GEWINNE AUF REZEPT ÄRZTE ALS UNTERNEHMER. Neue Gemeinschaftsordinationen, blühende Nebengeschäfte, Privatärzte-Boom: Die Welt der Mediziner ist im Umbruch wie lange nicht mehr. Immer mehr Ärzte verstehen sich auch als Geschäftsleute, doch ihre Zukunft hängt fundamental davon ab, in welche Richtung die Politik jetzt die Weichen stellt. Ein Röntgenblick auf das „Geschäftsmodell Arzt“. Von Bernhard Ecker TITELGESCHICHTE Dezember 2015 | trend 12 61 62 trend 12 | Dezember 2015 „Es ist notwendig, die Kooperation zwischen den Berufsgruppen im Gesundheitswesen zu stärken.“ Sabine Oberhauser, Gesundheitsministerin er gar für „die letzte Chance, dass nicht die Allgemeinmedizin als Ganzes wegstirbt“. Systemwechsel. Die Welt der Ärzte ist im Umbruch wie lange nicht – und damit auch die Welt der Patienten. Während die Spitalsärzte mit Streikdrohungen eine Verkürzung ihrer Arbeitszeit durchsetzten, gerät der niedergelassene Bereich, wo der Arzt in seiner Ordination als Unternehmer agiert, ins Visier der Krankenkassen, die Kosten senken müssen. Es geht um einen über 34 Milliarden Euro großen Markt, in dem fast neun Milliarden in die ambulante Gesundheitsversorgung fließen (siehe Grafiken auf Seite 69). Private zahlen schon jetzt in Summe ein Viertel aus der eigenen Tasche: durch Zuzahlungen zu Medikamenten, Extra-Euros für Atteste und Impfungen, diverse Selbstbehalte oder schlicht durch den Kauf einer hochwertigeren Zahnfüllung. Über die künftigen Rahmenbedingungen wird derzeit politisch gestritten – weil abzusehen ist, dass es zu einem weiteren Auseinanderdriften zwischen dem öffentlichen Basisangebot und einem Paralleluniversum kommt, in dem gegen private Aufzahlung maßgeschneiderte Behandlungen ohne Wartezeiten geboten werden. Auch die Ärzteschaft selbst ist zerrissen. Für den trend sind die aktuellen politischen Diskussionen ein Anlass, das „Geschäftsmodell Arzt“ zu röntgen. Wegen des Kostendrucks der Krankenkassen war das anschwellende Gejammer in der Ärzteschaft in den letzten Jahren unüberhörbar. Doch wer einen Blick auf die verfügbaren wirtschaftlichen Eckdaten wirft, muss zum Schluss kommen, dass in naher Zukunft eher keine Pleitewellen unter den niedergelassenen Medizinern zu erwarten sind. Nettoeinkommen von 10.000 Euro im Monat sind besonders bei den fachärztlichen Ordinationen nach wie vor nicht selten. > TITELGESCHICHTE HANS PUNZ / APA / PICTUREDESK.COM, HANS KLAUS TECHT / APA / PICTUREDESK.COMM, GETTY IMAGES E in lichtdurchflutetes Stockwerk mit über 1000 Quadratmetern, lächelnde Rezeptionistinnen, die zweisprachig medizinische Fachvokabeln durchdeklinieren, freundliche, offene Wartezonen – das Wiener Gesundheitszentrum Mediclass würde sich prächtig als Kulisse für eine kitschige US-Ärzteserie eignen. 60 Ärzte und Therapeuten bieten in der Wiener Krieau, einen Steinwurf von der neuen Wirtschaftsuni entfernt, ihre Dienstleistungen an. Rund 7000 Mitglieder hat der selbsternannte „Gesundheitsclub“ vier Jahre nach dem Start, darunter die Belegschaften von Raiffeisen Informatik und ProSiebenSat.1 Puls 4 Österreich. „Unser Modell ist weltweit einzigartig“, behauptet Geschäftsführer Christoph Sauermann, als langjähriger Manager in der Pharmaindustrie mit den Finessen des heimischen Gesundheitssystems wohlvertraut. Die Mediclass-Mediziner, Schmerzspezialisten ebenso wie Praktiker, Urologen ebenso wie Homöopathen, zahlen keinen Cent Miete und müssen nichts investieren – ideal etwa für Spitalsärzte, die nebenher ein paar Stunden zusätzlich ordinieren wollen, ohne sich um den Kleinkram kümmern zu müssen (siehe Porträt auf Seite 68). Im Gegenzug fordern sie oft nur die Hälfte oder gar ein Drittel des Honorars, das sie in einer eigenen Ordination verlangen könnten. Den Kunden kann Sauermann auf diese Weise privatärztliche Leistungen zum Kassentarif bereitstellen – für eine „Clubgebühr“ von 300 Euro pro Jahr, die zur Finanzierung der laufenden Fixkosten dient: Personal, Ordinationsausstattung etc. Der Break-even ist bereits erreicht, 11.000 Patienten sind die Obergrenze. Mediclass II ist bereits in Vorbereitung. Fünf Zentren sollen laut den Betreibern in der Bundeshauptstadt Platz haben, auch Graz und Linz stehen auf dem Expansionsplan. Andernorts schrillen angesichts dieser Entwicklung die Alarmglocken: „Es ist ein Armutszeugnis für unser Gesundheitssystem, dass es so etwas wie Mediclass gibt“, empört sich Gerald Bachinger. Der Sprecher der österreichischen Patientenanwaltschaft bestreitet gar nicht, dass das schicke Club-Konzept funktioniert. Doch er sieht eine sukzessive Aushöhlung des öffentlichen Systems, wenn immer mehr Patienten und Ärzte in einen Bereich strömen, der von den Kassen nur mehr teilweise gesteuert werden kann. Bachinger hofft deshalb auf die von Gesundheitsministerin Sabine Oberhauser forcierten Primärversorgungszentren, die unter dem Kürzel PHC (Primary Health Care) firmieren und mit besseren Öffnungszeiten und klar definierten Leistungskatalogen die logische Erstanlaufstelle für die Patienten werden sollen. Diese vernetzten Ordinationen, die Hausärzte des 21. Jahrhunderts, hält Ausweichmanöver Immer mehr Ärzte pfeifen auf einen Kassenvertrag und wollen als Wahlärzte ihre Honorare selbst festsetzen und ihre Zeit frei einteilen können. Der Anteil der Vertragsärzte ist in den letzten zwei Jahrzehnten bei den Fachärzten am stärksten gesunken. Er beträgt dort nur noch ein Drittel, bei den praktischen Ärzten immerhin noch zwei Drittel. Am relativ höchsten ist er bei den Zahnärzten. Anteil der Vertragsärzte, 1996 vs. 2014 84% 76% 72% 57% 63% 33% „Man kann nicht jemanden knebeln und sich dann darüber aufregen, dass er nicht spricht.