Integrativer Kindergarten die gute Lösung

Integrativer Kindergarten
die gute Lösung
zur Förderung behinderter
und
nicht behinderter Kinder
aus heilpädagogischer Sicht?
Mostar - im Mai 2oo6 – Dr. Dieter FISCHER
Ak. Direktor – Universität Würzburg (Deutschland)
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Kinder mit Behinderungen
- Kinder mit besonderen Bedürfnissenim Integrativen Kindergarten
(1) Vorbemerkungen
(2) Das behinderte Kind – oder:
das behinderte Kind?
(3) Integration – mehr als Modewort?
(4) Anforderungen
1.
2.
3.
4.
5.
6.
an das behinderte Kind
an die Eltern des behinderten Kindes
an die „anderen“ Kinder
an die Eltern der nicht behinderten Kinder
an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
an die Räumlichkeiten und Ausstattung
(5) Ziele, Inhalte und Methoden
(6) (Heil)pädagogische Grundsätze
(7) Schluss – man darf auch scheitern dürfen
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Jeder Versuch eines Einzelnen für sich zu lösen,
was alle angeht, muss scheitern.
Friedrich DÜRRENMATT (aus den „Physikern“)
...zu anderen Menschen zu gehen, ist wie eine andere Welt berühren. Die Berührung, der Kontakt ist ein Geschenk Gottes. Daher
besteht seit Anbeginn der Welt der Wunsch hinüber zu gehen und
das Ende zu sehen, wo ich "ich nicht bin".
(aus dem Vorwort zu einer Broschüre über „Die Brücke von Mostar“
(o) Das voraus
Dieser in Mostar durch das Diakoniewerk Gallneukirchen entstandene Kindergarten
arbeitet „integrativ“ – d.h. Kinder unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher
Begabung arbeiten, leben und lernen zusammen. Dabei ist jede Aufgabe für sich, die
der Begabung und Behinderung wie auch die der unterschiedlichen nationalen und
religiösen Herkunft schon schwer genug. Und trotzdem vereint sich alles unter einem
einzigen Gedanken – dem der Integration, der Versöhnung und des Stiftens von Frieden.
Lassen Sie mich das bitte erklären:
Menschen, die durch Kriegseinwirkungen tödlich oder auch lebenslang und dauerhaft
verletzt wurden, gaben das Moment des Verletzt-Werdens unmittelbar an ihre Familie, an ihre Nachbarn und ihr Volk weiter, und jene, deren Häuser dem nicht enden
wollenden Kugelhagel ausgesetzt waren, erlebten sich durch jeden der hier eintreffenden Schüsse zusätzlich an Körper, Seele und Geist verletzt.
Selbst die neu errichteten Häuser atmen noch jene schreckliche Erfahrung als Teil
ihrer meist ganz persönlichen Geschichte, weil sie selbst noch keine andere Geschichte kennen. Verletzt worden zu sein ist das große Thema – und verletzt worden
zu sein, ist aber auch das Thema von Menschen, die direkt oder auch nur mittelbar
von einer Schädigung, einer Behinderung oder einer schweren Krankheit be- und getroffen wurden.
Verletzungen erfahren zu haben und Verletzungen aufzuarbeiten, gilt als eines der
großen Themen der Heilpädagogik – neben und gleichzeitig als Ausdruck der konkreten Erziehungs- und Förderarbeit. Integration ist nie nur eine „Aktion nach oder
von außen“, sondern immer auch eine Bemühung um „inneren Frieden“, eine Versöhnung mit sich selbst. Heilpädagogische Arbeit ist immer friedenstiftende Arbeit
für deren Adressaten wie auch für die Gesellschaft Zeichen gebend schlechthin – daher sollte dieser Kindergarten hier in Mostar nach meiner festen Überzeugung nicht
„Integrativer Kindergarten“, sondern auf Grund seiner doppelten Aufgabe „FriedensKindergarten“ oder verkürzt auch nur „Friedens-Garten“ heißen und damit hier vor
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Ort wie auch weit darüber hinaus. Er ist vergleichbar mit einem Leuchtfeuer in dunkler Zeit - und wird damit Beispiel für andere Suchende in dieser Welt.
