Opferorientierte Hilfen für Kinder und Jugendliche

Leseprobe aus: Werner (Hrsg.), Mobbing - Opferorientierte Hilfen für Kinder und Jugendliche,
2. Auflage, ISBN 978-3-7799-3203-1 © 2015 Beltz Verlag, Weinheim Basel
http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-7799-3203-1
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Teil 1
Einführung Mobbing und
Mobbinginterventionen
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Stefan Werner
Mobbing – Einführung in eine
unterschätzte Gewaltform
Die Verdeutlichung von Mobbingprozessen
Mobbing wird oft verharmlost dargestellt. Mindestens jedes 10. Kind ist von
Mobbing betroffen und leidet sehr stark. Wie können Täter verantwortlich gemacht, Mitläufer gefordert und Opfern geholfen werden?
Henry und Tamara sind Außenseiter in der Klasse 8a und dies schon seit
zweieinhalb Jahren. Tamara leidet an einem Hautausschlag. Sie wird aus
Gründen der Gemeinschaftsbildung anderer Mädchen seit der 5. Klasse erniedrigt, da sie „komisch sei und stinken würde“. Bianca, die nur teilweise
zur anerkannten Mädchengruppe gehörte, nutzte jede Möglichkeit Tamara
zu verspotten, um von der Mädchengruppe anerkannt zu werden. Die anderen Mädchen lachten teils, machten mit oder dachten sich ihren Teil über
Bianca. Je mehr Bianca sich in die Gruppe einfügen wollte, desto mehr
musste Tamara büßen. Tamara, ein hübsches Mädchen mit alleinerziehender Mutter, wurde durch diese Prozesse immer mehr zum Sündenbock der
Klasse, veränderte ihre Einstellung zur Schule, bekam schlechtere Noten,
zog sich immer mehr zurück und verfiel in Tagträume. Henry versuchte eine Zeit lang, Tamara zu helfen und gegen das Mobbing von Bianca und den
anderen Mädchen vorzugehen. Er „verpetzte“ sie vor den Lehrern. Die
Mädchen fanden dies nicht gut und fingen an, Lügen über Henry zu verbreiteten. Sie holten sich die anderen Jungs der Klasse auf ihre Seite und
grenzten Henry durch strikte Nichtbeachtung aus. Er wird seitdem nicht
mehr in der 8a beachtet. Dieser Fall an einer Realschule passierte, weil das
schleichend einsetzende Mobbing nicht erkannt und kein Hilfssystem eingerichtet wurde.
Mobbing als psychische Gewaltform
Mobbing wird unter dem Begriff Gewalt definiert, da eine Schädigung, eine
Schädigungsabsicht oder aber eine Schädigungsandrohung (Selg/Mees/
Berg 1997) vorliegt. Die Beurteilung, wann etwas als schädigend empfun20
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den wird, hängt von verschiedenen Aspekten ab. Einerseits beurteilt der Betroffene, ab wann für ihn eine Schädigung einsetzt, da nur er sie feststellen
und bewerten kann. Andererseits muss aus Sicht von Mummendey et al.
(1982) die Bewertung von Gewalt um die Perspektive der gesellschaftlichen Normabweichung oder Unangemessenheit erweitert werden. So definiert die Gesellschaft das körperverletzende Profiboxen nicht als Gewalt,
sondern als Exklusivsport. Im Gegenteil muss dementsprechend jede Institution Mobbingversuche als klare Gewalt und nicht als Nichtigkeit behandeln. Denn Mobbing ist klar definierbare psychische Gewalt, da es schädigt, zielgerichtet ist, Absicht beinhaltet und mit unangemessenem Zwang
ab einem bestimmten Zeitpunkt den Willen und das Selbstbestimmungsrecht der angegriffenen Person (Integrität) ohne deren Zustimmung bricht
(Selg/Mees/Berg 1997). Sie ist die gezielte, gegen eine oder mehrere Personen gerichtete, über einen längeren Zeitraum, wiederholt erfolgende feindselige Handlung, um das soziale Ansehen des Betroffenen zu verschlechtern. Dies können Verleumdungen, üble Nachreden, Beleidigungen, Schikanen, Ausgrenzungen, sexuelle Belästigungen, Vorenthalten von Informationen, Schlechtmachen, in die Falle laufen lassen, Nichtbeachten, Weiterleiten von Fehlinformationen, nicht ernst nehmen, Dinge verschwinden
lassen sowie ungerechtfertigte Kritik sein. Mit den neuen Medien kann dies
auch über das Internet (Cybermobbing) oder übers Handy geschehen.
Dieser oft unbemerkten oder ignorierten Form der Gewaltausübung
müssen Grenzen gesetzt werden, indem sie nicht geduldet und klar dagegen
vorgegangen wird.
Eine Studie von Mechthild Schäfer (Schäfer/Herpell 2010) an Münchener Lehrern zeigt jedoch, dass Mobbing von Lehrerseite oft unterschätzt
wird. Die Ergebnisse der Studie belegen, dass bei den Lehrern durchaus reflektiertes Wissen über Mobbingansätze im Klassenkontext vorhanden ist.
Ob interveniert wird, ist dennoch abhängig von der Lehrereinstellung zu
diesem Thema. Es schätzten etwa die Hälfte der befragten Lehrer ca. 7 Prozent der Schüler als regelmäßige Opfer und ungefähr ein Drittel der Lehrer
ca. 15 Prozent der Schüler als Opfer ein.