“ bei Zahnärzten bei Fachärzten bei praktischen Ärzten Quelle: Bank Austria, Hauptverband, Ärztekammer Johannes Steinhart, Ärztekammer G’sunder Profit Der Datenanbieter Atlas Medicus analysiert auf Basis von Krankenkassenzahlen Umsatz-, Rentabilitäts- und Investitionskennziffern, um Medizinern das Benchmarking zu erleichtern – auch in Österreich. Die Raiffeisenlandesbank NÖWien verwendet das Tool zur Beratung ihrer Kunden und gewährte dem trend einen exklusiven Einblick. Demnach sind Laborärzte und Radiologen in den letzten Jahren von Einzelkämpfern zu Kleinund Mittelbetrieben mit Millionenumsätzen geworden. Neurologen, Urologen und Hautärzte erzielen Gewinnmargen von über 50 Prozent. Was die Umsätze neben den vertragsärztlichen Honoraren betrifft, sind die Hautärzte mit Abstand Spitzenreiter, gefolgt von Radiologen und Zahnärzten. Umsatz in Euro Gewinn vor Steuern in Euro Anteil der sonstigen Umsätze Umsatz je Arztstunde Arbeitszeit des Arztes je Fall in Min. Laborarzt 7.033.877 1.022.022 13,64 % 3.328 0,6 Radiologe 2.852.859 616.218 41,16 % 1.350 5,7 Hautarzt 616.014 348.110 46,03 % 291 16 Augenarzt 613.672 304.627 34,43 % 290 17 Orthopäde 578.602 194.873 25,30 % 274 27,2 Internist 570.098 217.048 13,64 % 270 33,8 Zahnarzt 469.030 147.791 36,07 % 222 41,5 Lungenarzt 457.072 180.635 16,04 % 216 31,2 Chirurg 451.589 219.065 22,99 % 214 50,4 HNO-Arzt 434.004 212.054 18,63 % 205 26 Urologe 393.705 224.215 8,26 % 186 30,4 Neurologe 379.291 220.178 17,32 % 179 41,9 Gynäkologe 354.007 154.453 30,57 % 167 28,8 Kinderarzt 353.790 140.667 26,18 % 167 27,3 Allgemeinmediziner 296.434 125.895 13,75 % 140 27,8 Quelle: Atlas Medicus/Raiffeisenlandesbank NÖ-Wien TITELGESCHICHTE Dezember 2015 | trend 12 63 „Ich halte das Anreizmodell für vernünftig: Du verpflichtest dich zu verbindlichen Mehrleistungen, dafür erhältst du mehr Geld.“ Der Teamplayer Die Ärzte haben sich außerdem mit Zusatzgeschäften von Botox bis Gentests Umsatzquellen abseits der Kassen erschlossen und sich so – unternehmerisch betrachtet – unabhängiger gemacht. Das schlägt sich auch im Einkommensbericht des Rechnungshofs 2014 nieder. Der Durchschnitt aller selbstständigen Berufe, vom Architekten bis zum PR-Berater, liegt dort bei 44.160 Euro jährlich. Die Ärzte dagegen spielen in einer eigenen Liga: Die durchschnittlichen Einkünfte von Selbstständigen in Facharztpraxen liegen bei 154.759 Euro, in zahnärztlichen Ordinationen bei 124.711 Euro und in Arztpraxen für Allgemeinmedizin bei 99.004 Euro. Der schleichende Systemwechsel, von dem Patientenvertreter Bachinger spricht, hat diese starke ökonomische Position wohl begünstigt: Immer mehr Mediziner haben von Kassen- auf Wahlarztmodus umgeschaltet, wo sie die Honorare frei bestimmen und die Patienten sich 80 Prozent des Kassentarifs zurückholen können: Der Anteil unter den rund 21.000 niedergelassenen Medizinern im Land, die Verträge mit zumindest einer der 22 Krankenkassen haben, ist markant gesunken, bei den Allgemeinmedizinern um fast zehn, bei den Fachärzten um über 20 Prozentpunkte. Von den 5500 niedergelassenen Ärzten in Wien haben nur noch 1800 einen Vertrag mit der Gebietskrankenkasse. > 64 trend 12 | Dezember 2015 TITELGESCHICHTE Der Allgemeinmediziner begann mit einer Einzelordination, startete dann mit einem Kollegen eine Gruppenpraxis, zu der 2013 eine dritte Ärztin stieß – seit Mai betreiben die drei Partner Franz Mayrhofer, Fabienne Lamel und Wolfgang Mückstein das Modellprojekt MedizinMariahilf, Österreichs erstes Primary Health Care Center (PHC). 850.000 Euro Honorarumsatz erzielt das Zentrum an der Mariahilferstraße, dazu gibt es 210.000 Euro extra von der Wiener Gebietskrankenkasse und der Stadt Wien, vor allem, um die Mehrkosten durch die von 40 auf 50 Stunden ausgeweiteten Öffnungszeiten abzufedern. Eingebunden sind auch ein Psychotherapeut und ein Sozialarbeiter. 12.500 Patienten werden von MedizinMariahilf, das 52 Wochen im Jahr geöffnet haben wird, versorgt. Die Zahl soll schon bald auf über 15.000 wachsen. Das Anreizmodell der Gebietskrankenkasse hält Mückstein für vernünftig: „Du verpflichtest dich zu verbindlichen Mehrleistungen, dafür erhältst du mehr Geld.“ Denn bisher könnten Patienten quasi willkürlich im Kreis geschickt werden: „Es gibt Kollegen, die wollen sich eine Blutabnahme um vier Euro oder Ohrenausputzen um 2,50 Euro für zehn Minuten nicht antun – das darf nicht sein.“ Überzeugt ist er, dass das PHC ein Modell der Zukunft ist, um dem kassenärztlichen Bereich einen Innovationsschub zu verleihen. „Junge Ärzte wollen sich immer mehr vernetzen.