(1) Vorbemerkungen
Es bedeutet für mich eine große Ehre, nach Mostar, in diese ereignis- und traditionsreiche Stadt eingeladen zu werden und zusammen mit Ihnen über die Möglichkeiten
und Grenzen eines Kindergartens nachzudenken, der sich als „integrativ“ versteht
und dem es ein erklärtes Anliegen ist, Kinder aus unterschiedlicher Herkunft, mit unterschiedlichen Begabungen wie auch Behinderungen aufzunehmen, sie optimal zu
erziehen und zu fördern, so dass sich ihre Lebenschancen spürbar erhöhen.
Es sind schon viele Jahre her, dass ich in Mostar war – damals im Rahmen eines Urlaubs; umso schmerzlicher waren dann all die schlimmen Nachrichten während des
Krieges für uns alle und jetzt umso bemerkenswerter die vielen Aufbauleistungen all
überall.
Man sagt, einem Volk, einem Land oder eben auch einer Stadt geht es gut, wenn es
den Kindern gut geht. Aber was heißt schon „gut gehen“? Sicher ist es u.a. vor allem
dieses: Nicht geschlagen zu werden, Vater und Mutter zu haben, zufriedene Eltern zu
erleben, nicht hungern zu müssen, ausreichend medizinisch versorgt zu sein, keine
Angst vor Krieg oder sonstigen Überfällen zu erleiden – und allem voran eine adäquate Erziehung und Bildung zu genießen, um einer sicheren Zukunft entgegen zu
gehen.
Dass man mehr oder weniger stillschweigend – und ich sage das ohne jeden Vorwurf(!) – bei solchen Überlegungen dennoch meist nicht „alle Kinder“ meint, sondern vorrangig nur die tüchtigen und geschickten, die flinken und die begabten, fällt
meist gar nicht auf. Erst wenn man als Familie selbst betroffen ist, gehen einem hierzu die Augen auf. Und es beginnt das, was ein Leben mit einer Behinderung ein Leben lang auszeichnet – die oft so ermüdende wie auch ernüchternde Suche.
Aber es gibt eben doch die vielen benachteiligten, die vergessenen und immer wieder
auch die versteckten Kinder – an die kaum jemand denkt; und wenn die Eltern dies
tun, dann geschieht es sorgenvoll und angstbesetzt – selten fröhlich, zuversichtlich
und wohlgemut.
Behinderungen und langanhaltende Krankheiten sind etwas Schwieriges, aber noch
weitaus schlimmer ist das Schicksal, unter den anderen als ‚nichts’, bestenfalls als
„Stein des Anstoßes“ zu gelten, am liebsten unsichtbar zu sein und an dieser statt versteckt zu werden.
Ich möchte Eltern, wo immer ich kann, ermutigen, ihre Kinder selbstbewusst zu zeigen, mit ihnen in die Öffentlichkeit zu gehen und dabei ihre Scheu zu über-winden,
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aber sich auch über die schiefen Blicke, das Reden hinterm Rücken und die oft verletzenden Bemerkungen hinweg zu setzen, so schwer es auch sein mag. Sie geben
damit ihrem behinderten Kind nicht nur „die Bühne fürs frei“, sondern „setzen“ dabei
ihr Kind in einem ganz und gar positiven Sinne der Welt „aus“. Ein Kind auf dem
Arm der Mutter, die es vorwiegend nur schützen will, kann sich auf Dauer nicht
wirklich entwickeln.
Doch nicht ihnen allein ist die Aufgabe aufgetragen. Wir als Gesellschaft können entscheidend dazu beitragen, diesen Schritt in die Öffentlichkeit wesentlich zu erleichtern.
(2) Das behinderte Kind – oder: das behinderte Kind?
Bevor wir uns mit dem Konzept der „Integration“ bzw. des „Integrativen Kindergartens“ auseinandersetzen, ein paar Gedanken zum „behinderten Kind“.
