Muss – kann – darf die Schule erziehen?

Rolf Göppel/ Thomas Rihm/ Veronika Strittmatter-Haubold (Hg.) [2011]
Muss – kann – darf die Schule erziehen?
11. Heidelberger Dienstagsseminar. Heidelberg: Mattes.
160 S., € 20,00,ISBN 978-3868090536
Immanuel Kants Feststellung, dass Menschen der Erziehung bedürfen – und damit auch der
sozialisierenden Beheimatung in ihrem kulturellen Lebensraum – ist sicherlich wichtig (vgl.
Kant 1803/1960, S. 7). Neben Familie und Kirchengemeinde war traditionell immer auch die
Schule Ort der – freilich dann öffentlichen und allgemeinen – Erziehung. Auch wenn heute
das Grundgesetz ein starkes Erziehungsrecht der Eltern vorsieht (Art. 6, Abs. 2 GG) und die
Schule als Erziehungsinstitution sekundär hinzutritt, scheint schulische Erziehung
keineswegs in Frage gestellt zu werden. Eher im Gegenteil: Schule soll sich im
Erziehungsfeld verstärkt profilieren, wozu gerade die Ganztagsschule neue Möglichkeiten
bereitstellt. Allerdings könnte dies das bisher einigermaßen austarierte Verhältnis zwischen
Elternhaus und Schule auch ins Wanken bringen und begrenzt darüber hinaus Vereine,
Jugendverbände oder Kirchen, Kinder und Jugendliche im Rahmen ihrer Freizeit oder eines
bestimmten Engagements mit ihren Werten zu prägen.
Die Frage des von Göppel, Rihm und Strittmatter-Haubold herausgegebenen Bandes,
der aus einer Vortragsreihe der Pädagogischen Hochschule Heidelberg hervorgegangen ist,
erweckt angesichts der Selbstverständlichkeit des schulischen Erziehungsparadigmas, wie
es sich sowohl in Landesverfassungen, Schulgesetzen, Bildungsplänen, im
erziehungswissenschaftlichen Fachdiskurs (vgl.: Binder/Osterwalder 2011, S. 61) wie in den
Debatten in Politik und Gesellschaft dokumentiert, den Eindruck provozieren zu wollen: Muss
Schule erziehen – oder sind hier nicht andere Akteure gefragt? Wäre das nicht vielleicht eine
Entlastung von Lehrerinnen und Lehrern? Kann sie es überhaupt – oder sind ihre Wirkungen
nicht eher begrenzt? Vor allem aber: darf sie es – oder begibt sie sich hier auf elterliches
Terrain? Ist eine allgemeine Erziehung, die – trotz der Bejahung von Pluralität – an einem
einheitlichen Menschenbild festhält und für alle die gleichen Werte und Ziele postuliert und
darin über die nachwachsende Generation verfügt, in der heterogenen Gesellschaft
überhaupt noch legitim? Und weiter gefragt: Gelingt es der pluralitätssensiblen Erziehung
ihrerseits dem „monistischen Paradigma“ (Ricken 2002, S. 156) zu entkommen, wenn sie
Heterogenität zwar propagiert, diese jedoch an ein gemeinsames Fundament zurückbindet
und so die Gefahr besteht, dass „unabschließbare Selbstdeutungen und damit das kritische
Offenhalten der Frage der Menschen nach sich selbst“ durch Erziehung (Ricken 2002, S.
157 u. 162) geschlossen werden? Inwiefern stellt Erziehung – auch wenn sie auf das positiv
besetzte Ziel der Mündigkeit zielt – nicht auch einen Zugriff auf den Einzelnen im Hinblick auf
seine Funktionalisierung für die Gesellschaft dar (vgl.: Ricken/Masschelein 2003)? Ist das
schulische Erziehungsparadigma, wenn schon nicht aufzulösen, so vielleicht doch auf seine
ideologischen oder gar religiösen Aspekte hin kritisch zu reflektieren (vgl.: Osterwalder 2006,
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S. 177)? Angesichts solcher Fragen ist der Erwartungshorizont an den Heidelberger
Vortragsband durchaus hoch.