Mobbing findet am häufigsten in der Grundschule statt. Dementsprechend sind dort wichtige präventive Anti-Mobbing-Ansätze anzuwenden,
um sich entwickelnde Täterstrukturen des einzelnen Kindes zu verringern
und ebenso Kindern zu helfen, aus einem Opferstatus herauszufinden. Die
Veränderbarkeit der Opferdisposition durch den Wechsel auf eine weiterführende Schule und die Stabilität von Täterverhalten belegt eine weitere
Studie von Schäfer (2010). Dementsprechend ist gerade die Arbeit gegen
Mobbing in der Grundschule sehr wichtig.
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Täter, Opfer und Möglichmacher
Jungen und Mädchen mobben in der Regel unterschiedlich. Jungen eher direkt und aggressiv, Mädchen eher subtil und indirekt. In Untersuchungen
von Schäfer (2010) wurde beobachtet, dass die Kinder und Jugendlichen
innerhalb einer Gruppe unterschiedliche Rollen annehmen. So sind Opfer
und Täter mit jeweils 10 Prozent vertreten, Möglichmacher und Zuschauer
(Verstärker des Täters/Assistenten/Helfer und Verteidiger des Opfers/
Außenstehende) jedoch mit 80 Prozent in der Gruppe. Bei der Zahlenverteilung liegt es auf der Hand, gerade die Vielzahl der mitmachenden, applaudierenden oder passiven Kinder und Jugendlichen zu nutzen, um diese mehr
in die Verantwortung zu nehmen, um Mobbing zu beenden. Die übernommenen Rollen können sich als stabil oder weniger stabil erweisen. Dementsprechend müssen angemessene Interventionen erfolgen. Zur Vereinfachung werden folgende Schülerkategorien unterschieden:
Opfer
Jeder kann zum Mobbingopfer werden, dennoch scheint es Personen zu geben, die aufgrund ihrer Persönlichkeit und/oder ihres Verhaltens/Auftretens
eher attackiert werden. Mobber bevorzugen Opfer, von denen keine Gegenwehr zu erwarten ist, die in Konkurrenz zu ihnen stehen oder ihr persönliches oder gruppenspezifisches Anti-Thema symbolisieren (vgl. den Einfluss
der Gruppendynamik auf Ausgrenzung von Stahl 2008, 317 ff.). Opfer
schämen sich, leiden still oder besitzen oft keinen Kontakt nach außen, da
die Kommunikationsbereitschaft zu anderen durch das Mobbing sinkt. Als
besonders gefährdete Personen gelten Schüler, die sich durch ein oder mehrere Merkmale vom Durchschnitt der Klasse abheben, zum Beispiel durch
äußere Auffälligkeiten wie Verhalten, Sprache, Kleidung, Frisur, durch eine
Behinderung, einen anderen Sozialstatus oder Schüler, die durch besonderes
Engagement, Leistungsorientierung oder Introvertiertheit auffallen. Es kann
aber auch Konkurrenz oder nur Zufall sein, warum jemand gemobbt wird.
Täter
Täter entwickeln sich bei fortgesetztem aktiven Mobbing mit einer um den
Faktor vier erhöhten Chance zur späteren Straffälligkeit (Olweus 2006),
weil die schon früh erworbenen oder konditionierten Strategien des Durchsetzens eigener Ziele mit aggressiven Mitteln kontinuierlich verstärkt werden. Dementsprechend müssen den Mobbenden eindeutige Grenzen durch
ein konsequent verfolgtes Regelsystem und bei Nichteinhaltung entsprechend abgestimmte Sanktionen gesetzt werden. Fehlen Lehrern die Hand22
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lungsstrategien oder auch der Mut, um sich einzumischen und Partei zu ergreifen, wird dem Mobber dadurch Duldung beziehungsweise Akzeptanz
signalisiert. Seine Vorteile (hohes Ansehen, soziale Macht, Hochstatus in
der Gruppenhierarchie, Frustabbau, Beachtung, Aufmerksamkeit, Gemeinschaftserleben) scheinen demnach höher zu liegen als die zu erwartenden
Nachteile (Sanktionen).
Oft wissen Täter nicht um die Folgen für ihre Opfer. Warum sollten sie
sich bei diesen Vorteilen aus ihrem Unwissen heraus freiwillig ändern?
Deswegen müssen Täter mit den Folgen der Opfer berührt werden. Sie
müssen lernen, sich ihren Erfolg auf prosozialer Ebene zu erarbeiten. Interessanterweise besitzen auch Täter helfende Anteile, wie Rücksichtnahme
und Einfühlung. Diese müssen im Kontext Schule aktiviert werden.
Möglichmacher, Sympathisanten, stille Beobachter
und Helfer des Täters und des Opfers
Die Unterstützer und Helfer der Täter sonnen sich in deren Ausstrahlung
und Einfluss und erleben ihre Statuserhöhung durch das Gefühl, auch bedeutend zu sein. Durch ihr Nachahmen befinden sie sich auf der sicheren
Seite, stehen den Tätern nahe und bestärken diese durch ihr Verhalten.