An sich besteht diese Formulierung „behindertes Kind“ aus zwei Worten. In Wirklichkeit aber realisieren die meisten nur ein Wort – nämlich „behindert“. Es sticht
wie ein Dorn hervor und hat eine solche Stahlkraft, dass manche vergessen, dass es
um immer auch um ein Kind geht – und zusätzlich um einen Jungen oder um ein
Mädchen, dass dieses Kind einen Namen hat und mit diesen Namen, nicht mit der
Behinderung in die Welt gerufen wurde. Die Behinderung bringt es als eine seiner
Lebensbedingungen mit, manchmal allerdings entsteht die Behinderung erst durch
die umgebenden Menschen selbst – durch unser Sorgen, unser Erschrecken, unsere
Ablehnung und Stigmatisierung, durch unsere Besonderung: Wir haben ein „besonderes Kind“. Das mag sein, doch die „Besonderung“ bezieht sich nie allein auf die
Behinderung, sondern immer auch auf die Botschaft, die mit diesem Kind in unser
Leben tritt. Es hat uns etwas auszurichten – und es hat selbst damit nicht selten Mühe, weil ihm der Zugang aus dem Mutterleib heraus in unsere Welt so schwer gemacht wird.
Wir können nicht wie der Vogel Strauß den Kopf in den Sand strecken und so tun, als
gäbe es die Behinderung nicht, wir dürfen aber noch viel weniger vergessen, dass
dieses behinderte Mädchen, dieser behinderte Junge allem voran ein KIND ist.
Ein KIND ist die Verheißung schlechthin – und mit ihm beginnt das Leben quasi
nochmals neu. Das ist ein Urbedürfnis von uns Menschen, nochmals neu anzufangen
– ein Kind tut das stellvertretend für uns. Ein Kind entwickelt sich, es ist aus dem
Mutterleib auf den Weg in die ihm völlig unbekannte Welt – und wir sind dabei Türöffner und Begleiter. Anfangs wird einem noch nicht bewusst, dass es letztlich, ganz
auf uns ausgerichtet, auf dem Weg ist von uns weg hin zu sich und seiner Welt, die
am Ende immer weniger mehr die unsere ist, sondern ganz die seine wird.
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Eine Behinderung unterbricht nicht nur diese Hoffnung oder zerstört diese sogar,
sondern erschwert auch die von uns vorgedachte und ersehnte Entwicklung. Unser
Wissen ist dabei ein ganz besonderer Hoffnungskiller. Bei einem als gesund erlebten
Kind ist die „ganze Welt“ begeistert und bricht in Jubel aus: Gott sei Dank, so ein
schönes Kind!; wird eine Behinderung oder Schädigung erkennbar, heißt es oft nur
noch „Oh, Gott – warum dieses Kind!?“
Unser laienhaftes Wissen, nur manchmal durch Erfahrung gewonnen setzt ein,....
dass Kinder mit Down-Syndrom sehr oft Herzprobleme haben und sich mit vielen
Erkältungskrankheiten herum plagen müssen, dass hirngeschädigte Kinder eine hohe
Anfallsbereitschaft eigen ist und Kinder mit leichten Hirnschädigungen durch Wahrnehmungsprobleme auffallen und sich diese dann später u.a. auf die Lernleistung negativ niederschlagen.
Unser ganzes Denken im Zusammenhang mit einer Behinderung nimmt zunehmend dunkle Farben an – in Deutschland sprechen wir von „grübeln“ - und dieses vertellt von Beginn an den an sich von hellem Licht der Hoffnung und Sehnsucht überstrahlten Weg eines Kindes in diese unsere Welt.
Wir alle, vor allem aber Kinder und noch mehr Kinder, die es schwer im Leben haben, brauchen so dringend wie Luft, Wärme und Nahrung unsere Zuwendung und
wertschätzende Bestätigung in ganz besonderer Weise.
WILL-KOMMEN zu sein – das ist das Schüsselwort. Das deutsche Wort setzt sich
aus zwei Silbe zusammen – aus wollen und aus kommen. Übersetzt heißt das: ich
will, dass du kommst.
Dieses WILLKOMMEN sollte von der Geburt an gesprochen werden – nicht nur von
der Mutter, sondern von all den anderen in der Familie; und dieses Wort bedarf der
ständigen Wiederholung an all den weiteren Tagen, Wochen und Monaten – und dieses Wort ist der Beginn jeglicher Förderung, Erziehung und Bildung – sei es in einem
speziellen oder integrativen Kindergarten.