“ Und sich untereinander vergleichen: Während praktische Ärzte in der Regel ein Bruttoergebnis zwischen 30 und 40 Prozent erreichen, „liegen wir bei 48 Prozent“, ist Modellarzt Mückstein stolz. Beim zweiten für Wien geplanten PHC in der Nähe des Donauspitals hapert es übrigens noch – bei der Teamfindung. LUKAS ILGNER Wolfgang Mückstein, 41 Arzt in der Modellordination der Zukunft Was der Arzt an Ihnen verdient Kassentarif • durchschnittlicher Privattarif In den Dutzenden Honorarordnungen, die zwischen den Sozialversicherungsträgern und den Ärztekammern vereinbart werden, sind die Tarife für jeden kleinsten ärztlichen Handgriff genau festgelegt. Sie können von Region zu Region und von Kasse zu Kasse beträchtlich schwanken – unsere Grafik zeigt typische Werte für ärztliche Tätigkeiten. Für Mediziner außerhalb des Kassensystems gibt es privatärztliche Honorarempfehlungen der Ärztekammer. In der Praxis verrechnen Wahl- und Privatärzte oft das Dreifache des Kassentarifs, bei Untersuchungen wie Magen- oder Darmspiegelung kann es auch das Fünffache seien. Dafür bieten die Privaten oft individuellere Terminmöglichkeiten und mehr Zeit. Das Wiener Ärztezentrum Mediclass hat die augenfällige Differenz zwischen Kassen- und durchschnittlichem Privattarif zum Kern seines Geschäftsmodells gemacht und bietet seinen Kunden an, gegen eine jährliche Clubgebühr Privatarztleistungen zum Kassentarif konsumieren zu können. Klassische Homöopathie Erstgespräch 140€ • 200€ Augenärztliche Untersuchung 25€ • 110€ Internistische Untersuchung mit EKG 40€ • 120€ Nasen-Endoskopie 30€ • 110€ Ohrenschmalzentfernung 14€ • 35€ Amalgam- vs. Kunststofftahnfüllung 17€ • 40€ Gastroskopie (Magenspiegelung) 99€ • 225€ Mammografie (beide Seiten) 56€ • 95€ Ausspülung des Magens 16€ • 59€ Blutabnahme Gynäkologische Untersuchung inkl. Ultraschall 4€ • 13€ 80€ • 130€ 55€ • 72€ 60€ • 140€ Entfernung oberflächlicher Hauttumore 80€ • 150€ Warzenentfernung 40€ • 120€ Quellen: div. ärztliche Honorarordnungen und -empfehlungen (Österreichische Ärztekammer, Gebietskrankenkassen), Mediclass, Preislisten von Privatärzten TITELGESCHICHTE Abnahme eines kleinen Gipsverbandes 5€ • 24€ 3,27€ • 35€ ISTOCKPHOTO (2) 80€ • 300€ Ausführliche urologische Untersuchung inkl. Ultraschall Hämorrhoidenverödung durch Injektion Endoskopische Untersuchung der Harnblase Koloskopie (Darmspiegelung) Dezember 2015 | trend 12 65 „Hätte ich keine Hausapotheke, könnte ich genauso wieder als Spitalsarzt arbeiten. Die Apotheke ist mein fünftes Quartal.“ Der Landarzt Neben dem boomenden Wahlarztsystem ist aber auch ein rein privater Bereich entstanden, der völlig losgelöst funktioniert. Beispiele wie jenes der Ästhetischen Medizinerin Karin Girkinger, die nach Einsätzen für Ärzte ohne Grenzen und einer vorgezeichneten klassischen Karriere in eine lukrative privatmedizinische Nische geflüchtet ist (siehe Seite 72), sind kein Einzelfall. Neu hinzugekommen sind zudem reine Honorarärzte, die von Job zu Job im Spital oder von Auslandseinsatz zu Auslandseinsatz hoppen (siehe Kasten „Flying Doctors“ auf Seite 71). Überall, wo teure Großgeräte Voraussetzung für die Ausübung des Berufs sind, hat der Kostendruck der Kassen in den letzten Jahren überdies zur Rationalisierung und zum Zusammenschluss mehrerer Einzelkämpfer zu Betrieben mittlerer Größe geführt. Die neun Wiener Labormediziner von labors.at zum Beispiel beschäftigen inzwischen 380 Mitarbeiter, vom Diagnostiker bis zum Fahrer, und setzen pro Jahr über 30 Millionen Euro um (siehe Seite 74). Auch die Anzahl der Radiologen ist seit einigen Jahren rückläufig; im Gegenzug entstehen größere und rentablere Einheiten. Streitfall Honorierung. Jahrzehnte lang funktionierte das Geschäftsmodell selbstständiger Ärzte, vereinfacht gesagt, so: Sobald ein Patient eine Ordination betrat und sein Krankenschein, 66 trend 12 | Dezember 2015 TITELGESCHICHTE In Herrnbaumgarten und Schrattenberg, zwei Gemeinden mit weniger als 1000 Einwohnern im niederösterreichischen Bezirk Mistelbach, ist er die Anlaufstelle für Wehwehchen aller Art. Dennoch bezeichnet er sich als Auslaufmodell: „Es gibt hier mehr Todesfälle als Geburten, meine Patienten vermehren sich nicht.“ Und: „Mein Nachfolger wird keine Hausapotheke mehr haben, weil die nächstgelegene Apotheke zu nahe liegt.“ Neuretter, der vor seinem Sprung in die Selbstständigkeit bis 2001 Spitalsarzt war, fiel noch in eine Übergangsregelung und konnte die Apotheke seines Vorgängers übernehmen. Sie macht fast zwei Drittel seines Umsatzes von einer Million Euro aus und trägt rund ein Drittel zu seinem Vorsteuergewinn von 250.000 Euro bei. Netto bleiben ihm nach Abzug der Steuern und der Ärztekammerumlage rund 10.000 Euro pro Monat. „Hätte ich keine Apotheke, könnte ich genauso wieder als Spitalsarzt arbeiten. Die Apotheke ist mein fünftes Quartal.“ Neuretter beschäftigt drei Mitarbeiter mit jeweils bis zu 30 Stunden, darunter auch seine Frau. Er hat Zusatzausbildungen in Geriatrie und Palliativmedizin abgeschlossen, um der alternden Bevölkerung am Land auch medizinisch Herr zu werden. Mit seinen Rahmenbedingungen ist er zufrieden, „weil ich sie mir so geschaffen habe. Und in Niederösterreich ist das Honorarsystem so gestaltet, dass wir umso mehr verdienen, je mehr wir arbeiten. Aber vergrößern will ich mich nicht mehr.“ Die Möglichkeiten dazu wären da, in den nächsten Jahren werden in vielen benachbarten Landgemeinden die Gemeindeärzte in Pension gehen. Die Primärversorgungszentren hält er „für eine gute Idee, nur kommt sie um zehn Jahre zu spät.