Die Möglichmacher, Wegseher, Mitläufer oder stille Beobachter sind
selbst oft hilflos, haben Angst, selbst Opfer zu werden, empfinden aber
manchmal auch Genugtuung, wenn ein anderer klein gemacht wird. Sie haben einen großen Anteil am Mobbing, da sie dem Täter nicht widersprechen
und so sein Verhalten dulden. Dies ist meist die Vielzahl der Schüler einer
Klasse, die sich auf keine der beiden Seiten schlagen und einfach durch Lachen oder Dulden mitmachen. Sie verfolgen das Geschehen mit Interesse oder Abscheu, aber sie intervenieren nicht, da sie sonst selbst von Mobbing
betroffen werden könnten. Es scheint, als ob sie abwechselnd mit der Aggressivität des Täters und dem Leiden des Opfers sympathisieren, je nachdem,
wie gefährlich sie die Situation für sich gerade bewerten. Somit machen sich
Lehrer und Mitschüler durch ihre Passivität neben dem Täter indirekt mitschuldig. Mitläufer unterliegen häufig einem starken Gruppenzwang, geleitet
von dem starken Bedürfnis, Mitglied einer bestimmten Gruppe zu sein. Sie
sind deshalb bereit, Dinge zu tun, von denen sie genau wissen, dass diese
nicht in Ordnung sind (Lawson 1996, S. 48). Den Mitmachern und Sympathisanten kommt eine zentrale Rolle innerhalb des Mobbingprozesses zu. Gewalthandlungen wie Mobbing können nur stattfinden und solch ungeahnte
Dimensionen erreichen, weil es zu viele es zulassen und sich zu wenige Zivilcourage zutrauen oder nicht wissen, wie sie helfen können.
Ebenso gibt es Helfer für die Opfer, die sich dafür einsetzen, dass Mobbing aufhört. Sie sind in den Klassen oft beliebt, schaffen es aber nicht immer, Mobbing zu verhindern. Sie reiben sich auf oder können durch ihr En23
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gagement selbst zum Opfer werden. Gerade sie sollten viel Unterstützung
von pädagogischen Fachkräften und den jeweiligen Klasen oder Gruppen
bekommen.
Mobbinginterventionen
Mobbinginterventionen unterteilen sich dementsprechend in täterorientierte,
opferorientierte und in gemeinschaftsaktivierende Interventionsansätze auf.
Ebenso sind strukturelle Ansätze von Nöten, in die vorherig aufgeführte Interventionsansätze eingebettet werden.
Als struktureller Ansatz kann der Ansatz von Dan Olweus (2006) gelten,
der die Ebenen der Institution, der Klassen und der einzelnen Schüler in den
Blickpunkt der Veränderung richtet. Diese Interventionen müssen miteinander verknüpft sein, um deren Wirksamkeit garantieren zu können.
Täterorientierte Ansätze sind meist konfrontativ oder kritisierend ausgelegt. Dazu gehören unter anderem die Farsta-Methode, das Staffelrad oder
andere konfrontative Ansätze. Neuerdings kann auch zu den täterorientierenden Ansätzen der Ressourcen konfrontierende Ansatz (Werner 2011)
hinzugezählt werden, der anstelle der defizitorientierten Konfrontation
(Fehlverhalten, Problemverhalten) die nicht gezeigten Kompetenzen der
Täter anvisiert. So können Mobber damit konfrontiert werden, wieso sie
ihre Macht, ihren Führungsanspruch oder ihre Durchsetzungsstärke nicht
zur Unterstützung von schwächeren Schülern nutzen. Die täterorientierten
Ansätze brauchen allerdings oft weitere Interventionen, wie gemeinschaftsorientierte Maßnahmen, um das Klima innerhalb der Schulklasse positiv zu
beeinflussen.
Opferorientierte Ansätze helfen den Schülern, die sich in der Opfer- oder Sündenbockrolle innerhalb des Klassensystems befinden und die meist
mit einem geringeren sozialen Status auffallen. Hier können der No-blameapproach, das Buddy-Projekt, das Trainerkonzept sowie AUFWIND oder
das Hamburger M.u.T-Projekt genannt werden. Dabei geht es vor allem darum, innerhalb der Klasse die benötigte Integration, Unterstützung oder das
Beschützen von Opfern zu ermögliche. Die opferorientierten Ansätze brauchen ebenso gemeinschaftsorientierte oder täterbezogene Ansätze als begleitenden Support.
Gemeinschaftsaktivierende Interventionsansätze versuchen, die Stärke
der Klasse zu nutzen (besonders die prosoziale Aktivierung der Möglichmacher, Unterstützer, Helfer oder Mitläufer), um das Schul-, und Klassenklima prosozial zu stärken und Mobbing auf diesem Weg zu unterbinden.
Dazu können die Klassenmediation, lösungsorientierte Ansätze, Zivilcourage-Ansätze oder auch gruppendynamische Ansätze genannt werden.
Die einzelnen Interventionsformen werden genauer in den folgenden
Beiträgen beschrieben.
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Stefanie Werner-Weisenburger, Stefan Werner
Viktimologie beim Mobbing –
Der Prozess des Opferwerdens
Grundlagen der Interventionen gegen Mobbing
Victim kommt aus dem Englischen und bedeutet Opfer. Der Begriff Viktimisierung
wird in der kriminologischen Terminologie genutzt, um den Prozess des „ZumOpfer-Werdens“ beziehungsweise „Zum-Opfer-Machens“ (Schneider 1975) zu
beschreiben. Diese Typologie soll helfen, zukünftige Viktimisierungsprozesse zu
verhindern.
