LEBEN Wer bin ich? – Ich bin wer! Wie sehen sich behinderte Menschen selbst? Was denken sie über ihre Behinderung und welchen Stellenwert hat diese in ihrer Identität? Wie vielfältig die Antworten auf diese Fragen sein können, zeigen wir am Beispiel einer Frau mit Lernschwierigkeiten aus Weinfelden und im Interview mit einem Psychologen. Text: Susanne Schanda – Fotos: Vera Markus Susanne Rutishauser ist eine engagierte Frau für die Sache der Men- letzende Angriffe durch Gleichaltrige kaum wehren. Mit der Zeit schen mit Behinderung. Den Begriff lehnt sie rundweg ab: «Ich bin hat sie allerdings gelernt, damit umzugehen. «Je nachdem spreche nicht behindert. Ich bin ein Mensch mit Lernschwierigkeiten», sagt ich dann mit jemandem in der Wohngemeinschaft darüber, oder sie selbstbewusst. Dennoch kann sie es nicht ganz vermeiden, den wenn niemand da ist, höre ich Musik, um mich zu beruhigen.» für sie diskriminierenden Begriff hin und wieder zu verwenden, da alternative Bezeichnungen oft umständlich und auch nicht präziser Behinderung nicht explizit thematisiert sind als eben «behindert». Zusammen mit der Gruppe Mitsprache Als jüngste von drei Schwestern ist Susanne zuhause das Nesthäk- Thurgau will sie demnächst vors Bundeshaus gehen, um dort auf die chen gewesen oder, wie sie selbst mit einem Schmunzeln sagt, «der Anliegen von Menschen mit Handicap aufmerksam zu machen. Hahn im Korb». «Meine Schwestern waren manchmal eifersüchtig, Die 38-Jährige erwartet uns am Bahnhof Weinfelden. «Ich bin weil ich verwöhnt wurde.» Ihr Handicap geht auf einen Unfall un- Susanne», sagt sie und streckt uns ihre Hand entgegen. Fürs Foto- mittelbar nach der Geburt zurück. Im Spital habe sie sich an etwas shooting posiert sie bereitwillig vor den Gleisen, auf der Bahnhof- verschluckt und sei fast erstickt. Der Sauerstoffmangel habe zu ei- treppe und beim Velo-Unterstand hinter dem Bahnhof. Dabei fällt nem Hirnschaden geführt, sagt ihr Vater Hans Rudolf Rutishauser. ihr die 18-jährige Madeline Stuart aus Australien ein, die als Model Für ihre Eltern waren die ersten Lebenstage ihrer Tochter ein Ban- mit Down-Syndrom bekannt wurde. «Das wäre zwar nichts für mich, gen um Leben und Tod. «Wir waren glücklich, dass sie überlebte», aber ich finde es super, dass es das gibt.» sagt ihre Mutter Lina Rutishauser. Über die Behinderung hätten sie sich damals noch keine Gedanken gemacht. Sozial gut vernetzt Für die Identitätsbildung jedes Menschen ist es wichtig, vom sozialen Umfeld angenommen und geschätzt zu werden (vgl. Interview Seite 12). Susanne Rutishauser ist in ihrer Gemeinde gut integriert und hat zahlreiche Freundinnen und Freunde. «Weinfelden ist wie «Das kam dann ganz von selbst, denn Susanne wollte immer das Gleiche machen wie ihre Schwestern, und da mussten wir oft sagen, das geht nicht.» ein Dorf», erklärt sie. «Und gerade das gefällt mir so. Mit den Verkäuferinnen in der Migros bin ich per Du, und ich habe hier viele Dass sie sich geistig langsamer entwickelte als ihre Schwestern oder Bekannte, mit denen ich mich unterhalten kann.» Und wie um dies gleichaltrige Kinder, war lange kein Thema in der Familie. «Wir zu beweisen, biegt eine Frau um die Ecke, die ihr fröhlich zuruft: nahmen sie überall hin mit, wir machten alles zusammen», sagt Hans «Hallo Susi, wie geht’s?» Rudolf Rutishauser. Sie hätten keine Notwendigkeit gesehen, die Für das Gespräch hat Susanne Rutishauser das genossenschaftlich Behinderung explizit zu thematisieren. «Das kam dann ganz von geführte Restaurant Frohsinn vorgeschlagen, wo sie bis vor kurzem selbst, denn Susanne wollte immer das Gleiche machen wie ihre in Küche und Service gearbeitet hat. Mit den Menschen im Froh- Schwestern, und da mussten wir oft sagen, das geht nicht.» sinn ist sie immer noch freundschaftlich verbunden: «Tschau Ste- Den Kindergarten durfte sie noch zusammen mit ihrer älteren fan», begrüsst sie ihren ehemaligen Kollegen und führt uns zielstre- Schwester besuchen, doch mit sieben kam sie in eine Sonderschule big an einen Tisch, als sei sie hier die Hausherrin. mit Internat, weil die Eltern dachten, sie wäre in der Regelschule Wie sieht sich Susanne Rutishauser selbst? «Ich bin ein fröhlicher überfordert gewesen. «Da habe ich dann schon gemerkt, dass etwas Mensch, aber ich kann stinksauer werden, wenn mich jemand ver- mit mir anders ist», sagt Susanne Rutishauser. Ihr sei klar geworden, ruckt macht.» Das kam früher öfter vor, wenn jemand sie anstarr- dass sie nicht alle ihre Träume verwirklichen könne. «Ich wollte te oder «behindert» nannte. «Manchmal haben mich Schüler in der immer in der Luft arbeiten», erinnert sie sich heute, «denn ich Migros angepöbelt. Ich fühlte mich ausgeschlossen. Das fand ich fliege so gerne. Oder etwas im Büro.» Aber da müsse man Fremd- einfach nur blöd, saublöd!» Schon nur, wenn sie daran denkt, ärgert sprachen können. Englisch habe sie nach einem halben Jahr aufge- sie sich wieder. Als Kind konnte sie sich gegen Ablehnung und ver- geben. 10 – ins ie m e , M ä r z 2016 16_01_insieme_DE_ {DE}.indd 10 16.03.16 15:52 Verreisen und immer wieder heimkehren: Susanne Rutishauser im Bahnhof Weinfelden. i nsi eme, M ä rz 2016 – 11 16_01_insieme_DE_ {DE}.indd 11 16.03.16 15:52 LEBEN Susanne Rutishauser scheint immer gespürt zu haben, wie wichtig Autonomie und das soziale Umfeld für das Selbstvertrauen sind. Nach einer zweijährigen Anlehre im Bereich Küche und Haushalt und einer Vollanstellung in einer Institution für Menschen mit schweren Behinderungen und Verhaltensauffälligkeiten hat sie bald die Chance gepackt, im Restaurant Frohsinn in Weinfelden und damit im ersten Arbeitsmarkt zu arbeiten. Nach zwölf Jahren in Küche und Service sei ihr dann der Stress in der Mittagszeit aber doch zu viel geworden. Jetzt arbeitet sie in einem 60-Prozent-Pensum als Verkäuferin im Bio-Laden des Heilpädagogischen Zentrums Ekkharthof in Lengwil, wo der Leistungsdruck weniger stark ist und sie mehr Pause machen kann. Suche nach Herausforderungen und den eigenen Grenzen Auch beim Wohnen sucht die kontaktfreudige Frau immer wieder neue Herausforderungen. Allein in Weinfelden ist sie schon fünf Mal umgezogen. Sie fühlt sich zwar wohl in der betreuten Wohngemeinschaft in Weinfelden, wo sie zweieinhalb Zimmer für sich hat und nur Küche und Bad mit den anderen teilt. Die Betreuerin Auch wenn Susanne Rutishauser selbstständig wohnt und zur Arbeit fährt – auf INTERVIEW «Die Behinderung ist bloss ein Teil der Identität, aber sie macht diese nicht aus» Für behinderte Menschen ist die Behinde- wird es mehr und mehr mit der