“ LUKAS ILGNER Norbert Neuretter, 47 Allgemeinmediziner in Niederösterreich Schönes Zubrot Gerichtsgutachten, Pharma-Honorare, Medizinproduktehandel, Beauty-Business – die Zusatzgeschäfte der Mediziner blühen. Attestierte Nebengeräusche später die e-Card, registriert wurde, klingelte die Kassa. Detailliert ist in Dutzenden Honorarordnungen geregelt, welcher Handgriff wie viel kostet: 18 Euro für den Erstbesuch der Ordination, vier Euro für die Blutabnahme, 13 Euro für das therapeutisch-diagnostische Gespräch etc. Die Unterschiede zwischen den Regionen und Kassen sind zum Teil enorm, das Prinzip überall gleich. Schlüsselfaktoren zur Umsatzsteigerung: mehr Patienten und Tariferhöhungen. Durchschnittliche Allgemeinmediziner kommen mit ihren Kassenpatienten so auf einen jährlichen Umsatz mit den Sozialversicherungsträgern von knapp 300.000 Euro, bei den GroßtechnikAnbietern läppern sich längst Millionenbeträge zusammen. Eine substanzielle Steigerung des Einkommens im öffentlichen System war aber in den letzten Jahren wegen der extrem zurückhaltenden Honorarpolitik der Sozialversicherungen nur durch eine Steigerung der Patientenzahl möglich – das geht zulasten der Zeit, die je Patient aufgewendet werden kann. Die Befürworter der Primärversorgungszentren (PHC) wollen dieses Modell nun kippen. „Die Logik eines Gesamtvertrags funktioniert nach der Speisekartensystematik: Man pickt sich halt die Leistungen raus, die man machen will. Wir wollen hingegen die Ärzte dazu verpflichten, Leistungen zu erbringen“, verkündet Bernhard Wurzer, Vizegeneral des Hauptverbandes der Sozialversicherungen: „Es muss zum Beispiel klar sein, was ein Kinderarzt können muss – und das muss er dann auch machen.“ Im derzeitigen System würden Patienten oft im Kreis geschickt, weil es keine Verpflichtung zu einer definierten Leistung gebe, schlägt auch Wolfgang Mückstein vom PHC-Pilotprojekt MedizinMariahilf (siehe Seite 64) in diese Kerbe: „Es gibt Kollegen, die wollen sich eine Blutabnahme um vier Euro oder Ohrenausputzen um 2,50 Euro für zehn Minuten nicht antun. Das darf nicht sein.“ Unternehmer mit K0llektivvertrag. Der Hauptverband plädiert ebenso wie Mückstein, Oberhauser und Patientenvertreter Bachinger deshalb für ein stärker pauschalenbezogenes Modell: Nur Standardpatienten sollen weiterhin einzeln abgerechnet werden, dazu soll es Grundpauschalen für gewisse Leistungen sowie Betreuungspauschalen für chronisch Kranke geben, fordert Wurzer: „Und wenn bestimmte, davor mit den einzelnen Primärversorgungseinheiten vereinbarte Qualitätsziele erreicht werden, soll es einen Bonus geben.“ Bachinger hält die alten Honorarregelungen ohnedies für hoffnungslos antiquiert: „Sie wurden vor 50, 60 Jahren entwickelt und haben nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun. International sind längst Modelle wie Pay-per-Performance und Pay-per-Quality am Vormarsch.“ > TITELGESCHICHTE Außerhalb des Kerngeschäfts ist die ärztliche Expertise auch in kleinen Dingen Geldes wert: Ein Attest, dass das Kind lausfrei ist, darf nach Empfehlungen der Kammer bis zu 18 Euro kosten, Bestätigungen für den Ausweis eines Hobbyfußballspielers 50 Euro. Für die Standard-Führerscheinuntersuchung können praktische Ärzte 35 Euro verrechnen, zugezogene Augenärzte für ein umfassendes Gutachten sogar 87 Euro. Einfache Gerichtsgutachten gibt es um 300 Euro, umfangreiche um 900 Euro. Bei Teilnahmen an Verhandlungen rät die Kammer zu einem Stundensatz von 200 Euro. Süße Pillen Unter Druck kommen dürfte in nächster Zeit eine besonders einträgliche Zusatzverdienstmöglichkeit: Zuwendungen von Pharmafirmen, etwa Honorare für Vorträge, die schnell einmal einige Tausend Euro „wert“ sein können, oder in Form von Einladungen zu Fortbildungsveranstaltungen. Ab spätestens Mitte 2016 sollen solche geldwerte Vorteile aufgrund einer Transparenzinitiative von Pharmig und Ärztekammer auf den Webseiten der Pharmahersteller offengelegt werden – offen ist derzeit noch, inwieweit die individuellen Empfänger einer Namensnennung zustimmen. Medizinprodukte: One-Stop-Shop Die Spezialisten haben es mit ihrem ärztlichen Vertrauensvorsprung auch leicht, zusätzliche medizinische Leistungen und verwandte Produkte verkaufen, die am freien Markt genau so gut erhältlich wären: der Kinderarzt, der Ohrringe sticht, der Praktiker, der Akupunktur mit anbietet, und die Anti-AgingBeratung beim Gynäkologen – der Fantasie des „kassenfreien Raums“ sind fast keine Grenzen gesetzt. Und für viele Patienten ist es ja auch nur praktisch und bequem, wenn der Augenarzt gleich auch das Pflegemittel für die Kontaktlinsen parat hat. Das Schöne ist immer und überall Hautärzte sind Spitzenreiter, was die Umsätze außerhalb ihres Kerngeschäfts betrifft. Wer auf die angepriesenen Privatleistungen ihrer Homepages schaut, weiß warum: Botoxbehandlungen, Lichttherapie, private Kosmetik. Das Geschäft mit der Schönheit beflügelt fast alle ärztlichen Fachrichtungen, auch auf chirurgischem Gebiet: HNO-Ärzte dürfen Nasen korrigieren, Gynäkologen Brüste straffen, Urologen Penisse vergrößern usw. Eine kosmetische Lidstraffung beim Augenarzt kann nach den offiziellen Richtlinien der Ärztekammer schon einmal 2000 Euro kosten. Dezember 2015 | trend 12 67 „Ich gewinne bei Mediclass auch neue Kunden, die nicht ClubMitglieder sind und denen ich normale privatärztliche Tarife verrechnen kann.“ Der Optimierer Für die Ärztekammer ist das ein No-Go. Sie sieht sich in einer seltsamen Doppelrolle als Vertreterin der „freien Unternehmer“, aber auch als Gewerkschaft in den Verhandlungen mit dem „Gewaltmonopol der Sozialversicherungen“, wie Johannes Steinhart erklärt, wortgewaltiger Chef der niedergelassenen Ärzte in der Standesvertretung. An der Kammer vorbei Zielvereinbarungen und Honorargestaltung mit einzelnen Anbietern regeln zu wollen, stellt für ihn eine Abkehr vom Gesamtvertragsprinzip dar, also einen „Großangriff auf den ärztlichen Kollektivvertrag“. Steinhart: „Das ist ein DDR-artiges Modell der Zentralisierung, in dem unter dem Stichwort Pauschale die Transparenz unter die Räder kommt.