialistischen Landesverteidigung eingebunden gewesen. Der militärische Habitus sei allgegenwärtig gewesen: „Die Landesverteidigung ist Wesensmerkmal der sozialistischen Gesellschaft“, zitierte Oberst Rogg aus dem Parteiprogramm der SED. Aktive Landesverteidigung habe für die DDR gleichzeitig „Friedensdienst“ bedeutet. Je höher der Beitrag junger Menschen für die Landesverteidigung gewesen sei, umso mehr sei der SED-Staat dazu bereit gewesen, in ihre Ausbildung zu investieren. Wer sich verweigerte, habe nicht mit der Unterstützung rechnen können und sei zudem moralisch disqualifiziert worden. Anschließend eröffnete Dr. Marc-Dietrich Ohse, Historiker und Journalist, das Podium. Zu den Diskutanten zählten Dirk Bachmann, letzter Polizeipräsident Ost-Berlins, Jutta Seidel, Mitbegründerin der „Frauen für den Frieden“, Ralf Treptow, Schulleiter des Rosa-LuxemburgGymnasiums in Berlin-Pankow und Vorsitzender der Vereinigung der Oberstudiendirektoren des Landes Berlin e. V. sowie Oberst Rogg. Wenngleich es in der Militärpolitik der DDR Wellen der Liberalisierung und Radikalisierung gegeben habe, sei die Militarisierung – besonders auch im Schulunterricht – omnipräsent gewesen, so Frau Seidel. Sie habe damals die Teilnahme an einem Zivilverteidigungslager abgelehnt. Ihr Vater sei als Lehrer mit der Berufslenkung beauftragt gewesen – zu seinen Aufgaben habe auch gezählt, Berufs(-unter-)offiziersbewerber zu gewinnen. Ihre Beteiligung an der Eingabe gegen das Wehrdienstgesetz aus dem Jahr 1982 sei für sie ein wunderbarere Gelegenheitgewesen, sich einmal öffentlich gegen die Militarisierung der DDR zu äußern. Die Widerstandsgruppe „Frauen für den Frieden“ sei dann direkt nach dieser Eingabe gegründet worden. Herr Bachmann stimmte den Ausführungen weitgehend zu. Die Nachwuchsgewinnung habe in der NVA eine dominierende Rolle gespielt. Die militärische Ausbildung sei menschenunwürdig gewesen. „Zum Glück war ich während meines Wehrdienstes bei den Grenztruppen in Marienborn nie in der Situation, die Waffe auslösen zu müssen,“ so Herr Bachmann. Besonders das gewaltsame Agieren der Volkspolizei, etwa bei den Protesten rund um den 40. Jahrestag der DDR gegenüber Demonstranten am 7. Oktober 1989, sei beschämend gewesen. Die Militarisierung sollte jedoch nicht nur auf die DDR bezogen werden – Kausalzusammenhänge zur Bundesrepublik müssten in die Betrachtungen einbezogen werden. Herr Treptow habe selbst keinen Wehrkundeunterricht mehr erlebt, erinnere sich aber sehr gut daran, wie umfassend an der Schule für die Ausübung des Wehrdienstes geworben wurde. Einmal wöchentlich habe ein NVA-Offizier eine Unterrichtsstunde durchgeführt. „Der Druck, zum Wehrdienst zuzustimmen, war sehr groß“, so Herr Treptow. Er habe sich dem Wehrdienst nicht verweigert, da ihm sonst der Weg zum Studium versperrt worden wäre: „Ich war kein Regimegegner, habe aber versucht, mich soweit es ging, dem System zu entziehen“, so Herr Treptow. Den Wehrdienst selbst habe er als „schlimmste Zeit“ seines Lebens in Erinnerung behalten. Oberst Roggs These, die DDR sei eine der militarisiertesten Staaten der jüngsten Geschichte gewesen, konnte nicht abschließend geklärt werden. Bei den Diskutanten bestand jedoch Einigkeit darüber, dass die SED-Diktatur zweifelsfrei einen überzogenen Militär- und Sicherheitsapparat unterhielt und das Militär zur Herrschaft, Kontrolle und Mobilisierung nach innen instrumentalisierte. Wichtig sei es, diese Thematik nicht als Fußnote verkommen zu lassen. Im Anschluss erhielt das Publikum die Gelegenheit, Fragen an die Diskutanten zu richten. Dr. Heike Tuchscheerer
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