Welt Die Jugend ist ein Schlüsselmoment. In rung Teil ihrer Identität. Jedoch ein Teil, der ausserhalb konfrontiert. Etwa durchs diesem Alter wird auch die Behinderung nicht ohne Weiteres akzeptiert wird. Arnaud Fernsehen, die Schule und die Nachbarn. verstärkt wahrgenommen, weil dies die Cuilleret, Psychologe und Experte in der Phase ist, in der wir uns unserer Möglich- Begleitung von Menschen mit Trisomie 21, Heisst konfrontiert, dass ihnen ihre keiten und Grenzen bewusst werden. Die über komplexe Fragen der Identität. Besonderheit, ihre Behinderung durch behinderte Person muss sich einem Gefühl die anderen bewusst gemacht wird? des Verlusts stellen: Sie wird gewahr, dass Wir Menschen sind höchst sensibel. Wir sie nicht alles machen kann und dies wegen spüren unser Umfeld und den Platz, den ihrer Behinderung. Auch sie sucht ihren wir darin einnehmen. Das gilt für Men- Platz, eine Zugehörigkeit, soziale Bezugs- Arnaud Cuilleret, in welchem Alter schen mit Behinderung genauso. Sie haben punkte. Dieser Moment kann emotional bilden wir unsere Identität? kein Problem damit, ihre Gefühle wahr- heftig sein. Aus diesem Grund sollte man Das ist ein lebenslänglicher Prozess. Im zunehmen, aber damit, diese Gefühle zu ihn möglichst gut vorbereiten. Lauf der Jahre sammeln wir Erfahrungen, identifizieren und zu benennen. Es kommt die unsere Identität bilden und differenzie- der Moment, an dem sie sich ihrer Beson- Wie können die Eltern dies ren. Mit der Sozialisation, besonders in der derheit bewusst werden. Dieser Moment am besten tun? Schulzeit, macht die Identität einen grossen und die Art und Weise, wie sie dies wahr- Ich empfehle, die Behinderung beim Entwicklungsschritt. Die Adoleszenz ist nehmen, variiert von Menschen zu Mensch. Namen zu nennen, denn sie macht einen ein Schlüsselmoment. Die Art der Behinderung und die zugehö- Teil der Identität der Person aus. Am rigen Krankheiten oder Beschwerden be- besten ist es, so früh und so natürlich als Geschieht dies bei Menschen mit geisti- einflussen diese Bewusstwerdung ebenfalls. möglich darüber zu sprechen. Etwa zu gen Behinderung auf die gleiche Art? Aber sie geschieht bei allen. sagen: Du bist ein kleiner Junge und du Interview: France Santi hast dieses oder jenes Handicap. Dabei ist Ja, behinderte Menschen durchlaufen die gleichen Phasen. Auch das behinderte Kind Wie wird die Behinderung in wichtig, die Identität der Person nicht auf ist zuerst im Kreis seiner Familie, dann der Jugend wahrgenommen? ihr Handicap zu reduzieren! Das ist für 12 – ins ie m e , M ä r z 2016 16_01_insieme_DE_ {DE}.indd 12 16.03.16 15:52 braucht sie nur gerade beim Koordinieren von Einnahmen und Ausgaben. Doch sie sucht noch mehr Unabhängigkeit: «Ich möchte in Zukunft selbstständig in einer eigenen Wohnung wohnen, so wie eine Freundin von mir.» Für eine Wohnung im selben Haus hat sie sich auf die Warteliste setzen lassen. Obwohl Susanne Rutishauser ein enges Verhältnis zu ihren Eltern und Geschwistern behalten hat, werden mit zunehmendem Alter die Beziehungen zu anderen Menschen mit Handicap wichtiger. So hat sie auch ihre kleinen Geheimnisse, von denen die Eltern nichts wissen. Abends geht sie oft mit den Mitbewohnerinnen und -bewohnern ihrer WG aus oder macht Sport im Damenturnverein, im Fitnesszentrum