Kapitel 5

INSTITUTIONENGESCHICHTE
(RÖMISCHES P RIVATRECHT)
SOMMERSEMESTER 2015
PROF. DR . JOHANNES PLATSC HEK
V.
1. Altersvormundschaft – tutela impuberum
Kaser, RPR § 62
Gewaltfreie Kinder stehen bis zum Erreichen der Mündigkeit (pubertas; Jungen: 14 J., Mädchen: 12 J.)
unter Vormundschaft (als Mündel – pupilli).
a) Eintritt der Mündigkeit – pubertas
* Gai. 1,196
„Wenn männliche Personen pubes zu sein beginnen, werden sie von der Vormundschaft befreit.
Für pubes aber halten Sabinus, Cassius und unsere übrigen Lehrer denjenigen, der durch das
Äußere des Körpers die pubertas anzeigt, das heißt, der zeugungsfähig ist. Aber bei denjenigen,
die nicht zeugungsfähig werden können, wie etwa Kastrierte, müsse man auf das Alter abstellen,
zu dem sie (für gewöhnlich) zeugungsfähig werden. Aber die Gewährsleute der anderen Schule
meinen, man müsse die pubertas nach Jahren bestimmen, das heißt sie halten denjenigen für
pubes, der 14 Jahre vollendet hat (=später allg. Ans.).“
** Epit. Ulp. 11,28
„Männliche Personen werden mit Eintritt der pubertas von der Vormundschaft befreit. Für pubes
aber erklären die Cassianer denjenigen, der aufgrund des Äußeren des Körpers als pubes
erscheint, das heißt, der zeugungsfähig ist, die Proculeianer aber denjenigen, der vierzehn Jahre
vollendet hat. Aber Priscus (sagt), dass derjenige pubes sei (verum Priscus eum puberem esse),
in dem beides zusammentreffe, sowohl das (entsprechende) Äußere des Körpers als auch die
Zahl der Jahre.“
L. Neratius Priscus (Proculianer)? L. Iavolenus Priscus (Sabinianer)?
*** Theoph. 1,22 pr.
„Die Volljährigkeit beurteilten die Alten nicht nur nach den Jahren ..., sondern auch aufgrund der
Beschaffenheit des Körpers ... Man wurde nur dann für volljährig gehalten, wenn beides
zusammenkam.“
b) Gesetzlicher Vormund – tutor legitimus: agnatus proximus und manumissor
Pater familias nach emancipatio tutor?
Kaser, RPR § 62.7: „Demgemäß wird auch der paterfamilias, der seinen unmündigen Abkömmling
emanzipiert (und dabei freigelassen) hat, sein Tutor als parens manumissor (tutor fiduciarius, G. 1,166-167,
Inst. 1,18).“
I. 1,18
Gai. 1,132a/166/175
„132a Aber wenn der Sohn zum dritten Mal vom
natürlichen an den fiduziarischen Vater manzipiert
worden ist, muss der natürliche Vater darauf achten,
dass er ihm vom fiduziarischen zurückmanzipiert
wird und vom natürlichen freigelassen wird, damit
dem Sohn, wenn er stirbt, der natürliche Vater in
der Erbschaft nachfolgt, nicht der fiduziarische. (...)
„Gesetzliche Vormundschaft der Väter.
166
Nach dem Beispiel der Freilasser (von Sklaven)
Nach dem Beispiel der Freilasser (von Sklaven)
wurde auch eine andere Vormundschaft anerkannt,
wurden auch andere Vormundschaften anerkannt,
die auch selbst ‚gesetzliche‘ heißt.
die ‚fiduziarische‘ heißen,
Denn wenn einer Sohn oder Tochter, Enkel oder
das heißt diejenigen, die uns deshalb zustehen, weil
Enkelin des Sohnesstammes emanzipiert hat,
wir eine freie Person, die uns entweder vom Vater
solange sie unmündig sind, wird er deren
oder einem coemptionator manzipiert wurde, freigesetzlicher Vormund sein.“
gelassen haben. (...)