Auf hohem reflexiven Niveau und vieles bedenkend führt Göppel, zentrale Diskurslinien
nachzeichnend, in seiner Einleitung (S. 9-17) in die Thematik des Bandes ein. Er weist darin
nicht nur auf den Widerspruch zwischen erzieherischem Pathos von Verfassungen und
Bildungsplänen hin (S. 11) sondern auch auf den offenbar nicht einheitlichen Begriff von
Erziehung. Zielt Erziehung auf die Vermittlung bestimmter Werte und Einstellungen bei den
Schülerinnen und Schülern oder geht es ihr vor allem um unterrichtliche Disziplin als
Voraussetzung des Lernens (S. 13)? Schließlich lässt er auch einstige Subjekte von
Erziehung zu Wort kommen (R. M. Rilke, T. Bernhard), deren Einschätzungen die (wohl
bleibende) Ambivalenz der Schule als Erziehungsinstitution verdeutlichen.
Auf die Einleitung folgen vier thematische Abschnitte. Im ersten, grundsätzlichen Teil
kommt zunächst erneut Göppel zu Wort, der sich mit der rhetorisch vielfach bemühten Figur
des Erziehungsnotstandes (S. 21-44) auseinandersetzt. Es gelingt ihm überzeugend, dessen
Sprachrohre – heißen sie nun Bernhard Bueb, Petra Gerster oder Ursula Sarrazin – anhand
einer umfassenden wie aufschlussreichen Analyse aktueller empirischer Studien zum
erzieherischen Feld, der Mythenbildung zu überführen (S. 40). Thomas Rihm reflektiert in
seinem interessanten Beitrag über Erziehung als Begleitung der Schülerinnen und Schüler
bei der Konstitution von Sinn im Hinblick auf den Lerngegenstand (S. 45-62) die Problematik
einer Erziehung zu bestimmten Haltungen mit. Sein äußerst innovatives Verständnis des
erzieherischen Handelns von Lehrerinnen und Lehrern besteht in der Bereitstellung von
„Gegenhorizonten“ zu den Sichtweisen der Schülerinnen und Schüler, die diese ihrerseits für
eine kreative Sinnproduktion nutzen können (S. 54f).
Der zweite thematische Bereich möchte aus der Sicht von Schülerinnen und Schüler
argumentieren. Die Analyse von Imbke Behnken, Sabine Maschke, Ludwig Stecher und
Jürgen Zinnecker (S. 65-87) nimmt das Selbstgefühl der nachwachsenden Generation in den
Blick. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass Kinder und Jugendliche zwischen der
Orientierung an Stabilität und Gegenwartsbezogenheit changieren (S. 85f). Ein besonders
spannendes, weil im Erziehungsdiskurs nur wenig präsentes Thema bearbeitet Volker
Krumm in seinem Beitrag (S. 89-117). Krumm stellt die Frage nach der Rückseite von
Erziehung, d. h. nach Kränkungen der Schülerinnen und Schüler durch ihre Lehrerinnen und
Lehrer (S. 89f). Die Sichtbarmachung dieses Aspekts auf der Basis empirischer
Untersuchungen durch Krumm ist äußerst begrüßenswert, weil Schülerinnen und Schüler
durch solche Erfahrungen stark geprägt werden. Gründe für Kränkungen durch Lehrerinnen
und Lehrer lägen, so Krumm, vor allem in Unterrichtsstörungen durch mangelnde Disziplin
(S. 100). Daher plädiert er für eine „gute Erziehung“ (S. 107) als Prävention gegen
Regelverstöße durch die Schülerschaft, deren Konturen er in Hartmut von Hentigs
hippokratischem Eid für Lehrerinnen und Lehrer zu finden meint (S. 109f). Durch die
Fokussierung auf sein Anliegen kann Krumm den sakralen und höchst normativen Charakter