“ Hinter dem Krieg der Worte steckt natürlich in erster Linie ein Kampf um Geld und Macht. Pauschalen sind für all jene eine Bedrohung, die durch Aufsummierung von einzeln abgegoltenen Leistungen mehr verdienen könnten – ohne Rücksicht aufs System nehmen zu müssen. Deshalb hat die Kammer vorsorglich schon einmal eine altbewährte Trumpfkarte auf den Tisch gelegt, sollte das PHC-Gesetz in der beabsichtigten Form kommen: den Gesamtvertrag mit der Sozialversicherung ihrerseits zu kündigen und so die Patienten zur Einzelabrechnung zu zwingen. Steinhart meint überhaupt, „dass es kein Gesetz braucht, wenn man guten Willens ist.“ 68 trend 12 | Dezember 2015 TITELGESCHICHTE Der Oberarzt im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Wien hat bereits eine Ordination in Klosterneuburg: „Dort habe ich aber kein Personal, ich muss mich deshalb um alles selbst kümmern: Terminmanagement, Abrechnungen, Inkasso.“ Für seinen Markteintritt in Wien war das vor vier Jahren eröffnete Ärztezentrum Mediclass (siehe auch Hauptstory) in der Krieau deshalb ideal. Die Ausstattung einer urologischen Ordination würde mit Ultraschallgerät, Harnlabor, IT-Investitionen etc. gut und gern 100.000 Euro kosten. Das stellt nun alles der Zentrumsbetreiber bereit, „ich erspare mir die Miete, und die Organisation ist perfekt“, schwärmt Ponholzer. Im Gegenzug bietet er den Club-Mitgliedern seine Leistungen zum Kassentarif an. Statt 140 Euro für eine urologische Grunduntersuchung inklusive Ultraschall verrechnet er beispielsweise nur 60 Euro. „Ich gewinne aber im Mediclass auch neue Kunden, die nicht Club-Mitglieder sind und denen ich normale privatärztliche Tarife verrechnen kann“, so der Fachmann. In dem neuartigen Gesundheitszentrum zahlen Clubmitglieder 300 Euro pro Jahr, eine umfassende Vorsorgeuntersuchung ist inbegriffen. Laut Geschäftsführer Christoph Sauermann sind die laufenden Kosten von rund 1,2 Millionen Euro für Personal, Geräteleasing etc. ab 6000 Kunden gedeckt – bei einem Durchschnittserlös von 200 Euro je Kopf. Derzeit zählt das Zentrum 7000 Kunden, Investoren sind neben der Start-up-Größe Hansi Hansmann (siehe Porträt auf Seite 46) auch ExSwatch-Österreich-Geschäftsführer Rudolf Semrad. Weitere Zentren sind in Vorbereitung. LUKAS ILGNER Anton Ponholzer, 41 Urologe im Spital und als Privatarzt Zu Redaktionsschluss schien es daher unwahrscheinlich, dass ein Gesetz für die Versorgungszentren noch 2015, wie von Oberhauser angekündigt, beschlossen wird. „Wir arbeiten dran“, lässt das Ministerium dazu verlauten. Momentan sei jedoch „die Stimmung ein bisschen schlecht“, wie Hauptverbandsvize Wurzer den Zoff zwischen den Ärztevertretern und dem Rest der Player im öffentlichen Gesundheitssystem vornehm umschreibt. „Oft verdienen angestellte Spitalsärzte ja nur noch 5000 bis 6000 Euro brutto im Monat.“ Gruppenexperiment. Weil kein schnelles Ende des Hickhacks in Sichtweite ist, prescht nun ein großer Player aus dem Spitalsbereich vor und hat angekündigt, PHCs gleichsam nach eigener Fasson entwickeln zu wollen. Die private Vinzenz-Gruppe betreibt sieben Spitäler, darunter je ein Haus der Barmherzigen Schwestern in Wien, Linz und Ried im Innkreis. 2018 will Geschäftsführer Michael Heinisch seinen ersten „Gesundheitspark“ in Linz eröffnen, in unmittelbarer Nähe zum eigenen Spital. De facto werden diese Ärztezentren sowohl im Angebot als auch in der Finanzierung irgendwo zwischen Mediclass und dem öffentlichen PHCModell angesiedelt sein, auch wenn Heinisch beteuert, dass „wir in den öffentlich finanzierten Bereich wollen“. Klar ist jedoch auch, dass es den Spitalsmanagern neben der Etablierung eines neuen Angebots auch um die Verwertung von brachliegenden Flächen, eine Entlastung der oft überfüllten Ambulanzen und eine zusätzliche Beschäftigung der eigenen Oberärzte geht – und die werden großteils als Wahlärzte starten. Denn ein weiterer Grund, warum sich der Wandel in der Ärztewelt derzeit noch einmal beschleunigt, heißt Ärztearbeitszeitgesetz. Seit Anfang 2015 in Kraft, sieht es vor, dass die wöchentliche Maximalarbeitszeit der Spitalsärzte von 72 Stunden bis 2021 schrittweise auf 48 Stunden gesenkt wird. Damit entfallen für die Mediziner in den Krankenanstalten aber auch lukrative Zuschläge. MICHAEL RAUSCH - SCHOTT 0,56 (1,6%) Prävention, öffentlicher Gesundheitsdienst, betriebsärztliche Leistungen 0,77 (2,2%) Rettungsdienste 1,23 (3,5%) Verwaltung „Ein Oberarzt verdient mit Zulagen und Überstunden – um die fällt er jetzt um. Das bedeutet einen massiven Einkommensverlust“, weiß Mediclass-Manager Sauermann, der den Weißkitteln deshalb die Möglichkeit bietet, ihre Gage nebenher aufzufetten: „Oft verdienen angestellte Ärzte nur noch 5000 bis 6000 Euro brutto im Monat. Bei uns können sie mit 20 Stunden Ordination pro Woche noch einmal so viel dazuverdienen.