In der Literatur zu Opfertypologie zeigt sich der Grundgedanke, dass es
Menschen gibt, die eher dazu disponiert sind, zum Opfer von Straftaten zu
werden als andere Menschen. Besonders herausgestellt wird die problematische Typisierung menschlichen Handelns, da dieses von einer Vielzahl
von Faktoren abhängt (vgl. Lebe 2003). Möglicherweise gibt es dadurch
negative Effekte, zum Beispiel Etikettierung oder Stigmatisierung von
Menschen. „Genau dieses jedoch beabsichtigen Opfertypologien nicht, sie
implizieren keine negativen Beschreibungen. Opfertypologien verfolgen
vielmehr das Ziel, anhand bestimmter Merkmale diese Personenkreise auf
ihre Disposition als Opfer hinzuweisen und eröffnen damit die Möglichkeit,
im Wege der Eigenprävention ihre künftigen Verhaltensweisen derart auszurichten, dass sie sich erst gar nicht in tatbegünstigende Situationen begeben.“ (Lebe 2003, S. 10)
Der Viktimisierungsprozess im Überblick
In der Opferwerdung kann es verschiedene Stadien geben, die nicht notwendigerweise aufeinander folgen müssen. Lebe (2003, S. 13) spricht von
einem „Karrieremodell“. Lamnek (1994, S. 266) unterscheidet innerhalb
der Viktimisierung: Primäre Viktimisierung als Opferwerdung im unmittelbaren Zusammenhang mit der Tat; sekundäre Viktimisierung als die Verschärfung durch Fehlreaktionen des sozialen Nahraums des Opfers und der
Instanzen der Sozialkontrolle; tertiäre Viktimisierung als dauerhafte Über25
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nahme der Opferrolle in die Persönlichkeit des Opfers mit der Gefahr der
weiteren Primärviktimisierung.
Die ebenfalls nach Haupt et al. (2003) ausgeführten drei Phasen der Viktimisierung sollen in diesem Beitrag auf das Schülermobbing übertragen
werden. Sie tragen folgende Charakteristiken in sich:
Die primäre Viktimisierung beinhaltet die mehrfache und systematische
psychische Gewaltausübung an Schülern, die sich nicht mehr selbst aus dieser Situation befreien können. In dieser Phase entsteht der Verlust des psychischen Gleichgewichts, den der Schüler verspürt, wenn er mit Ereignissen
und Lebensumständen konfrontiert wird, die er im Augenblick nicht bewältigen kann. Opfer können ohne bewusstes Wollen zur Entstehung und Verschärfung von Gewaltereignissen beitragen, weil sie
● bestimmte Verhaltensmuster nicht durchschauen,
● über keinen ausreichenden Selbstschutz verfügen,
● nicht in der Lage sind, in Konfliktsituationen ein eigenes „Drehbuch“
möglicher Verhaltensweisen zu schreiben und
● sich durch Körpersprache immer wieder als Opfer anbieten (Gestik,
Mimik, Körperhaltung, Gesamtverhalten).
Die sekundäre Viktimisierung erfasst diejenigen negativen psychischen, sozialen und gegebenenfalls wirtschaftlichen Folgen für das Opfer, welche
indirekt durch diejenigen Personen hervorgerufen werden, die mit dem Opfer der Straftat und den Folgen der primären Viktimisierung befasst sind
(zum Beispiel Lehrer, Schulleitung, Elternbeirat, Jugendbeauftragte der Polizei etc.). Die Erscheinungsformen sekundärer Viktimisierung stehen im
Widerspruch zu den individuellen Bedürfnissen und Erwartungen des Mobbingopfers. Es sucht Beistand zur Unterstützung des Bewältigungsprozesses
gegen Mobbing (zum Beispiel nach menschlicher Anteilnahme, Einfühlsamkeit und Verständnis, Beratung, Schadenswiedergutmachung und angemessener Bestrafung der Mobbenden). So können insbesondere mangelndes Einfühlungsvermögen, bagatellisierende Äußerungen oder Äußerungen von Zweifeln an den Schilderungen des Opfers, Mitschuldvorwürfe,
Parteiergreifung für den Täter oder die soziale Meidung des Opfers das Risiko sekundärer Viktimisierung erhöhen. Erschwerend kommt hinzu, dass
viele Schulen und Institutionen mit solchen Situationen überfordert sind
oder die Notwendigkeit der Hilfe für Opfer übersehen.
Tertiäre Viktimisierung schlägt die kriminologische Literatur als dritte
Stufe eines opferbezogenen Karrieremodells vor, welche die Übernahme
und Verfestigung einer sogenannten „Opferidentität“ (Haupt et al. 2003, S.
38) beschreibt und als solche wiederum Bedeutung als Risikofaktor für erneute primäre Viktimisierung besitzen kann. Eine Opferidentität beim
Mobbing ist dadurch gekennzeichnet, dass das Opfer aufgrund der Schwächung seines Selbstwertgefühls durch primäre und sekundäre Viktimisie26
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rung nicht mehr in der Lage ist, zu einem normalen Schulleben zurückzukehren. Als Folgen können sozialer Rückzug oder unsicheres und passives
Verhalten in weiteren Gefährdungssituationen sein, was wiederum die
Mobbingbereitschaft von Tätern erhöhen kann (Theorie der erlernten Hilflosigkeit, Selbstzuschreibung, Verinnerlichung der Opferrolle).