Das WILLKOMMEN wird man sagen, also in Worte gleiten, doch dieses Wort muss
man auch erleben – ganz konkret und körperlich wahrnehmbar.
Man erlebt das Willkommensein, wenn man auf Situationen trifft, die für einen stimmen; wenn man mit Sprache, mit Gesten und mit Freundlichkeit empfangen wird;
willkommen erfährt man jeweils dann, wenn man für sich Aufgaben vorfindet, die
man leisten und für die man Verantwortung übernehmen kann – und willkommen
erlebt man vor allem dann, wenn nicht primär nach Fehlern und Defiziten gesucht
wird, sondern nach Möglichkeiten, das eigenen Können. die jeweiligen Bedürfnisse,
Wünsche und Interesse zu leben. Eine Behinderung mit „besonderen Bedürfnissen“
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zu übersetzen, tauscht sicherlich jene dunkle Farbe gegen eine freundliche aus. Der
Schmerz und die Verletzungen bleiben dennoch als Wirklichkeit bestehen.
Noch eine letzte Anmerkung zum KIND-Sein:
Kinder wollen und müssen sich entwickeln (dürfen). In ihnen schlummert ein genetisches Programm, das ihnen zur Entfaltung ihrer Kräfte (nicht nur ihrer Fähigkeiten) hilft – Voraussetzung allerdings ist, dass zum einen hinreichend physiologische
und psychische Potentiale gegeben sind, zum anderen allerdings benötigen sie Impulse durch eine anregende Umwelt und Umgebung von außen. Dabei sind sog. sensible
Phasen besonders zu beachten – d.h. eine möglichst frühe Stimulierung durch vielfältigen Körperkontakt und Zuwendung durch Ansprechen sind dabei unverzichtbar.
Liegen gelassene oder auch nur vernachlässigte Kinder erleiden zusätzliche Behinderungen wie auch solche, die vom ersten Tag an unzählige Stigmatisierungen erdulden.
Nochmals: Kinder müssen, ja wollen sich entwickeln - und Kinder mit vorhandenen oder drohenden Behinderungen haben ganz besonderes Anrecht auf Entwicklung
und den dazu notwendigen Anregungen und Hilfen.
Vor aller Überlegung um Integration steht die Gewährleistung jener optimalen Entwicklung. Wir kämpfen dabei nicht gegen die Behinderung, sondern immer für die
Entwicklung, für Lernen und später für Bildung. Pflege, Therapie und optimale Versorgung bilden den Rahmen, Hinwendung das Fundament und Liebe die Luft zum
Atmen.
Die „beste Medizin“ gegen eine Behinderung ist die Unterstützung der Entwicklung des jeweiligen Kindes durch Anerkennung und Wertschätzung vom ersten
Tage an.
Zur Erinnerung an dieses wunderbare Phänomen der Entwicklung ein paar Hinweise, die weder durch eine Krankheit noch durch eine Schädigung oder Beeinträchtigung außer Kraft zu setzen sind
ENTWICKLUNG
Nach Lotte Schenk-Danzinger (1967)
"Die Reifung vollzieht sich vielmehr in enger Verknüpfung mit Lernprozessen und
viele Veränderungen sind allein oder vorwiegend durch Lernprozesse zu erklären.
Anlagen entfalten sich nach Art und Ausmaß nicht zwangsläufig in einer genetisch
genau bestimmten Weise, sondern realisieren sich nur in der Auseinandersetzung mit
lernmäßigen Herausforderungen".
"Entwicklung ist ein komplexer, fortschreitender Prozess von Wechselwirkungen
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zwischen der strukturellen Reifung (Altersreife), den individuellen genetischen Anlagen, den Umwelteinflüssen und schließlich der Art und Intensität der individuellen
Selbststeuerung".
An der Entwicklung als einem integrierenden Prozess sind dementsprechend drei Faktoren wesentlich beteiligt:
•
•
•
Genetische Faktoren
o strukturelle Reifung zum erwachsenen Menschen,
o Entfaltung individuell- genetischer Anlagen
Soziokulturelle Faktoren
o Kulturkreis
o weitere Umwelt (Volk, Stadt oder Land, Sozialschicht usf.),
o engere Umwelt (Familie, Schule, Freundeskreis).