“ Verordnetes Teamplay. Während die Koryphäen aus den Krankenhäusern in der Regel großteils in die Privatmedizin ausweichen, dünnt sich auf der anderen Seite das Angebot an Allgemeinmedizinern sukzessive aus. Mehr als die Hälfte der niedergelassenen Praktiker, trommelt die Ärztekammer seit Langem, sind über 55 Jahre alt und gehen in den nächsten zehn Jahren in den Ruhestand. Der Anteil der Allgemeinmediziner an der gesamten Ärzteschaft ist seit den 60ern von 40 Prozent auf 16 Prozent gesunken. Und der Pool der Nachfolger ist extrem begrenzt: Das Modell des > Wer nimmt’s, wer zahlt’s? Ausgaben insgesamt 34,87 Mrd. Euro 13,51 (38,7%) stationärer Bereich Christoph Sauermann, Mediclass (25,2%) 8,80 ambulanter Bereich (15,3%) 5,32 Medikamente, medizinische Güter (6,9%) 2,39 häusliche Pflege (6,6%) 2,29 Investitionen Ein Viertel der Ausgaben im österreichischen Gesundheitssystem wird von Privaten getragen, rund 15 Prozent sind sogenannte Out-of-pocket-Zahlungen der privaten Haushalte, etwa Zuzahlungen zu Medikamenten. Deutlich mehr als ein Drittel fließt nach wie vor in den Spitalsbereich. Zahlungen insgesamt 34,87 Mrd. Euro 26,21 (75,2%) Staat, Sozialversicherungsträger Quelle: Statistik Austria (letztverfügbares Jahr: 2013) TITELGESCHICHTE (24,8%) 8,66 Zahlungen und Investitionen der Privaten inkl. Krankenversicherungen Quelle: Statistik Austria (letztverfügbares Jahr: 2013) Dezember 2015 | trend 12 69 „Wir privaten Anbieter werden stiefmütterlich behandelt, weil das öffentliche System zu sehr bettenfixiert ist.“ Der Bergdoktor Praktikers mit Kassenvertrag ist für immer weniger Junge attraktiv. Früher wartete man als Wahlarzt darauf, bis man endlich eine Kassenstelle hatte – heute ist das oft umgekehrt. Das hat nicht nur mit der Honorarpolitik der Sozialversicherungen zu tun, sondern auch mit ausgeprägteren Wünschen nach WorkLife-Balance in der jüngeren Generation. Um aber zumindest die Grundversorgung in Zukunft sicherzustellen, kommen die Primärversorgungszentren ins Spiel: Zusammenschlüsse von Medizinern unter Einbindung von verwandten Berufen wie Physiotherapie, Diätologie oder diplomierte Pflege. „Ich will die Kooperation zwischen den medizinischen Berufsgruppen stärken“, hat Ministerin Oberhauser als Parole ausgegeben. Ziel ist auch, die teuren Ambulanzen merklich zu entlasten, etwa durch verbindlich längere Öffnunszeiten. Das soll auch mit Extrageld gelingen: Der höhere Aufwand wird im Pilotprojekt MedizinMarihilf von der Krankenkasse und der Stadt Wien pauschal abgegolten. In Ober- und Niederösterreich stehen ähnliche Projekte bereits in den Startlöchern; in ländlichen Regionen soll es weniger um eine räumliche Zusammenführung als um eine bessere Vernetzung des „Teams rund um den Hausarzt“ gehen. Über die Erfolgschancen des Konzepts gibt es je nach Interessenslage geteilte Meinungen. „Über die PHCs kann ich nur lachen“, 70 trend 12 | Dezember 2015 TITELGESCHICHTE Einen Hauch Action-Glamour durfte er zu Jahresbeginn atmen: Schranz’ Medalp-Gruppe übernahm die medizinische Versorgung an allen österreichischen Drehorten zum neuen James-BondFilm „Spectre“. Die zwei Schwerverletzten nach einem Stuntunfall am letzten Tag sind inzwischen zum Glück wieder wohlauf. Im Ski-Business ist der Tiroler, der in Imst auch eine Kassenordination betreibt, seit Langem eine große Nummer: Vor 15 Jahren begann der Chirurg mit zwölf Mitarbeitern, Patienten nach Skiunfällen zu operieren. Heute beschäftigt er in der Wintersaison rund 140 Mitarbeiter. In seinen Sport- bzw. Unfallkliniken in Imst, Mayrhofen und Sölden werden über 3000 OPs pro Jahr und 25.000 Erstversorgungen durchgeführt. Inklusive Ordination erwirtschaftet er rund 16 Millionen Euro Umsatz, 70 Prozent davon mit Zahlern aus dem Ausland. Doch ist er, wenn er nach einem Kreuzbandriss operiert, auch wirklich billiger als ein Chirurg in einem öffentlichen Spital? Genaue Zahlen hat er ebenso wenig wie die Konkurrenz, „aber bei uns übernachtet der Patient nach einer solchen OP höchstens einmal, im öffentlichen Sektor ist er im Durchschnitt 3,3 Tage stationär“, sagt Schranz. Private Player wie seine Medalp-Gruppe seien längst unverzichtbar: „Stellen Sie sich vor, die zwei Bezirkskrankenhäuser in unserer Region müssten unsere Kapazität schlucken - das ginge nicht. Doch leider werden wir stiefmütterlich behandelt, weil das öffentliche System zu sehr bettenfixiert ist.“ Nur rund ein Zehntel des Umsatzes – das Taggeld – kommt aus dem öffentlichen Topf. Sein Befund auf Tirolerisch ist eindeutig: „Im extramuralen Bereich ist Österreich elendiglich schlecht aufgestellt.“ LUKAS ILGNER Luis Schranz, 56 Gründer der Tiroler Medalp-Gruppe „Kein Vergleich zu einer Notfallaufnahme in Österreich.“ Emanuel Luttersdorfer (rechts), derzeit in Beijing, hat Gefallen an seinem Einsatz für International SOS gefunden: „Ich bin schon wieder neugierig darauf, ein neues Land kennenzulernen.“ sagt etwa Mediclass-Mann Sauermann, der Ärzte nicht eben als geborene Teamplayer kennengelernt hat und sein Zentrum deshalb als „Vernetzung von Einzelkämpfern“ bezeichnet. Diese Einschätzung teilt auch der niederösterreichische Landarzt Norbert Neuretter, der mit seiner Praxis inklusive Hausapotheke rund eine Million Euro umsetzt (siehe Porträt auf Seite 66). Konflikte seien in Zusammenschlüssen vorprogrammiert und würden die Handlungsfähigkeit lähmen, glaubt er: „Dort weiß ich nie, wer der Chef ist. Wer kündigt die Ordinationshilfe, wenn sie nicht den Erwartungen entspricht? Das Modell zieht eher Mediziner an, die nicht die volle Verantwortung übernehmen wollen – und das wird dann wohl nicht die Crème de la Crème unseres Berufsstands sein.