Phasen des Mobbings in der Schule
Nach den Erfahrungen der Autoren sind auch im schulischen Kontext gewisse Abläufe des Opferwerdens erkennbar. Ähnlich beschreibt es auch
Mechthild Schäfer in ihrem Phasenmodell des Mobbings (Schäfer/Herpell
2010). Im Kampf um soziale Macht in der Klasse testen anfangs die zukünftigen Mobber ihre Mitschüler aus, wer sich mobben lässt und wer
nicht. Damit beginnt der Wettlauf um den größten Einfluss innerhalb der
Klasse. Die Mobber testen weiterhin die Normen der Klasse aus. Ist Mobbing in dieser Klasse erlaubt? Die große Gruppe der Möglichmacher erleichtert das Mobbing in dieser Phase. Sie lachen über die Witze der Starken, sie schauen oft duldend zu oder kümmern sich nicht darum, was in der
Klasse passiert. Sie finden es sicher insgeheim nicht in Ordnung, sind aber
andererseits sehr froh, nicht selbst vom Mobbing betroffen zu sein. Dass
sich Mitschüler eher mit den Tätern als mit den Opfern solidarisieren, kann
neben der Angst, selbst gemobbt zu werden, ebenso mit dem Phänomen des
Gruppenzwangs erklärt werden. Dies empfinden die Opfer häufig als kollektive Mittäterschaft der ganzen Klasse. Damit werden die späteren Opfer
präpariert, der Opferstatus wird vorbereitet und entwickelt (Tiefstatus). Die
psychische Verfassung des Opfers wird immer schlechter. Durch diese sich
entwickelnde und größer werdende Auffälligkeit gibt es immer weitere Anlässe zum Mobben. Mobben wird, wenn nicht eingegriffen wird, zur tolerierten Norm. Die sich in der Hierarchie oben befindenden Schüler bestimmen die Verhaltensnorm durch ihren Machtanspruch. Daher kommt es zu
normativem destruktivem Handeln innerhalb der Klasse. Nicht geglückte
Hilfswünsche an interventionsberechtigte Personen können als Sekundärviktimisierung angesehen werden. Ohne weitere Aussicht auf Unterstützung
hat das Opfer seinen Opferstatus erlangt. Mobbing ist als akzeptierte Norm
in die Klasse eingezogen und das Fehlverhalten und die Fehlleistungen des
Opfers werden als selbstverschuldet gedeutet. Daher ist Hilfe in dieser Phase eher schwierig. Die zugeschriebenen Mobbingthemen werden inzwischen vom Opfer angenommen, verfestigt und auch geglaubt. Es können
gesundheitliche Schäden, Schulunlust oder Persönlichkeitsveränderungen
auftreten. Aus eigener Kraft kann sich das Opfer in dieser Phase nicht vom
Mobbing befreien. Letztlich empfindet das hilflose Opfer eine starke Ausgrenzung und einen Ausschluss aus der Klassengemeinschaft. Wie kann in
welcher Phase nun wie interveniert werden?
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Risikofaktoren der Primärviktimisierung in der Schule
Wer Opfer wird, ist schwer prognostizierbar, aber es scheint, dass bestimmte Merkmale diesen Status auch in der Schule fördern können. Die Verantwortung, diese Merkmale nicht aufzugreifen und auszunutzen, liegt dabei
beim Täter. Trotzdem sollten gefährdete Kinder und Jugendliche mit Unterstützung von Lehrern oder Sozialarbeitern präventiv Verantwortung übernehmen, um sich vor den Gefahren einer Viktimisierung zu schützen. Als
mögliche allgemeine Risikofaktoren der Opferwerdung können gelten:
● Körperlich-psychische Merkmale (Konstitutionsmerkmale, geringe Abwehrfähigkeiten), die die Opferdisposition im Sinne einer gesteigerten
Attraktivität für potentielle Täter erhöht,
● Verhaltensbezogene Risikofaktoren (Aufsuchen riskanter Orte, zum
Beispiel bestimmte Orte in den Pausen), Fehlverhalten des Opfers in
konkreten Gefährdungssituationen,
● Sozioökonomische Risikofaktoren (soziales Umfeld oder wirtschaftliche
Situation des Opfers) (Feltes 2010).
Aus den Erfahrungen der Autoren sind ihnen im Kontext Schule die folgenden drei Bedingungen aufgefallen, die ihrer Meinung nach hauptsächlich zum Opferstatus führen und dementsprechend gezielt pädagogisch bearbeitet werden können:
● Interaktion und Kommunikation (Mentale Bewertungskonstrukte). In
der Interaktion und Kommunikation zwischen Menschen ist weniger entscheidend, was der Sender versucht auszudrücken. Wichtiger ist, was und
wie die Botschaft beim Empfänger ankommt und von ihm bewertet wird.
Somit entscheidet der Empfänger durch seine Interpretation, ob und welche Bedeutung er bestimmten Wahrnehmungen zuordnet (Merten 1977,
S. 50 ff.). Verhalten, Körpersprache sowie Sprache sind dabei sehr interpretationsabhängige Faktoren, nach denen Menschen bewertet werden
können. Je nachdem, wie sich Jugendliche innerhalb der Klasse verhalten,
kann somit von den Mitschülern – abhängig von der beliebigen internen
Bewertungsgrundlage – jedes Verhalten als Opferverhalten interpretiert
werden. Besonders jugenduntypische Merkmale, wie eine besonders intellektuelle, erwachsene Sprache, eine ängstlich wirkende Körpersprache,
Schweißgerüche oder „komische“ Klamotten können damit von anderen
Schülern so interpretiert werden, dass diese Faktoren als Grundlage zum
Mobbing genutzt werden. Gerade wenn solche Risikofaktoren, wie beispielsweise das Verhalten eines Schülers, different von der Gruppennorm
wahrgenommen werden, ist die Gefahr von Mobbing besonders groß.
