Münchner Merkur } Sport DIENSTAG, 26. JANUAR 2016 ZUM TAGE ................................................................................... Handballer vor dem Hauptrunden-Finale Rückenwind aus Breslau Zugegeben, schlimmer hätte es für Deutschlands Handballer vor diesem Hauptrundenfinale gegen Dänemark kaum kommen können. Der Kapitän ist raus, der beste Torschütze gleich mit ihm – das sind keine besonders guten Argumente, um die Hoffnung auf eine Überraschung gegen das derzeit vielleicht beste Team Europas am Leben zu erhalten. Doch die deutschen Spieler selbst haben den Schock über die Hiobsbotschaften aus dem aufreibenden Duell mit Ex-Weltmeister Russland bemerkenswert schnell abgeschüttelt. Und die junge DHB-Auswahl hat ja auch allen Grund, dem morgigen Showdown zuversichtlich entgegenzusehen. Denn wenn das Ensemble von Trainer Dagur Sigurdsson dieser Tage etwas bewiesen hat, dann, dass sie mit Rückschlägen umgehen kann. Schon im Vorfeld des Turniers hatten Größen wie Ex-Welthandballer Uwe Gensheimer passen müssen. Doch all das hat die Mannschaft nur noch enger zusammenrücken lassen. Nicht zuletzt der Krimi gegen Russland war ein Spiegel des großes Geistes, der sich in diesem Ensemble entwickelt hat. Das Gefühl drängt sich auf: Wenn ein Team derartige Handicaps wegstecken kann, dann das deutsche. Doch ganz egal, wie die Sache ausgeht, ob Torhüter-Senkrechtstarter Andreas Wolf und Kollegen letztlich um die Medaillen oder doch „nur“ um Platz fünf kämpfen – schon jetzt hat diese Mannschaft dem deutschen Handball immensen Rückenwind beschert. Zu einem Zeitpunkt, zu dem er so nötig war wie selten zuvor. An dem in der Heimat die Bundesliga, nach eigener Anschauung die beste nationale Liga der Welt, mit der Insolvenz und dem sofortigen Aus von Ex-Champions-League-Sieger HSV Hamburg gerade eines ihrer finstersten Kapitel zu bewältigen hat. Man stelle sich einmal vor, die Meldungen über das Aus der Hanseaten wäre zusammengetroffen mit einem weiteren tristen Turnier, wie sie so erschreckend häufig waren seit dem noch gar nicht so fernen WM-Titelgewinn 2007. Die Sportart hätte in dem Land, in dem ihre Wiege steht, wohl für Jahre empfindlichen Schaden genommen. Nun sieht es anders aus. Die beherzten Auftritte in Polen haben deutlich gemacht, dass der deutsche Handball Zukunft hat. Vor diesem Hintergrund ist auch die Hiobsbotschaft von gestern vergleichsweise leicht zu verkraften. Patrick Reichelt Sie erreichen den Autor unter [email protected] IM BLICKPUNKT ..................................................................... Koch hofft: Doch kein Millionenschaden? Interimspräsident Rainer Koch sieht die Chance, dass der DFB doch von dem befürchteten Millionenverlust als Folge der Affäre um die Vergabe der WM 2006 verschont bleibt. „Unsere Anwälte machen uns Hoffnung, dass dieser Fall nicht eintreten wird“, sagte der 57-Jährige dem „Mannheimer Morgen“ mit Blick auf eine zeitlich begrenzte Aberkennung der Gemeinnützigkeit, die den Verband in zweistelliger Millionenhöhe belasten könnte. Koch betonte zudem, dass der DFB trotz des Skandals um die Zahlung von 6,7 Millionen Euro und dem möglichen Bestechungsversuch des korrupten FIFAFunktionärs Jack Warner die EM-Endrunde 2024 ausrichten möchte. „Wir wollen uns für die EM 2024 bewerben. Daran hat sich nichts geändert.