des Eides allerdings nicht durchschauen. Von Hentig entwirft darin ein Verständnis der
Lehrperson als Seelenführer der Kinder, deren berufliches Handeln mit einem Bekenntnis
zum „Gesetz“ (S.109) des Kindes und nicht etwa mit professionellem Wissen beginnt. Auch
greift Krumm zu kurz, wenn er mangelnde Disziplin monokausal auf die mangelnde
Kompetenz der Erzieher und Erzieherinnen zurückführt und weder die vielfältigen Faktoren
von Störungen noch den Eigenwillen des Kindes berücksichtigt. Katrin Lohrmann untersucht
in ihrem Beitrag den Einfluss von Langeweile auf Unterricht und Lernverhalten der
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Schülerinnen und Schüler (S. 119-136). Ob Langeweile entsteht, hänge, so die Ergebnisse
ihrer hier vorgestellten Studie, vor allem von der Passung zwischen Inhalt und Schüler/in
sowie davon ab, wie sehr Schülerinnen und Schüler im Unterricht erfahren können, wie
kompetent sie sind. Erziehung bedeutet in diesem Kontext vor allem, dass die Lehrkraft den
Schülerinnen und Schülern bewusst macht, dass sie selbst Akteure des Lernprozesses sind
(S. 134).
Sabine Brendel und Heike Seupel eröffnen mit ihrem Beitrag über die Chancen der
Wechselwirkung zwischen Vor- und Nachmittag an der Ganztagsschule (S. 139-15) den
dritten Abschnitt, der seine Aufmerksamkeit auf Zeiten und Räume lenkt. Die Autorinnen
betrachten die Ganztagsschule als Möglichkeit, Schule im Hinblick auf eine Lebensschule zu
verändern und fordern in diesem Zusammenhang eine konsequente Rhythmisierung des
Schultages (S. 143f). Die Fragen, ob Ganztagsschule nicht für manche Schülerinnen und
Schüler eine Einschränkung von Freiheit bedeuten könnte und alternative Lebens- und
Lernorte verdrängt werden, befinden sich offenbar außerhalb des Wahrnehmungshorizonts
der Autorinnen. Weit interessanter ist hingegen der Beitrag von Anne Sliwka, die den Ansatz
des „Service Learning“ vorstellt (S. 151-162), der eine Brücke zwischen schulischem
Curriculum und Gemeinwesen schlägt und es Schülerinnen und Schülern ermöglichen
möchte, an gesellschaftlichen Projekten mit echtem Bedarf zu lernen. Positive Auswirkungen
des „Service Learning“ sind u. a. ein höheres Verantwortungsgefühl sowie eine
Verbesserung kommunikativer Fähigkeiten (S. 155). Christian Rittelmeyers Beitrag über den
erzieherischen Einfluss der Schularchitektur (S. 163-175) beschließt den dritten Teil.
Katja Staudingers Studie zur Selbsteinschätzung erzieherischer Aufgaben von
Lehrerinnen und Lehrern (S. 179-196) bildet den vorletzten Abschnitt „Anforderungen an
Lehrkräfte“. Den Ergebnissen ihrer Studie zu Folge spielt insbesondere die
Beziehungskompetenz von Lehrerinnen und Lehrern in der Schule eine zentrale Rolle, die
nicht nur in der ersten und zweiten Ausbildungsphase, sondern insbesondere während der
aktiven Berufsausübung durch Supervisionsangebote ständig erweitert werden sollte (S.
192). Im abschließenden Epilog finden sich die Statements des emeritierten Tübinger
Erziehungswissenschaftlers Ulrich Herrmann als Vertreter pädagogischer Theorie und des
Gymnasiallehrers Michael Felten als Praktiker (S. 197-204).