Unterstützungsmöglichkeiten: Unterstützung in selbstsicherer Sprachformulierung, sicherem Auftreten, selbstbewusster Ausstrahlung oder
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Erziehung zur Körperhygiene durch Reflexionsversuche mit Selbst- und
Fremdwahrnehmungstechniken, Übungen zum Kommunikationstraining
oder durch das Beachten von Körpersprachetechniken in Form von Rollenspielen, die die eigene Präsenz fördern können.
● Leben entgegen der gelebten Normen, Werte oder Einstellungen in der
„herrschenden Subkultur“ der Klasse (Gruppenstruktur und Rollenverteilung). In allen Klassen werden Rollen übernommen beziehungsweise
zugewiesen, darunter auch gruppendynamische Rollen wie Außenseiter
oder Sündenbock. Diese Rollen können das jeweilige akzeptierte (Außenseiter) oder bekämpfte Sündenbock) Antithema beziehungsweise
Angstthema der Anführer einer Gruppe verkörpern. Dies ist stark davon
abhängig, welches Thema von diesen gelebt wird (vgl. Stahl 2002,
S. 317 ff.). „An den Sündenbock werden die Tabuthemen der Gruppe delegiert, die den anderen Gruppenmitgliedern bekannt sind, die aber zu
bedrohlich erscheinen, um sie öffentlich bei sich selbst zu dulden. Indem diese Themen vom Rest der Gruppe an ihn delegiert und aus ihrem
eigenem Selbstbild verdrängt werden, muss er fortlaufend aufgespürt,
gestellt, bekämpft und ausgegrenzt werden, ohne ihn loswerden zu wollen.“ (Stahl 2002, S. 320 ff.)
Werden Klassen beispielsweise von „coolen Typen“ regiert, bestimmen
diese damit die Gruppenthemen, wie Distanz, Härte oder eine Antihaltung zur Leistungsbereitschaft. Werden Antithemen – wie Mitgefühl oder Strebsamkeit – von anderen Schülern gezeigt, so kann es passieren,
dass diese Themen von den führenden Mitschülern angegriffen oder
missachtet werden, weil sie am Gegenpol von Cool-sein, Stärke und
Macht liegen. Es sind die Versagensthemen der Starken, die sich hinter
ihren starken Themen verstecken.
Zuschreibungen anderer können in der Schule entsprechend durch nicht
anerkannte Leistungen (Strebertum), Äußerlichkeiten oder fehlende Statussymbole hervorgerufen werden. Ebenso kann es Konkurrenzverhalten
zwischen Schülern um die Leitung der Gruppenhierarchie geben beziehungsweise Mobbingverhalten an schwächeren Schülern ausgelebt werden.
Unterstützungsmöglichkeiten: Gruppendynamische Interventionen in
Klassen zur Aufhebung einer Mobbingkultur durch konfrontative Auseinandersetzungen mit den Mobbern beziehungsweise Anführern oder
Stärkung der Mitläufer im Mobbingprozess. Ebenso kann das Aufdecken und Bearbeiten der tabuisierten Themen helfen, diese zu erkennen
und zu tolerieren. Dementsprechend müssen die gewünschten Themen
durch eine Vielzahl von Übungen oder Interaktionsspielen zur Entwicklung von Toleranz angeboten und reflektiert werden.
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● Unangemessene Handlungskompetenzen zur Gegenwehr. Manche Schüler verfügen nicht über eine angemessene Art, in Konflikten zu reagieren
oder sich bei Übergriffen zu wehren. Ihnen fehlt eine gewisse Anzahl an
erforderlichen Handlungsalternativen. So können sie möglicherweise
zur Konfliktlösung nicht entsprechend reagieren, zeigen sich eher
schwach und unterwürfig oder reagieren zu einseitig. Ebenso kann es
sein, dass diese Personen durch ihre Frustrationstoleranz eher zu unangemessenen weichen emotionalen Reaktionen neigen, keine adäquaten
Mittel im Umgang mit ihren Emotionen haben und deswegen immer
wieder aufgezogen werden. Lässt sich ein Schüler solange provozieren,
bis er anfängt zu weinen, so kann dies gewaltbereite Jugendliche einladen, diese Schwäche auszunutzen. Hat der Jugendliche die Kompetenz
nicht erlernt, klare Grenzen zu setzen, wird er sich gegen solche Übergriffe nur schwer wehren können.
Unterstützungsmöglichkeiten: Individuell angelegtes Konflikt- und Kommunikationstraining für einzelne Schüler oder ganze Schulklassen zum
Erlernen einer angemessenen Handlungskompetenz in Konfliktsituationen. So werden zum Beispiel im Präventionsprogramm „Ingelheimer
Modell“ konfliktbezogene Verhaltenskompetenzen eingeübt, um höheres Selbstvertrauen in Konflikten zu entwickeln.
Risikofaktoren der Sekundärviktimisierung in der Schule
Die sekundäre Viktimisierung erfasst nach Lebe (2003) die negativen psychischen, sozialen oder auch wirtschaftlichen Folgen für das Opfer, welche
indirekt durch diejenigen Personen, die mit dem Opfer des Mobbings und
den Folgen der primären Viktimisierung befasst sind, hervorgerufen werden
(Familie, Schule, Nachbarn, Polizei usw.) „Opfer erleben das, was nach der
eigentlichen Tat auf sie einwirkt, häufig als äußerst belastend und teilweise
sogar entwürdigend (zum Beispiel das Anzweifeln des erlebten Tatgeschehens, sensationelle Aufmachung in den Medien).“ (Lebe 2003, S. 13).