“ Traore: Einbruch während des Spiels Einbrecher haben das Haus von Ibrahima Traore heimgesucht, während der Offensivspieler von Borussia Mönchengladbach am Samstagabend zum Rückrunden-Auftakt in der Fußball-Bundesliga gegen Borussia Dortmund (1:3) auf dem Platz stand. Das berichten die „Bild“-Zeitung und der „Kölner Express“. Ob Wertgegenstände aus dem Haus des 27-Jährigen am Bökelberg entwendet wurden, ist bislang nicht bekannt. Laut „Express“ teilte die Mönchengladbacher Polizei mit, dass zwischen Freitag und Sonntagmorgen im Stadtgebiet in zwölf Wohnungen eingebrochen wurde. Traore soll entsetzt gewesen sein, als er die Verwüstungen im Haus sah. Vertrag aufgetaucht: Özil noch teurer Mesut Özil ist nun auch auf dem Papier der bislang teuerste deutsche Fußballer. Die Internetplattform „Football Leaks“ veröffentlichte den Transfervertrag zwischen Real Madrid und Arsenal vom 1. September 2013. Demnach zahlten die Londoner 44 Millionen Euro in drei Raten für Özil. Zudem muss Arsenal bei jedem Erreichen der Gruppenphase der Champions League je eine Million Euro an Real zahlen, dies war 2014 und 2015 der Fall. www.merkur.de Telefon: (089) 53 06-483 Telefax: (089) 53 06-86 58 SEITE 27 [email protected] „Guardiola muss sich hinterfragen“ Sportarzt Klingelhöffer über Bayerns fehlende Balance, falsches Training und sture Alphatiere München– Verletzungen gehören zum Profisport, sie können passieren. Aber es gibt eine Regel, bei der die medizinische Branche aufzuhorchen beginnt. Wenn sich die gleiche Art einer Blessur häuft, ist etwas faul im Staate. In unserem Interview erläutert Dr. Werner Klingelhöffer die vielen Muskelverletzungen beim FC Bayern. Der Orthopäde aus Bad Tölz gilt als deutsche Kapazität für Sportkinesiologie, einem alternativmedizinischen Verfahren, das gesundheitliche Störungen als Schwäche von Muskelgruppen interpretiert. - Herr Dr. Klingelhöffer, 14 Muskelverletzungen bei den Bayern seit August – ist das nun Zufall, Pech? Was sagt ein Experte dazu? Ich will ja keinem Chefcoach oder Athletik-Trainer prinzipiell ins Wort reden. Aber das geht einem schon im Bauch rum, was bei so einem Weltverein wie dem FC Bayern im Bereich der Muskelverletzungen nun bereits seit einiger Zeit passiert. Das hat mit Pech und Zufall nichts mehr zu tun, sondern das ist ein hausgemachtes Problem. Da muss sich auch ein Trainer wie Pep Guardiola hinterfragen: Was läuft bei meinem Training falsch? - Ferndiagnosen sind immer heikel. Aber was läuft aus Ihrer Sicht falsch? Ich spreche mal aus sportkinesiologischem Ansatz: Wir müssen die Muskeln so behandeln, dass wir den energetischen Umlauf im Körper gleichmäßig balanciert halten. Das erreiche ich im Vorfeld einer Einheit oder eines Spiels etwa durch spezielles dynamisches Stretchen und im Nachhinein mit sportkinesiologischen Massagen . . . - Aber Dehnen und Massagen, das machen sie beim FC Bayern doch auch. Aber viele machen es eben nicht ganz richtig. Wenn Sie heute einem Fußballer beim Dehnen zuschauen, zieht er zum Beispiel seine Ferse zum Gesäß hoch. Falsch. Das ist ein zweigelenkiger Muskel, da muss auch die Hüfte gedehnt werden. Die Ferse hat am Hintern nichts verloren. Das muss man den Spielern aber auch sagen und zeigen. Im Profibereich – auch hier in meinem Umfeld beim EC Bad Tölz im Eishockey übrigens – schaut da keiner mehr drauf. Die Spieler denken: Dehnen, das kann ich schon, das mache ich seit Jahren so. Aber wenn Sie das richtig machen, erhöhen Sie auch den ergetischen Fluss und verhindern Verletzungen. Das ersetzt nicht die Physiotherapie. Aber es unterstützt den Körper. Übungen dauern da bloß zwei bis drei Minuten. - Jürgen Klinsmann hat die Kinesiologie einst beim DFB angestoßen. Doch so richtig angekommen ist diese Trainingslehre nie. Klinsmann war ein Vorreiter, das stimmt. Aber er hat, glaube ich, nicht so ganz gewusst, was er da macht. Auch Joachim Löw integriert Aspekte in sein Training, bei Bayern lassen sie sich ebenfalls finden. Aber sie trainieren alle nur nach dem Prinzip: „Hüpf’ über die Stange, dann sag’ mir was 10 mal 10 ist!