Innerseelische, dynamische Faktoren:
o bewusste Selbststeuerung (Lebenspläne, Motivationen, Selbsterziehung,
Streben nach Selbstverwirklichung usf.),
o unbewusste dynamische Prozesse (z.B. Entstehung von Leitlinien nach
Adler, Bewältigung des Trieblebens in Auseinandersetzung von Es- IchÜber-Ich, mit Hilfe von Abwehrmechanismen nach Freud).
o
Merkmale des Entwicklungsgeschehens sind:
1. DIFFERENZIERUNG
o Ausgliederung der Einzelfunktionen, der Details
o
2. INTEGRATION
o zunehmende Fähigkeit, vorher isoliert Erlebtes im Zusammenhang zu
sehen
o
3. ZENTRALISATION
o statt zufällig reaktivem Handeln Überlegung, Planung, Zielsetzung;
Wertordnung als Maßstab
o
4. SELEKTIVITÄT
o Selektion des Reizangebotes durch Struktur und Reife kognitiver Funktionen und durch erfahrungsbedingte Interessen, Zusammenhang mit individuell- genetischen Faktoren und/ oder besonderer Umweltorientierung
o
5. AUSFORMUNG von STRUKTUREN
o Ausbildung einer Folge von Strukturen des kognitiven und sozialen, des
spontanen und reaktiven Verhaltens
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o
6. IRREVERSIBILITÄT
o nicht umkehrbare Aufeinanderfolge
o
7. VERFESTIGUNG
o Ausbildung von Gewohnheiten, Vorurteilen, Meinungen (tradierte Verhaltensweisen und Werthaltungen)-> Basis des kulturspezifischen
(Recht- und Moral-) Bewusstseins.
In der Regel werden vier Entwicklungsbereiche unterschieden:
(1) Körperliche Entwicklung
Reifung, die vorwiegend genetisch programmiert ist (Reifungsgeschwindigkeit, Wachstumskurven usf.);
(2) Kognitive Entwicklung
Die Auffassung, dass zunächst ein rasches Wachstum stattfindet, welches in
der Geschwindigkeit mit zunehmendem Alter langsam abnimmt, konnte in
Längsschnittuntersuchungen nicht bestätigt werden. Eher scheint sich heute die
Differenzierungshypothese zu bestätigen, nach der die Zahl der Intelligenzfaktoren mit zunehmendem Alter wächst, d.h. eine wachsende Fähigkeit in einem
vorgegebenen Feld zu differenzieren (analytisches und synthetisches Denken altersabhängiges Fortschreiten zu höheren Denkniveaus).
(3) Entwicklung als Sozialisierungsprozess
Hineinwachsen in die umgebende Natur und Kultur, Übernahme der Erwachsenen- und Geschlechtsrolle, Entwicklung von Einstellungen und Werthaltungen in Abhängigkeit von der personalen, sozialen und kulturellen Umwelt; aktive oder passive Auseinandersetzung mit Personen des Umfeldes und Entwicklung (bzw. Übernahme) von Verhaltensweisen des sozialen Umgangs.
(4) Entwicklung der Persönlichkeit
"Mit Persönlichkeit ist die mehr oder weniger stabile Organisation von motivationalen Dispositionen eines Menschen gemeint, die sich bildet durch die beständige Interaktion des Individuums- mit seinen physischen, kognitiven und
psychischen Möglichkeiten- und der sozialen, biologischen und kulturellen
Umwelt" (Vernooij 1981).