175 Wie den Patron behandeln wir den Vater, der
dann, wenn er selbst die ihm remanzipierte Tochter
oder Enkel oder Urenkel freigelassen hat, eine
gesetzliche Vormundschaft erlangt hat.“
LUDWIG-MAXIMILIANS-UNI VERSITÄT MÜNCHEN
SEITE 2 VON 3
b) Testamentarischer Vormund – tutor testamentarius/dativus
„Mein Sohn soll Erbe sein.
Titius soll sein Vormund sein.“
so gen. Pupillarsubstitution:
„Wenn mein Sohn vor Erreichen der Mündigkeit stirbt, soll Titius Erbe sein.“
c) Magistratischer Vormund – tutor Atilianus (nach lex Atilia, 210 v. Chr.?)
2. cautio rem pupilli salvam fore; actio tutelae
* Lenel, EP 540
Quidquid,
quod tu tutelam meam gesseris,
te mihi dare facere oportebit
ex fide bona
ob id rem meam salvam fore spondesne?
– Spondeo!
„Was das betrifft, dass du meine Vormundschaft geführt
haben wirst, gelobst du, dass im Hinblick darauf,
was auch immer du mir geben oder tun musst
aus guter Treue,
mein Vermögen unversehrt sein wird?”
– „Ich gelobe es!”
** P. Babatha 28-30 (125 n. Chr.)
µεταξὺ τοῦ δεῖνος τοῦ δεῖνος
ἐνκαλοῦντος
καὶ τοῦ δεῖνος τοῦ δεῖνος
ἐνκαλουµένου
µέχρι δηναρίων 〉βφ
ξενοκρίται ἔστωσαν.
ἐπεὶ ὁ δεῖνα τοῦ δεῖνος ὀρφανοῦ
ἐπιτροπὴν ἐχείρισεν,
lat. Rückübersetzung:
„Inter illum, filium illius,
qui agit,
et illum, filium illius,
cum quo agitur,
dumtaxat denarium MMD
xenocritae sunto.
Quod ille tutelam illius pupilli
gessit,
περὶ οὗ πράγµατος ἄγεται,
ὅταν διὰ τοῦτο τὸ πρᾶγµα τὸν
δεῖνα τῷ δεῖνι δοῦναι ποιῆσαι δέῃ
ἐκ καλῆς πίστεως
τούτου οἱ ξενοκρίται
τὸν δεῖνα τῷ δεῖνι
µέχρι δηναρίων 〉βφ
κατακρινάτωσαν,
ἐὰν δὲ µὴ φαίνηται,
ἀπολυσάτωσαν.
qua de re agitur,
quidquid ob eam rem
ille illi dare facere oportet
ex fide bona,
eius xenocritae [i.e.
recuperatores] illum illi
dumtaxat denarium MMD
condemnanto,
si non paret,
absolvunto.“
„Zwischen demjenigen, Sohn
desjenigen, der klagt, und
demjenigen, Sohn desjenigen,
der beklagt wird, sollen
bis zum Betrag von 2500 Denaren
Xenokriten (Richter) sein.
Was das betrifft, dass derjenige die
Vormundschaft desjenigen
Mündels geführt hat,
worum der Streit geht,
was auch immer deshalb derjenige
demjenigen geben oder tun muss
aus guter Treue,
dazu sollen die Xenokriten
denjenigen demjenigen
bis zum Betrag von 2500 Denaren
verurteilen,
wenn es sich nicht erweist,
sollen sie ihn freisprechen.“
3. Zustimmung des Vormunds zu Geschäften - auctoritas tutoris
Gai. 2,84
„Wenn deshalb ein Schuldner einem Mündel Geld zahlt, macht er zwar das Mündel zum
Eigentümer des Geldes, er selbst wird aber nicht befreit, weil ihm bei keiner Sache die
Veräußerung ohne Zustimmung des Vormunds gestattet ist. Wenn er aber durch dieses Geld
bereichert worden ist und es nochmals einklagt, kann er durch die exceptio doli mali abgewehrt