“ Das ist Kinesiologie, die im mentalen Bereich stattfindet. Sprechen wir aber über Sportkinesiologie, muss sie auch im körperlichen Bereich wurzeln. Rechter Oberschenkel: Medhi Benatia, Sebastian Rode, Kingsley Coman, Douglas Costa Linker Oberschenkel: Medhi Benatia, Franck Ribery, Philipp Lahm Rechtes Bein: Medhi Benatia - Wade: Arjen Robben Adduktoren: Arjen Robben, Juan Bernat (2 Mal), Mario Götze, Jerome Boateng Grafik:MM/ A.Krasniqi Das Münchner Lazarett seit August 2015 Medhi Benatia: 22. August Zerrung im Oberschenkel 1 Spiel Arjen Robben: 3. September Adduktoren 9 Spiele Medhi Benatia: 10. September Muskelfaserriss 10 Spiele Sebastian Rode: 28. September Sehne im Oberschenkel 9 Spiele Juan Bernat: 1. Oktober Adduktoren 1 Spiel Mario Götze: 8. Oktober Adduktoren bisher 16 Spiele Kingsley Coman: 10. Oktober: Muskuläre Probleme 1 Spiel Juan Bernat: 25. Oktober Muskelbündelriss bisher 13 Spiele Dr. Werner Klingelhöffer Douglas Costa: 24. November Muskelfaserriss 6 Spiele sagt, die meisten Münchner Arjen Robben: 24. November Zerrung in der Wade 6 Spiele Patienten seien „hausgeMedhi Benatia: 9. Dezember Muskelbündelriss bisher 4 Spiele macht“ – bei einem WeltverFranck Ribery: 9. Dezember Muskelbündelriss bisher 4 Spiele ein wie dem FC Bayern dürfte Philipp Lahm: 15. Dezember Zerrung im Oberschenkel 1 Spiel so etwas nicht passieren Jerome Boateng: 22. Januar Muskelbündelriss Adduktoren - Unter Medizinern gibt es den Witz: Der Internist weiß alles, der Chirurg kann alles, der Pathologe hat beides, aber zu spät – ist Pep Guardiola der Pathologie zuzuordnen? Um ehrlich zu sein: Ja. Er scheint tatsächlich nichts anzunehmen, nach dem Motto: Er weiß alles und kann alles. Für mich ist das ein knallharter Typ, für den Anstöße eine Majestätsbeleidigung sind. Ich will nicht das „Gscheithaferl“ spielen – aber bei einem Verein wie dem FC Bayern kann so eine Häufung an im- Wenn ich höre, dass sich ein Boateng einen Muskelbündelriss in den Adduktoren zugezogen hat, gehen bei mir Antennen hoch. Da hat er auf jeden Fall nicht Pech gehabt. Bei einem Profisportler, der super austrainiert ist, muss da schlicht etwas falsch gelaufen sein. Schambeinentzündungen sind ein weiteres Beispiel – die müssen bei Fußballern echt nicht sein, das sind häufig hausgemachte Probleme. Und wenn ein Holger Badstuber mehrfach operiert wird und danach auf der Gegenseite sich den Muskel reißt, tut mir Leid, da stimmt etwas nicht in der Balancierung. Wenn Sie mit dem Sprunggelenk umknicken, humpeln Sie auch. Das wirkt sich auf den ganzen Körper aus. merzu den gleichen Verletzungen einfach nicht sein. Da darf man eben auch mal einen Pep Guardiola zu sich zitieren, um ihn zu fragen: Was machst du da eigentlich? Jede Firma holt sich in Spezialfragen zum Beispiel externe Berater. Es scheitert leider oft an der Arroganz und Ignoranz der Trainer. Das sind Alphatiere, die lassen sich nichts sagen. Sogar ein Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt ist ja an Pep Guardiola gescheitert. Er hatte keine Lust mehr, das kann wohl jeder nachvollziehen, wenn da einer ist, der dir ständig Vorschriften macht. Dabei hat doch jeder seine Kompetenzen. Sehen Sie: Ich kann keinem das Fußballspielen beibringen. Oder Eishockey. Ich kann selbst nicht mal Schlittschuhlaufen. Aber ich kann die Sportler so trainieren, dass sie gesünder das umsetzen, was sie können. - Jerome Boateng musste in der Vorrunde ab und an mit Knieproblemen passen – ist es möglich, dass sich bei ihm in Hamburg an den Adduktoren daraus eine Folgeverletzung ergab? Lahm in Sorge: Alle Bayern-Innenverteidiger mit Manko Beim 2:1-Sieg des FC Bayern in Hamburg gab Holger Badstuber sein letztes Hemd – im übertragenen Sinn wie in real. Zunächst hatte der Innenverteidiger eine solide Partie absolviert, im Kabinengang war seine letzte Aktion dann, sein Trikot zu verschenken. „Er war zwei Jahre fast raus und hat gut gespielt“, lobte Philipp Lahm den Kollegen, meinte aber auch: „Man weiß nicht, ob er alle drei Tage auf dem Platz stehen kann.