Zusammengefasst gilt Folgendes:
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sich entwickeln
emotionale Zuwendung - lernen - anregende Umgebung
sich bilden
das Kind
. reagieren
. erleben
. erfahren
. Bedürfnisse befrieden
. bewirken (Macht erleben)
. ausbilden von Funktionen,
Fähigkeiten und Fertigkeiten
. begreifen/hantieren
. bezeichnen/ sprechen
. begegnen/austauschen
. entdecken
. Grenzen erleben
. gestalten
Identität/Selbstbild
die Welt
. Reize
. Bedeutungen
. Information
. Quelle von Lust
. Möglichkeiten
. Aufgaben/
Situationen
. Material/Objekte
. Begriffe
. andere Kinder
. Überraschungen/
Gesetze/Regeln
. Unverfügbarkeit
. Veränderbarkeit
Fremdbild/Weltbild
Es geht also nicht so sehr in einem psychologischen Sinne um die Ausbildung, Entfaltung bzw. Differenzierung von Funktionen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, selbst
wenn diese in einer Leistungsgesellschaft noch so sehr erwünscht, hoch geschätzt
und auch dem Selbstwertgefühl von Eltern als verständlicher Wunsch dienlich sind.
Vielmehr zielt alles darauf ab, als Kind, das mit einer Behinderung oder einer lang-
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fristigen Krankheit leben muss, mit dieser, manchmal auch trotz dieser sich zu entwickeln, so dass am Ende ein möglichst stabiles und kein „beschädigtes Selbstbild“
entsteht und die Welt nicht als Feind, sondern als Partner mit eigener Gesetzmäßigkeit wahr genommen wird, man ihr entsprechend begegnet und in ihr zu leben versteht.
Dieses Ringen um die eigenen Identität erst erlaubt, der oft feindlichen und widerständigen Welt zu trauen und mit seinem Leben unter den gegebenen Bedingungen
zurecht zu kommen; doch dies sind weder Ziele, die nur einer speziellen sonder- oder
heilpädagogischen Förderung übertragen, noch einer integrativ oder kooperativ verstandenen pädagogischen Arbeit ausschließlich zuzuordnen sind.
Allerdings verschieben sich die Akzente in der konkreten alltäglichen Arbeit nicht
unerheblich. Steht bei einer speziellen Förderung in eigenen heilpädagogischen
Gruppen das behinderte Kind und sein Kontakt zur Welt im Mittelpunkt – zusätzlich mit fachkundigem Blick auf die jeweiligen Störung, Schwierigkeit oder auch
Belastung, wird sich eine integrativ verstandene pädagogische Arbeit für das gestaltete Miteinander und das solidarische Eintreten für den anderen stärker engagieren.
Die Kinder erleben dabei, wie unterschiedlich Kinder sein können, sei es vom Aussehen, von ihrem Bedürfen wie auch von ihrem Verhalten her. Sie erfahren, dass es
schön ist, anderen zu helfen wie auch geholfen zu bekommen wie auch sich bei kleinen Dingen gegenseitig zu unterstützen; und ebenso wichtig ist die Erfahrung, dass
jedes Kind seine persönlichen Gaben wie auch seine ihm eigenen Schwierigkeiten
hat, mit denen es lernen muss, umzugehen und auch auszukommen.
Identität schließt ein, sich mit jemanden, der ähnlich ist als man selbst, identifizieren
können, aber auch durch wahrgenommene wie auch gespiegelte Unterschiede das
eigene Selbstsein bewusster wahrzunehmen (sich als „rund“ zu erleben, gelingt nur
im Vergleich zu anderen, z.B. zu eckigen Formen). Und wenn man am Ende zum Ergebnis gelangt, man kann auch ganz anders leben, als man selbst ist oder sich erlebt –
z.B. mit einer Lähmung, mit einem Rollstuhl, mit einem Down-Syndrom oder mit
Anfällen – als die vielen anderen und trotzdem mit sich und der Welt Frieden schließen, dann ist das einer der wichtigsten Erträge gelungener Identität.
(3) Integration – mehr als Modewort?
Integration gilt theoretisch als Paradigma – und dies nicht nur in der Sonder- oder
Heilpädagogik, allerdings erst in den letzten 1o – 15 Jahren. Sie entstammt nicht nur
der Erfahrung her, dass wir Menschen nicht nur sehr unterschiedlich sind, sondern oft
sogar einander fremd. Diese Fremdheit kann durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe, zu einer Nation, zu einer Religion oder auch zu einem bestimmten Leistungsbereich bedingt sein, sehr wohl aber auch durch das Aussehen,
das Verhalten, durch Einstellungen und Werte.