“ Dem gegenüber steht die feste Überzeugung, dass die PHCs eine goldrichtige Antwort auf veränderte Bedürfnisse in der Ärzteschaft sind: „Die jüngeren Ärzte wollen keine Einzelkämpfer mehr sein, das Konzept der Einzelordination ist nicht mehr zukunftsfähig“, glaubt Patientenanwalt Bachinger. Synergien als Trostpflaster. Dass die neuen Ärztezentren auch helfen werden, die Kosten im Gesundheitssystem zu senken oder zumindest den Kostenanstieg zu bremsen, ist höchst umstritten. Es gibt schlicht keine Studien oder seriöse Vergleichsrechnungen darüber, ob eine Verlagerung möglichst vieler Leistungen vom Spitals- in den niedergelassenen Bereich billiger ist. Auf betriebswirtschaftlicher Ebene sind Gemeinschaftsformen wie die bisherigen Gruppenpraxen jedenfalls nicht automatisch mit Kostenersparnis verbunden. Das weiß niemand besser als Iris Kraft-Kinz, Inhaberin der auf Medizinberufe spezialisierten Wiener Steuerberatungskanzlei Medplan, die mehrere Hundert Ordinationsbilanzen pro Jahr durchforstet. „Meist übersiedeln die Partner in neue Räumlichkeiten, das wird dann entsprechend teurer“, beobachtet Kraft-Kinz. Die höheren Personal- und Kommunikationskosten – etwa für regelmäßige Teambesprechungen – würden selten durch höhere Umsätze wettgemacht, „es sei denn, es sind extrem gut eingespielte Teams.“ In Summe ist Kraft-Kinz nach eingehender Beschäftigung mit der Materie zum Schluss gekommen, „dass es in Gruppenpraxen kaum synergiebedingte Kosteneinsparungen gibt.“ Am Verständnis mangelt es nicht. Die Zahlenexpertin attestiert ihrer Klientel ein gewachsenes Bewusstsein für betriebswirtschaftliche Vorgänge: Immer mehr Ärzte der nachrückenden Generationen agieren längst mindestens so sehr nach Rentabilitäts- wie nach hippokratischen Kriterien. Benchmarking ist gang und gäbe. Es gibt kaum eine Praxis, deren Bruttogewinn unter 30 Prozent des Umsatzes liegt, erzählt Kraft-Kinz: „Meine besten Klienten > Flying Doctors Im Zeitalter der Globalisierung gibt es lukrative Alternativen zu einer Karriere als niedergelassener Mediziner oder Spitalsarzt. Als Schiffsarzt in Norwegen, auf Kurzzeiteinsatz in Myanmar, medizinische Betreuung für Ölarbeiter auf Bohrplattformen oder in der afrikanischen Wüste – weil Mitarbeiter von internationalen Konzernen auch medizinisch bestmöglich umsorgt werden wollen, gibt es ein immer reichhaltigeres globales Betätigungsfeld für ausgebildete Ärzte. Eine darauf spezialisierte Firma ist International SOS mit Sitz in London, die vor allem für die Multis der Welt arbeitet. Sie vermittelt nicht nur, sondern betreibt auch selbst Kliniken in den Emerging Markets. Der Österreicher Emanuel Luttersdorfer ist derzeit in einem dieser Spitäler in Beijing in Einsatz. Der 39-Jährige hat in Graz Medizin studiert, seine Patienten in der chinesischen Hauptstadt sind überwiegend Expats der deutschen Autokonzerne. „Ich habe 20 Minuten pro Patienten Zeit, angenehme Arbeitszeiten und ein angenehmes Umfeld“, schwärmt er: „Kein Vergleich zu einer internen Notfallaufnahme in Österreich.“ Er verdient mehr als bei einer vergleichbaren Karriere in Österreich und hat nicht so schnell vor, seinen internationalen Trip abzubrechen: „Ich bin schon neugierig darauf, ein neues Land kennenzulernen.“ Ärzte, die projektorientiert im Einsatz sind, sind vor allem auch im angelsächsischen Gesundheitssystem gefragt. Ein Raunen ging diesen Sommer durch britische Medien, als bekannt wurde, dass diese – oft eingeflogenen – LocumÄrzte durchschnittlich 240.000 Pfund pro Jahr, rund 336.000 Euro, verdienen – ein Geschäftsmodell, das immer mehr Mediziner auf der Insel dazu veranlasst hat, sich aus dem regulären System auszuklinken und auf reiner Honorarbasis zu arbeiten. Innerhalb von Österreich ist das ärztliche Jobhopping noch in den Kinderschuhen. Peter Grill, Betreiber der nach eigenen Angaben größten heimischen Vermittlungsagentur für medizinische Fachkräfte, GRP Consult, beobachtet, dass durch die Beschränkung der Arbeitszeiten von Spitalsärzten „immer mehr Ärzte danach suchen, ihre freie Zeit zu optimieren“. Grill vermittelt Spezialisten, die zwischen Österreich, Deutschland, fallweise auch England „von einer Lücke zur nächsten springen“. TITELGESCHICHTE Dezember 2015 | trend 12 71 Gerald Bachinger, Patientenanwalt: „In Österreich werden die Zusatzgeschäfte der Ärzte unter den Teppich gekehrt.“ Michael Heinisch, Vinzenz-Gruppe: „Mit unseren Gesundheitsparks wollen wir in jedem Fall in den öffentlich finanzierten Bereich.“ kommen auf 56 Prozent.“ Eine gut gehende Ordination erzielt nach Abzug der Personal- und Equipmentkosten schon einmal eine viertel Million Euro Vorsteuerergebnis, nach Steuern und Kammerumlage bleiben dann deutlich über 10.000 Euro netto im Monat. „Die meisten haben ihre Kosten im Griff – viele setzen ihren Ehrgeiz daran, die Einnahmen zu erhöhen“, sagt Kraft-Kinz. LUKAS ILGNER, FOLTIN JINDRICH / WIRTSCHAFTSBLATT / PICTUREDESK.COM, RENÉ PROHASKA, FOTO WEINWURM Medizin & Co. Auch Ralph Elser von der Praxisberatung Elser in Sankt Wolfgang am Wolfgangsee, der seit zwanzig Jahren Verkaufstrainings für Ordinationen anbietet, registriert einen bemerkenswerten Sinneswandel: „Vor einigen Jahren war es unter Medizinern noch verpönt, das Wort ‚Verkauf ‘ in den Mund zu nehmen. Heute ist es selbstverständlich.