werden.“
D. 26,8,5 pr. (Pomp. 17 Sab.)
„Wenn der Vormund dem Mündel ein Darlehen gegeben hat oder ihm ein Schuldversprechen
abgenommen hat, wird es dem Vormund nicht verpflichtet. Aber in natürlicher Weise wird er
verpflichtet, soweit er bereichert worden ist. Denn gegen das Mündel muss man, soweit es
bereichert worden ist, nicht nur dem Vormund, sondern jedem, nach einem Reskript des
vergöttlichten Pius eine Klage geben.“
LUDWIG-MAXIMILIANS-UNI VERSITÄT MÜNCHEN
SEITE 3 VON 3
4. Geschlechtsvormundschaft – tutela mulierum
Kaser, RPR § 63
Gai. 1,190
„Dass aber volljährige Frauen unter Vormundschaft stehen, das scheint keine ernstzunehmende
Überlegung nahezulegen. Denn was man gemeinhin glaubt, (das sei so,) weil sie meist durch
Leichtsinn getäuscht werden und es angemessen ist, dass sie durch die Zustimmung von
Vormündern geleitet werden, das ist doch eher bloßer Schein als Wahrheit. Denn volljährige
Frauen führen ihre Angelegenheiten selbst (=verwalten ihr Vermögen selbst), und in
bestimmten Fällen erteilt der Vormund seine Zustimmung nur der Form halber; oft wird er auch
gegen seinen Willen vom Prätor gezwungen, seine Zustimmung zu erteilen.”
Gai. 1,194 - Befreiung von der Frauenvormundschaft
„Von der Vormundschaft werden freigeborene Frauen aber befreit durch das Dreikinderrecht,
freigelassene durch das Vierkinderrecht, wenn sie in der gesetzlichen Vormundschaft des
Patrons oder seiner Kinder sind; die übrigen Frauen, die eine andere Art von Vormund haben
(den magistratisch bestellten oder fiduziarischen) werden durch das Dreikinderrecht von der
Vormundschaft befreit.“
5. Pflegschaft – cura
Kaser, RPR § 64; § 14.8
cura minorum – Einrede (exceptio legis Laetoriae) und restitutio in integrum
bei übervorteilenden/nachteiligen Geschäften der Unter-25-jährigen (minores XXV annis)
ohne Zustimmung (consensus) des curator
daneben cura furiosi (Geisteskranke); cura prodigi (Verschwender)
D. 17.1.12.11 (Ulp. 31 ed.)
(Eigentl. Fall [1]:) Si adulescens luxuriosus mandet tibi, ut pro meretrice fideiubeas, idque tu
sciens mandatum susceperis, non habebis mandati actionem,
(Arg.:) quia simile est, quasi perdituro pecuniam sciens credideris.
(Modifizierter Vergleichsfall [2]:) Sed et si ulterius directo mandaverit tibi, ut meretrici
pecuniam credas, non obligabitur mandati,
(Wertende Begründung:) quasi adversus bonam fidem mandatum sit.
„Wenn dich ein junger Mann von ausschweifender Lebensart beauftragt, dass du dich für eine
Prostituierte verbürgst, und du den Auftrag in Kenntnis der Umstände übernommen hast, wirst
du nicht die Klage aus dem Auftrag haben,
weil es ähnlich ist, wie wenn du einem Geld in dem Wissen leihst, dass er es
verschleudern wird.
Aber auch in dem weitergehenden Fall, dass er dich ohne Umweg beauftragt hat, der Dirne Geld
zu leihen, wird er nicht aus dem Auftrag verpflichtet,
gleichsam als ob der Auftrag gegen Treu und Glauben verstoßen würde.“