Konnte der Band die geweckten Erwartungen befriedigen? Wohl nur zum Teil. Die
wenigsten Beiträge stellen sich dezidiert den drei genannten Fragen, setzen gar mehrheitlich
ein „Muss“ unhinterfragt voraus. Jedoch: Göppels Dekonstruktion des Erziehungsnotstands
wie der tatsächlichen Möglichkeiten der Schule, erzieherische Wirksamkeit zu entfalten,
relativiert das schulische Erziehungsparadigma erheblich und weist damit darauf hin, dass
die Schule sich auf ihre eigentliche Stärke, das Unterrichten, konzentrieren sollte. Und
immerhin: Rihms Erziehungsverständnis zeigt sich sensibel in Bezug auf das „Darf“. Er
entwickelt sein Modell von Erziehung durch Lehrerinnen und Lehrer konsequent aus dem
Lerngegenstand und der damit verbundenen Wertung, so dass Sinn- und Werteproduktion
bei Kindern und Jugendlichen, wie von Norbert Ricken gefordert, in erster Linie auf Sozialität
beruhen und dadurch grundsätzlich „flüssig“ oder offen bleiben können (Ricken 2002, S. 162
u. 168). Allerdings stellt sich keiner der Beiträge wirklich die Frage, ob Schule erziehen dürfe.
Interessanterweise wird auch das „Kann“ kaum beantwortet. Denn wenn Schule erziehen
muss – wovon offenbar alle ausgehen –, dann wäre doch zu bilanzieren, ob sie diese
Forderung in der Realität einholen kann. Abgesehen von Sliwkas Beitrag über „Service
Learning“, der empirisch positive Veränderungen nachweist oder Rittelmeyer, der zeigen
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kann, dass Schulgebäude Einflüsse auf das Lernen haben, bleiben die anderen Autoren
eher bei der Aufzählung von Bedingungen des Gelingens stehen ohne die angekündigten
Fragehorizonte tatsächlich abzuschreiten. Kants eingangs genanntes Diktum über die
Notwendigkeit von Erziehung mag auch in Zukunft noch gelten. Ob aber die Schule in einer
heterogenen Gesellschaft Erziehung monopolisieren darf – was sie zumindest semantisch
tut, wenn sie sich als Lebensschule (S. 198) entwirft – ist mit Recht in Frage zu stellen. Nicht
nur, weil sie an einer einheitlichen Anthropologie festhält, die längst ihre reale Basis verloren
hat (Baumann 2000/2003), sondern auch, weil sie als öffentliche Schule über viele, für die
Zukunftsgestaltung womöglich vielversprechende Wissenskorpora oder Praxen nicht
verfügen kann. Damit Kinder und Jugendliche aber die Chance haben, diese Wissensformen
kennenzulernen und sich in diesen Praxen auszuprobieren, um sich dann auch gegenseitig
zu bereichern, muss ihnen die Schule auch Zeit für ihre Familien, Peergroups, Vereine,
Jugendverbände oder religiösen Gemeinschaften lassen.
(Dr. Alexander Maier)
Bibliographie:
Bauman, Zygmunt (2000/2003): Flüchtige Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Binder, Ulrich und Osterwalder, Fritz (2011): Wozu Schule? Neuere schultheoretische
Perspektiven. In: Stephanie Hellekamps et al. (Hg.): Schule – Handbuch der
Erziehungswissenschaft, Bd. 3. Paderborn: Schöningh, S. 55-64.
Kant, Immanuel (1803/1960): Über Pädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Osterwalder, Fritz (2006): Die Sprache des Herzens. Konstituierung und Transformation der
theologischen Sprache der Pädagogik. In: Rita Casale et a. (Hg.): Methoden und
Kontexte. Historiographische Probleme der Bildungsforschung. Göttingen: Wallstein, S.
155-180.
Ricken, Norbert und Masschelein, Jan (2003): Do we still need the concept of Bildung? In:
Educational Philosophy and Theory 35, H. 2, S. 139-154.
Ricken, Norbert (2002): Bruch mit dem Einen: Differenz – Pluralität – Sozialität.
Anmerkungen zum deutschsprachigen Diskurs einer Philosophie der Erziehung. In:
Jahrbuch für Bildungs- und Erziehungsphilosophie, Bd. 4. Hohengehren: Schneider, S.
146-176.
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