Predigt über Mk 2,1-12 am 11.10.2015 (Gottesdienst zur Vorstellung der Konfirmanden) Liebe Gemeinde! Was lähmt einen Menschen? Eine Frau kann nach einem Schlaganfall ihre linke Hand nicht mehr gebrauchen. Das Sprechen fällt ihr schwer. Immer wieder fragen die anderen nach, inzwischen hat sie es beinahe aufgegeben und schweigt. Gelähmt. Ein Mann sitzt seit seinem Motorradunfall im Rollstuhl. Die Beine lassen sich nicht mehr bewegen, sind ohne Gefühl. Gelähmt. Es gibt Lähmungen, die gehen vorüber: Ausfallerscheinungen nach einem Bandscheibenvorfall lassen ansatzweise erahnen, was das bedeutet, wenn ich meine Hände oder Beine nicht bewegen kann. Es gibt aber auch Lähmungen, die lassen sich nicht heilen. Wenn die Nervenbahnen durchtrennt oder zu stark geschädigt sind, dann ist auch die Medizin mit ihren Möglichkeiten am Ende. Gott sei Dank erfahren immer wieder Menschen, dass diese Lähmung ihr Leben zwar einschränkt, aber nicht unmöglich macht. Gott sei Dank gibt es diese Erfahrung, dass Menschen ihr Leben neu entdecken und mit ihrer Lähmung zu leben lernen. Sie nehmen ihr Leben in die eigenen Hände und gehen auf andere Weise ihren Weg. Gut ist, wenn sie Menschen haben, die sie und ihre Situation mittragen – wie die Freunde in unserer Geschichte. Was lähmt einen Menschen? Neben den Lähmungen des Körpers gibt es auch Lähmungen der Seele. „Ich war gelähmt vor Angst“ sagen wir manchmal: Der Schrecken hatte mich so sehr besetzt, dass ich mich nicht mehr rühren konnte. Ich habe mich nicht getraut, auch nur einen Schritt zu machen. Ich konnte nichts mehr tun. Ich war gelähmt vor Angst. Perfektionismus kann einen Menschen lähmen: Das schaffe ich ohnehin nicht, da brauche ich es erst gar nicht zu versuchen. Da kann ich es gleich bleiben lassen. Ich verdamme mich selbst zur Untätigkeit, weil ich meine eigenen Ansprüche nicht erfüllen kann; weil ich zu viel von mir erwarte. Ich bin wie gelähmt. Und Schuld kann lähmen – auf vielerlei Weise. Ich habe einen Fehler gemacht und andere leiden unter den Folgen. Ich gäbe alles dafür, wenn ich das rückgängig machen könnte. Aber das geht nicht. Ich kann es ich nicht wieder gut machen kann. Wie soll ich damit leben? Bei allem, was ich mir vornehme, werde ich daran erinnert, was ich getan habe. Alles, was ich beginne, fühlt sich irgendwie falsch an. Nichts hat mehr einen Sinn oder einen Wert. Am liebsten würde ich von allem die Finger lassen. Kaum vorstellbar, dass ich jemals wieder zu mir sagen kann: „Das hast du gut gemacht“. So ziehen sich die Tage dahin wie klebriger Honig. Von meiner Schuld gelähmt. Lähmen kann auch die Schuld der anderen. Man hat mir Unrecht getan. Man hat mir mein Leben kaputt gemacht. Ich halte es nicht mehr aus. Ich ertrage es schier nicht mehr. „Du bist schuld daran, dass es mir so geht.“ Die Vorwürfe, die ich erhebe, sind alle berechtigt – aber sie helfen mir nicht. Sie bringen mir mein altes Leben nicht zurück. Und manchmal stehen sie wie ein Stacheldraht vor dem Weg in ein neues Leben. Den ersten Schritt zu gehen, das hieße doch: Ich tue so, als sein nichts geschehen. Aber so einfach geht das nicht. Ich kann das nicht einfach beiseite schieben. Zu schwer liegt das auf meiner Seele. Ich bin wie gelähmt. Auch um eine solche Lähmung der Seele geht es in diesem Abschnitt aus dem Markusevangelium. Er wird von vier Freunden getragen. Wie gut, wenn ein Mensch getragen wird! Wie gut, wenn Menschen da sind, die Dich tragen – dann, wenn Du alleine nicht gehen 1 kannst, weil Du gelähmt bist an Leib oder Seele. Die Freunde tragen ihn in seinem Leid. Sie können ihm seine Lähmung nicht nehmen, und doch ändern sie seine Lage. Sie wissen, bei wem es Hilfe für ihn gibt, und bringen ihn dorthin. Sie lassen nicht locker. Hartnäckig bahnen sie sich und ihrem gelähmten Freund den Weg. Sie steigen Jesus aufs Dach, weil sie sich mit der Not ihres Freundes nicht abfinden. Sie machen ein Loch in das Dach und legen ihren Freund Jesus