Dies kann auftreten, wenn die individuellen Bedürfnisse und Erwartungen des Opfers zur Unterstützung des Bewältigungsprozesses der Straftat
nicht berücksichtigt werden. So können mangelndes Einfühlungsvermögen,
bagatellisierende Äußerungen oder Zweifel an den Schilderungen des Opfers, Vorwürfe der Mitschuld, Parteiergreifung für den Täter oder die soziale Meidung des Opfers das Risiko sekundärer Viktimisierung erhöhen. Dieser Prozess kann im Schulalltag durch informelle Reaktionen (zum Beispiel
durch das Weitererzählen auf dem Schulhof) als auch durch formelle Reaktionen (zum Beispiel durch Offenbarung beim Lehrer/Schulleiter) erfolgen,
bis das Kind oder der Jugendliche nicht mehr an Unterstützungsmöglichkeiten glaubt.
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2. Auflage, ISBN 978-3-7799-3203-1 © 2015 Beltz Verlag, Weinheim Basel
http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-7799-3203-1
Aus den Erfahrungen der Autoren sind ihnen im Kontext Schule besonders zwei Bedingungen zur sekundären Viktimisierung innerhalb der Institution Schule aufgefallen, die ihrer Meinung nach hauptsächlich zum sekundären Opferstatus führen und die dementsprechend gezielt verändert
werden können:
● Lehrer und Schulleitung. Es kann geschehen, dass die individuellen Bedürfnisse und Erwartungen des Opfers zur Unterstützung bei der Bewältigung im Mobbingprozess oder bei physischer Gewalterfahrung von
Lehrern nicht berücksichtigt werden. Gründe hierfür können sein, dass
Lehrer damit überfordert sind, sie ihre Interventionen nicht als fruchtbar
erleben oder sie selbst Angst vor dem Eingreifen haben. Dadurch kann
sich das Opfer unverstanden fühlen. Es spürt als Konsequenz nur den
Ausweg, die Schule wechseln zu müssen, weil es eine parteiische Täterverurteilung vermisst. So können mangelndes Einfühlungsvermögen
von Lehrern, ihre bagatellisierenden Äußerungen zu den erfolgten Taten
oder ihr Zweifel an den Schilderungen des Opfers zu einer weiteren
Viktimisierung führen. Häufig bekommen aber auch Lehrer psychische
Übergriffe unter Schülern nicht mit. Sie erkennen Hänseleien nicht als
systematische Gewaltausübung. Weiterhin erhöht sich das Risiko der
sekundären Viktimisierung, wenn einige Lehrer Übergriffe dulden oder
wegschauen anstatt einzugreifen.
Weiterhin wenden sich Eltern mit ihren Kindern an die Schulleitung.
Ehe Täter von der Schule verwiesen werden können, wird oft der
Schulwechsel für das Opfer empfohlen. Manchmal streitet die Schulleitung Mobbingvorwürfe ab, dass es dieses Phänomen an ihrer Schule
nicht gäbe und stellt Eltern mit ihrem betroffenen Kind vor emotionale
Fassungs- und Hilfslosigkeit.
Unterstützungsmöglichkeiten: Sensibilisierung und Stärkung von Lehrern, sich gegen Mobbing und Gewalt zu engagieren und opferbezoge
Verantwortung zu übernehmen. Die Lehrer müssen Gewalt an der Schule durch angemessene Maßnahmen verringern, die Betroffenen sozial
unterstützen, sie integrieren und rehabilitieren und damit eine parteiische Haltung zur Unterstützung von Opfern demonstrieren. Diesbezüglich sollte sich die Schulleitung dafür einsetzen, die Strukturen innerhalb
ihrer Schule zu entwickeln.
● Mitschüler. Wenden sich Opfer im Mobbingprozess an ihre Mitschüler,
so kann es passieren, dass diese ebenso ihre individuellen Bedürfnisse
und Erwartungen nach Unterstützung nicht anerkennen. Dies geschieht
oft aus Angst, selbst in den Status des Opfers zu rutschen. Das Bedürfnis des Opfers nach Verständnis von den Mitschülern, nach Unterstützung und Verurteilung der Täter durch die Klasse wird somit nicht ernst
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Leseprobe aus: Werner (Hrsg.), Mobbing - Opferorientierte Hilfen für Kinder und Jugendliche,
2. Auflage, ISBN 978-3-7799-3203-1 © 2015 Beltz Verlag, Weinheim Basel
http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-7799-3203-1
genommen. Durch das Mitmachen oder Wegschauen der Schulkameraden verringert sich die Hoffnung des Opfers auf Beendigung dieses Prozesses und eine noch stärkere Isolierung des Opfers wird gefördert.
Unterstützungsmöglichkeiten: Ergreifung von Maßnahmen innerhalb der
Klasse, um die Schüler zu sensibilisieren, sich gegen Mobbing und Gewalt zu engagieren. Gerade die Vielzahl der Möglichmacher sollte zur
Verantwortungsübernahme mobilisiert werden, um die Opfer zu integrieren und eine parteiische Haltung gegen die Täter zu demonstrieren.