“ Die Situation hat sich seit Freitagnacht verschärft. Inzwischen steht fest, dass Jerome Boateng einige Monate ausfällt, und so führte Kapitän Lahm gestern auf der Sportartikelmesse ISPO seine Skepsis weiter aus. Das Problem: Alle verbliebenen Innenverteidiger der Münchner hätten ein Manko, erläuterte Lahm. Badstuber fehlte beispiellos lange wegen diverserer Verletzungen, doch auch Javier Martinez trägt ungewöhnlich lange an einem Kreuzbandriss, und Mehdi Benatia stand bisher noch nie länger verlässlich zur Verfügung. Boatengs Ausfall sei „sehr, sehr bitter“, sagte der Kapitän, „weil es sich nicht um Tage handelt oder ein, zwei Spiele, sondern um einen längeren Zeitraum – das tut uns sehr, sehr weh“. Ob der FC Bayern nun noch einmal auf dem Transfermarkt aktiv werden müsste, vermochte er nicht zu sagen („nicht meine Baustelle“). Aber Kandidaten, die für die Champions League spielberechtigt wären und das Niveau hätten, sind sowieso Hirngespinste. Über die dürftige Leistung der Münchner in Hamburg meinte Lahm: „Nach einer Winterpause wieder in Tritt zu kommen, dauert immer etwas. Trotzdem ist klar: Wir müssen uns steigern.“ awe Sie sind als Schulmediziner eine Rarität in der Sportkinesiologie. Ja, und mit Esoterik hat das alles nichts zu tun. Wir haben keine Klangschalen, sondern der Schweiß fließt. Wir nehmen den Geist mit, aber das Wesentliche geht über den Körper. Sportler definieren sich über ihren Körper. Die Profivereine lassen sich noch immer zu schmale Zeitfenster für Innovationen. Dortmund hat sich für Kinesiologie mal einen halben Dienstagvormittag freigehalten. Dabei sind wir inzwischen so weit, die Lehre auch direkt ins Training einbringen zu können. Wir haben das bei der SpVgg Unterhaching eine Weile gemacht, nur scheiterte es dann am vormaligen Trainer, der sagte, in der Kabine haben wir nichts verloren. Da müssen wir aber für die Regeneration ran, so war es sinnlos. - Haben Sie andere Beispiele aus der Praxis? Bei TuS Geretsried stiegen die Jugendlichen in die Landesliga auf, als wir unter anderem das dynamische Stretchen vor dem Spiel eingeführt hatten. Das sieht fast wie Ballett aus, die Burschen waren mit Spaß bei der Sache und gewannen ein Spiel nach dem anderen. Der Trainer hat zusätzlich sportkinesiologische Grundsätze in sein Training übernommen. Es gibt sogar ein Beispiel von einer Migrationsmannschaft in Bad Tölz. Sehr problematisch von der Psyche her. Sie stiegen mit unserem Training von der A-Klasse auf, mit 111 Toren, ohne ein Spiel zu verlieren – und plötzlich haben sich die unterschiedlichsten Nationalitäten auch verstanden. - Im Profifußball heißt es, der FC Barcelona sei unter anderem für die Sportkinesiologie offen. Ja, denen sieht man an, dass sie mit der Methode spielen: Wer im Voraus denkt, weil er zuvor nachdenkt, wird Meister. Wenn man das beim OneTouch-Fußball komplett beherrscht, wird es dem Gegner ganz einfach zu schnell. Barcelona macht nur manchmal den Fehler, dass sie denken, sie müssten den Ball ins Tor tragen. Wenn Sie gute Tore anschauen, im Fußball wie im Eishockey, merken Sie: Da ging es immer schnell. Weil der Torwart den Ball oder Puck gar nicht mehr sieht. Dafür muss ich aber mental wie körperlich in der Balance sein. Das funktioniert beim B-Klassisten, bei Kinderteams, bei einer Nationalelf. Wenn du das umsetzt, bist du auf der Gewinnerseite. Interview: Andreas Werner
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