vor die Füße. Und dann heißt es da: Als Jesus ihren Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten: Mein Kind, deine Schuld ist dir vergeben. Zweierlei finde ich daran bemerkenswert: Der Glaube, den Jesus hier sieht, das ist der Glaube der vier Freunde. Der Glaube des Gelähmten ist an dieser Stelle gar nicht von Bedeutung. Mag sein, dass der seinen Glauben verloren hat; dass er verbittert ist und die Hoffnung aufgegeben hat. Aber seine Freunde trauen Jesus zu, dass er helfen kann. Sie glauben an seine Kraft. Manchmal brauchen wir das, dass andere stellvertretend für uns glauben; dass sie uns tragen mit ihrer Hoffnung, wenn uns nicht nach Hoffen zumute ist; dass sie mit ihrem Glauben die Angstberge versetzen oder die Schuldgräben überbrücken, die uns vom Leben trennen. Damit bin ich beim Zweiten: Offenbar erkennt Jesus, dass da einer nicht nur an den Beinen gelähmt ist, sondern auch an der Seele. Gelähmt von Schuld. Als Jesus ihren Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten: Mein Kind, deine Schuld ist dir vergeben. Was immer Du getan hast: Hier sind Menschen, die sind bereit, Dich und Dein Leid mit Dir zu tragen. Was immer Du getan hast: Lass es Dir gefallen, dass Menschen bereit sind, Dir Halt zu geben. Was immer Du getan hast - deine Schuld ist dir vergeben. An diesem Satz entzündet sich eine Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten. Das ist Gotteslästerung. Nur Gott allein kann Schuld vergeben. So denken sie. Daraufhin fragt sie Jesus: Was ist einfacher? Dem Gelähmten zu sagen: 'Deine Schuld ist dir vergeben', oder zu sagen: 'Steh auf, nimm deine Matte und geh umher'? Da geht es natürlich nicht nur darum, das einfach zu sagen, sondern es so zu sagen, dass das dann auch geschieht: Dass der Gelähmte aufstehen, seine Matte nehmen und davongehen kann und dass die Schuld wirklich vergeben ist – ausgeräumt, von den Schultern genommen. Ich lese das so, dass ein Wunderheiler in der damaligen Zeit wohl nichts völlig Unbekanntes war. Daran hätten die Schriftgelehrten wohl keinen Anstoß genommen. Ich gestehe, dass es mir eher umgekehrt geht: Ich habe das noch nie geschafft, einen Menschen von einer körperlichen Krankheit zu heilen. Und ich gestehe ganz offen, dass ich im Blick auf Heilungsgottesdienste und derlei Dinge eher skeptisch bin. Aber nehmen wir die Frage Jesu einmal nicht als rhetorische Frage: Was ist einfacher? Dem Gelähmten zu sagen: 'Deine Schuld ist dir vergeben', oder zu sagen: 'Steh auf, nimm deine Matte und geh umher'? Schuld vergeben ist keine Kleinigkeit. Vergebung zusprechen – so, dass der andere wirklich befreit seiner Wege ziehen kann – das ist etwas anderes als ein wenig nett zueinander zu sein. Irgendwie haben die Schriftgelehrten ja Recht: Nur Gott allein kann Schuld vergeben. Wo einem Menschen die Schuld vergeben wird; wo ihm die Last von den Schultern genommen wird und er erhobenen Hauptes nach vorn blicken kann – nicht mehr gelähmt von der eigenen Schuld und dem Gedanken an das, was er angerichtet hat; wo ein Mensch Vergebung so erfährt, dass sie sein Leben zum Guten hin verändert, da ist Gott am Werk. Der Weg dorthin ist oft genug lang und beschwerlich. Es braucht den ehrlichen Blick auf die eigene Schuld. Es braucht das offene Wort. Es braucht den Mut, zur eigenen Schuld zu stehen – sie nicht klein zu reden. Es braucht das Eingeständnis, dass ich selbst daran nichts ändern kann. Niemand kann sich selbst entschuldigen. Das können immer nur andere. Und das ist kein Automatismus. Ich habe keinen Anspruch darauf. Wenn sie gelingt, ist das ein Geschenk. Nur Gott allein kann Schuld vergeben. Das ist auch für ihn keine Kleinigkeit, aber er tut nichts lieber als das. Lass Dich tragen: Von denen, die für Dich glauben, und von Gott, der zu Dir spricht: Nimm dein Leben in die Hand. Brich auf und geh deinen Weg, Deine Schuld ist dir vergeben. 2 Thomas Abraham 3
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