“ Weil die Möglichkeiten limitiert sind, mit Kassenpatienten die Umsätze zu steigern, weichen immer mehr Ärzte auf Zusatzgeschäfte aus. Sie betragen laut einer Auswertung des Fachdatenanbieters Atlas Medicus bei österreichischen Allgemeinmedizinern derzeit durchschnittlich 14 Prozent der Gesamteinkünfte – bei Augenärzten ist es über ein Drittel, bei den Dermatologen schon fast die Hälfte (siehe auch die Überblickstabelle auf Seite 63). Unter diese additiven Ertragsbringer fallen sowohl das coole 4D-Ultraschallbild um 100 Euro, das der Gynäkologe den werdenden Eltern mitverkauft, als auch Nahrungsergänzungsmittel oder orthopädische Behelfe. Die Zahnärzte hüpfen seit Langem vor, wie das Prinzip funktioniert: Die Krankenkasse zahlt die Füllung mit Amalgam um rund 20 Euro. Für Kunststoff, Gold oder gar Keramik müssen die Patienten tief in die Tasche greifen – vom Doppelten bis zum Zwanzigfachen. Brücken, Kronen oder Implantate sind gleichfalls vollständig Privatsache. Besonders beliebt ist auch das Verkaufen der von den Kassen nicht bezahlten Mundhygiene – empfohlener Preis: 78 Euro. Logisch, dass der Anteil der Nichtkassenumsätze bei den 3875 Dentisten Österreichs längst über einem Drittel liegt. Insgesamt verschlingt der zahnmedizinische Bereich rund 1,5 Milliarden Euro, fast fünf Prozent der Gesamtkosten des Gesundheitssystems. Die Erkenntnis daraus: Wenn der Schmerz groß genug ist, ist die Zahlungsbereitschaft durchaus vorhanden. Das „Prinzip Zahnarzt“ ist in den letzten Jahren deshalb von immer mehr Medizi- Iris Kraft-Kinz, Medplan: „In ärztlichen Gruppenpraxen gibt es kaum synergiebedingte Kosteneinsparungen.“ nern anderer Bereiche übernommen worden – für medizinisch mehr oder weniger notwendige Leistungen. Rund ein Drittel ihrer Kunden, sagt Steuerexpertin Kraft-Kinz, haben inzwischen einen Gewerbeschein für Handel. Tendenz: steigend. Klasse versus Kasse. Dass es keine verlässlichen Aufzeichnungen und keine Transparenz über diese Zusatzgeschäfte gibt, ärgert Patientenanwalt Bachinger: „In Österreich wird das alles unter den Teppich gekehrt“ – im Gegensatz zu Deutschland, wo unter dem Stichwort „IGeL“ (individuelle Gesundheitsleistungen) längst breit diskutiert wird, was für Ärzte noch statthaft ist – und was nicht mehr. Die Zweiklassenmedizin ist auf diese Weise jedenfalls in vielen Bereichen bereits Realität geworden. Die österreichischen Radiologen etwa bekommen pro Jahr eine mit den Krankenkassen vereinbarte limitierte Gesamtsumme. Durch zunehmende Auslagerung von Untersuchungen mittels Computer- und Magnetresonanztomografie aus den Krankenhäusern ist so enormer Druck entstanden; oft warten Patienten Monate auf einen Termin. „Und die Radiologen und Institute nehmen dann lieber die > TITELGESCHICHTE Dezember 2015 | trend 12 73 „Natürlich sind wir ein Wirtschaftsbetrieb, aber wir verkaufen keine Wurstsemmeln, sondern medizinische Befunde.“ Der Großlaborarzt Privatpatienten“, kritisierte Franz Bittner, langjähriger Obmann der Wiener Gebietskrankenkasse und nunmehr Patientenombudsmann der Ärztekammer, schon zu Jahresbeginn. Sprich: Wer ein paar Hundert Euro draufzahlen kann, kommt schneller zu seiner Leistung. Ärztekammer-Mann Steinhart hört die Kunde wohl – hält sich aber nicht für zuständig. Der wachsenden Bevölkerung und dem steigenden Termindruck könne man nur mit mehr Ordinationsbewilligungen begegnen. Allein in Wien brauche es 300 neue niedergelassene Kassenpraxen, meint er achselzuckend – das werde ihm aber verwehrt. Wenn aber überall der Deckel drauf ist, dürfe man sich über Engpässe nicht wundern: „Man kann nicht jemanden knebeln und sich dann darüber aufregen, dass er nicht spricht.“ Deshalb ist der Kämmerer auch froh, dass es Konzepte wie Mediclass gibt, die sowohl für Ärzte als auch für Patienten eine Alternative bieten: „Für eine Klientel, die das Wahlarztsystem schätzen und es sich auch leisten kann.“ Ist es am Ende gar das unausgesprochene Kalkül der öffentlichen Geldgeber, die Leistungen im Kassensystem auszudünnen und so immer mehr Ärzte und Patienten in die Privatmedizin zu lotsen? Steinhart zögert einen Moment, ehe er sagt: „Man könnte glatt den Eindruck haben, dass es genau so ist.“ ● 74 trend 12 | Dezember 2015 TITELGESCHICHTE Wenn er durch seine Analysestraßen geht, in denen Tausende Blut-, Harn- und Gewebeproben weitgehend automatisiert ausgewertet werden, wirkt er ein wenig wie der Captain in der Kommandozentrale eines Raumschiffs. Anhand des Großlabors in Wien-Floridsdorf, eines Zusammenschlusses von neun Fachkollegen, lässt sich die Rationalisierung im Gesundheitswesen studieren: Als Mühl 1992 in seiner Ordination im 2. Wiener Gemeindebezirk begann, hatte er rund 100 Patienten am Tag. Heute sind es bis zu 8000. Und die vor Kurzem eröffnete 11.000-Quadratmeter-Zentrale von labors.at, eine 26-Millionen-Euro-Investition, hat Kapazität für 30.000. 380 Mitarbeiter, darunter 50 Fahrer, beschäftigt die größte Gruppenpraxis Österreichs bereits, der Umsatz beträgt deutlich über 30 Millionen Euro. „Natürlich sind wir ein Wirtschaftsbetrieb“, sagt Mühl, „aber wir verkaufen keine Wurstsemmeln, sondern medizinische Befunde.“ Ein wichtiger Treiber für die Kooperation war, dass die Krankenkassen ihre Honorare für Blut- und andere Befunde im vergangenen Jahrzehnt deutlich reduziert haben. Hauptkunden sind rund 5000 niedergelassene Ärzte in Wien, Niederösterreich und im Burgenland, von 1400 werden die Proben direkt abgeholt. Rund ein Zehntel sind aber auch schon Private, die via Gentest feststellen wollen, ob sie etwa ein erhöhtes Herzinfarktrisiko haben. Kostenpunkt: 300 bis 400 Euro je nach Untersuchung. In Österreich ist labors.at nun mit Abstand der größte Player, international noch ein Zwerg: Soeben wurde die mit rund 740 Millionen Euro mehr als zwanzigmal so große deutsche Synlab, die bereits vor drei Jahren die österreichische Futurelab übernommen hat, von einem Finanzinvestor übernommen – um 1,8 Milliarden Euro. LUKAS ILGNER Michael Mühl, 59 Partner von labors.at
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