oder mit PluSport, wo sie regelmässig schwimmt. «Ab und zu gehe ich abends mit Kollegen in eine Bar, um ein Glas Wein zu trinken und zu reden.» Wie sie so erzählt, von ihren Plänen und ihrem intensiven Leben, tritt ihre Lernschwierigkeit fast ganz in den Hintergrund. Dennoch, wie ist es für sie, über ihr Leben und ihr Selbstverständnis als Frau mit einem Handicap befragt zu werden? Da wird sie still, lächelt ihre Eltern kann sie immer zählen. verlegen und überlegt: «Was soll ich da sagen?» • die Eltern nicht immer einfach. Vielleicht nicht der Behinderung. Diese darf nicht mit ihm Dinge zu unternehmen, die seine haben sie Schuldgefühle, die ein freies und zum Zentrum der Beziehung werden. Die Entfaltung fördern. entspanntes Gespräch über diese Themen Behinderung ist zwar eine Eigenart der beeinträchtigen. Daran sollten sie arbeiten. Person, ein Teil der Identität, aber es macht Und wenn die Eltern trotz allem Denn sie sind es, die ihr Kind bei der sie nicht aus. Das ist nicht einfach ange- Mühe haben? Entwicklung einer positiven Identität am sichts der komplexen Wirklichkeit: die Ich rate ihnen, sich an Elternvereinigungen besten unterstützen können. Das ist eine Blicke die Leute, der administrativen zu wenden, um mit anderen Eltern Erfah- schwierige Arbeit, die einen langen Atem Hürden, die institutionellen Fragen. rungen auszutauschen. Im Fall einer Krise, wenn kein Dialog mehr möglich ist, sollte braucht. Was heisst das praktisch, dem Kind man sich an eine dritte Person wenden. Es Kann man darüber sprechen, wenn wohlwollend begegnen? muss nicht ein Psychologe sein, aber eine das Kind noch ganz klein ist? Es geht darum, Perspektiven zu öffnen, das Therapeutin oder ein Therapeut oder eine Das geht, allerdings unter der Bedingung, Potenzial des Kindes zu entdecken statt andere Person, der das Kind vertraut. dass man die Behinderung nicht stigmati- sich auf seine Defizite zu konzentrieren. siert. Das Kind braucht die ganze Liebe Man sollte dem Kind Liebe zeigen, ohne Was kann man tun, wenn das Kind und Unterstützung der Eltern, damit es die Probleme zu verleugnen. Manchmal seine Behinderung verleugnet? später die Herausforderungen bewältigen muss man sich zugestehen, traurig oder wü- Jeder Fall ist unterschiedlich und benötigt kann. tend zu sein. Man darf ihm auch sagen, dass eine Abklärung der Gründe. Es kann sein, die Behinderung mühsam ist – für das Kind dass die Bewusstwerdung bereits im Gang Wie vermeidet man es, das Kind zu ebenso wie für die Eltern. Weil sie gewisse ist, aber für die Person noch nicht «akzepta- stigmatisieren oder zu verletzen? Dinge verunmöglicht. Aber sie verunmög- bel». In diesem Fall empfiehlt es sich, zu Es ist wichtig, einen ruhigen Moment zu licht nicht alles. Sie macht es nicht unmög- beruhigen, ohne dem Problem auszuwei- wählen, um darüber zu sprechen. Vor allem lich, Freunde und Freundinnen zu haben, chen und etwas Zeit verstreichen zu lassen. sollten die Eltern dem Kind wohlwollend glücklich zu sein. Und vor allem hindert sie Nach einer Weile kann man die Frage begegnen – und ich betone dem Kind, einen nicht daran, das Kind zu lieben und wieder aufgreifen. i nsi eme, M ä rz 2016 – 13 16_01_insieme_DE_ {DE}.indd 13 16.03.16 15:52
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