Diesbezüglich sollten Gewaltpräventionstage genutzt werden, die Kompetenzen der Möglichmacher zu stärken, ihnen Unterstützung anzubieten und sie zu ermutigen, Zivilcourage zu zeigen.
Risikofaktoren der Tertiärviktimisierung in der Schule
Die tertiäre Viktimisierung kann nach Lebe (2003) als dritte Stufe eines opferbezogenen Karrieremodells gesehen werden, welche die Übernahme und
Verfestigung einer sogenannten „Opferidentität“ (Haupt et al. 2003, S. 38)
beschreibt und als solche wiederum Bedeutung als Risikofaktor für erneute
primäre Viktimisierung besitzen kann. Die Opferidentität ist dadurch gekennzeichnet, dass sich das Opfer aufgrund seiner Schwächung des Selbstwertgefühls durch primäre und sekundäre Viktimisierung nicht mehr in der
Lage fühlt, zu einem normalen Leben zurückzukehren. Besonders in Gefährdungssituationen innerhalb der Schule verhält es sich unsicher und passiv, was im Einzelfall die Bereitschaft der Mobber erhöhen kann. Hierbei
wirken quantitative Risikofaktoren (frühere Viktimisierung, die Dauer
traumatisierender Situationen) und qualitative Risikofaktoren (die Intensität
einer empfundenen Tat) (Feltes 2010). Das Opfer scheint durch diese Erfahrungen im Sinne der Theorie der erlernten Hilflosigkeit (Seligman 1983)
das Gefühl zu besitzen, dass es erneute Mobbingprozesse nicht verhindern
könnte. Das Mobbingopfer wird sich seine Opferrolle dauerhaft zuschreiben und sich zukünftig entsprechend diesem Selbstbild verhalten. Die traumatisierenden und stigmatisierenden Folgen können ohne Hilfe und Unterstützung oft nicht überwunden werden.
Aus den Erfahrungen der Autoren ist es im Kontext Schule besonders
der Einfluss der Etikettierung, die innerhalb der Institution Schule zur tertiären Viktimisierung führen kann. Zur Verringerung könnte folgendermaßen
beigetragen werden:
● Etikettierung. Durch die Theorie des „labeling approach“ kann der Opferstatus als Reaktion der sozialen Umwelt und die daraus entstehenden
negativen Zuschreibungsprozesse verstanden werden. Diese Zuschreibungen, die sich oft auf „situationsdefinierte Normabweichungen“
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Leseprobe aus: Werner (Hrsg.), Mobbing - Opferorientierte Hilfen für Kinder und Jugendliche,
2. Auflage, ISBN 978-3-7799-3203-1 © 2015 Beltz Verlag, Weinheim Basel
http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-7799-3203-1
(Lamnek 1979, S. 234) berufen, stellen nach Sack (1972, S. 24) „ein generelles Merkmal der interaktiven und kommunikativen Prozesse zwischen Menschen“ dar und sind somit nicht nur ein „spezifisches Charakteristikum von institutionellen Personen“ (ebenda). Diese Kommunikationsprozesse geschehen „selektiv“, also „gruppen-, situations- und
personenspezifisch“ (Lamnek 1994, S. 24). Durch die meist „personenoder rollenbezogene Zuweisung“ des Opferstatus, können die konformen Handlungsmöglichkeiten reduziert werden und eine „Identität des
Opfers“ kann entstehen (ebenda). Mit der Übernahme des Opferstatus in
das eigene Selbstkonzept ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass das betroffene Opfer immer häufiger opferfördernde Handlungsmuster wählt
und somit tiefer in den Kreislauf von Erniedrigung, Hoffnungslosigkeit
und der Übernahme des Opferstatus in das eigene Selbstbild gerät. Somit wird dieses Bild in die eigene Persönlichkeit integriert. Durch diese
verinnerlichten Selbstprophezeiungsprozesse verringert sich für die Opfer die Wahrscheinlichkeit, Problemlösetechniken anzuwenden, um diesen Status verlassen zu können.
Unterstützungsmöglichkeiten: Intervention und Beendigung des Mobbingprozesses durch Gewaltpräventionsmaßnahmen und durch Mobbinginterventionen innerhalb der Klasse. Es muss ein Bewusstsein innerhalb der Klasse entstehen, die persönliche Verantwortlichkeit des eigenen Verhaltens zu reflektieren. Daraus soll das Bewusstsein zum
friedlichen Miteinander in der Klasse geschaffen werden. Weiterhin
sollten Integrationsmöglichkeiten für Opfer entwickelt werden, wo jeder
Einzelne kleine Verantwortungsbereiche übernehmen sollte, um das Opfer aus seinem Status zu befreien. So können kleine Interventionen, wie
eine morgendliche persönliche Begrüßung, das Nachfragen der Hausaufgaben oder das Mitbringen einer kleinen Aufmerksamkeit in die
Schule helfen, das Opfer wieder zu integrieren und dadurch die Interpunktion der Kommunikation (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 1985, S.
54 ff.) zu unterbrechen und neu zu definieren. Ebenso sollte ein unabhängiger Entstigmatisierungsprozess beim Opfer stattfinden, bei dem
durch Umbewertungsprozesse Einstellungsänderung und Selbstwertstärkung erfolgen können. Hier können Therapie und auch verhaltensbezogene Bewältigungsprogramme, wie das Mainzer soziale Training
AUFWIND oder die Hamburger M.u.T-Gruppen Hilfestellung bieten.
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