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Für viele ist Integration aber mehr als ein Modewort oder eine Mode-Bewegung; sie
sehen darin so etwas wie einen Schlüssel zu bislang nicht erreichten Zielen. Man
setzt Hoffnungen in das neue miteinander und darin, sich einander zu gewöhnen, zumindest sich überhaupt einmal gegenseitig kennen zu lernen. Das ist schon sehr viel,
verlangt allerdings nach einer Fortsetzung im Umgang miteinander, wenn daraus ein
versöhntes Zusammenleben erwachsen soll.
So lange man unter sich bleibt, spielen Unterschiede eine geringe Rolle, wobei es
immer auch in einer normalen Familie, auf einem Dorf oder in der eigenen Verwandtschaft, oft auch in einer Schulklasse „schwarze Schafe“ gibt.
Da wir solche Abgrenzungen zur eigenen Profilierung dringend brauchen, kann man
sie nicht von Beginn an mit einer Ächtung versehen. Vielmehr geht es darum, wie
wir mit dem Erleben eines von uns unterschiedenen Menschen umgehen. Erleben
wir ihn als bedrohlich, werden wir versuchen, ihn zu umgehen, ihn auszuschalten
oder gar zu vernichten; erleben wir ihn als förderlich, bemühen wir uns, ihm nachahmend mehr und mehr ähnlicher zu werden. Sind wir uns jener innewohnenden Gefährdung bewusst, können wir zumindest akzeptieren, dass man auch gänzlich anders sein kann als man selbst; noch schöner und wünschenswerter allerdings wäre es,
ihn anzuerkennen und ihn in seiner Art, die Welt zu sehen und das Leben zu leben,
wertzuschätzen.
Basis ist und bleibt die Würde, die jedem Menschen - unabhängig von seiner Religion, seiner nationalen Zugehörigkeit, seiner Hautfarbe, seines Alters und seines Geschlecht - zukommt und die ja auch gesetzlich geschützt ist.
Doch dieses Gebot quasi „von oben“ muss sich erst im Lebensalltag verwirklichen –
und hierzu seinen Beitrag zu leisten, ist jeder Bürger eines Landes aufgerufen.
Möglichkeiten des Umgangs mit einer Behinderung als „Verschiedenheit“:
BEHINDERUNG
Anderssein und Fremdsein
Befremdung
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Bedrohung
Entmachtung
_
+
.Ausblenden
.Isolieren
.Stigmatisieren
.Vernichten
persönliche
Auseinandersetzung
.Werte
.Gewöhnung
.Verschiedenheit
.Menschenbild
.Macht
.Verunmöglichen
.Feindschaft
.Benützen
Freundschaft
.Akzeptanz
.Anerkennung
.Solidarität
.Aufgaben
den Dialog mit behinderten Menschen suchen
Die Grund- und Ausgangslage ist doch wohl die:
(1) Hier wird ein Mensch in die Welt hinein geboren, der sich auf Grund bestimmter Beeinträchtigung, Schädigung oder Krankheit nicht so entwickeln wird, dass er die für seine Entwicklung notwendige Auseinandersetzung mit der Welt hinreichend aufzunehmen vermag zusätzlich
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(2) enttäuscht dieses Kind all diejenigen, die eine andere Vorstellung konkret von diesem Kinde hatten; es irritiert aber auch jene, die ein harmonisches oder heiles Bild vom Menschen
als Person mit sich tragen - im Sinne von: solche Menschen dürfte es doch überhaupt
nicht geben. Zur Unterstützung dieser primär persönlich bedingten Ablehnung zieht man
finanzielle Argumente heran, verweist auf das Leid für das Kind und auf die nicht enden
wollenden Sorgen der Angehörigen usw. usw.
Nur eine sträfliche Verharmlosung wird diese Gegebenheit mit dem Argument vom
Tisch wischen, hier gehe es um das Anderssein oder das Fremdsein eines Menschen
– und wir müssten eben lernen, mit diesem Fremd- oder Anderssein umzugehen. Von
Verharmlosung sprechen wir deshalb, weil das explosive Moment des Fremd- oder
Anderssein verkannt wird. Verfolgen wir diese Linie weiter, erleben wir, wie schnell
sich aus das Erleben von Fremdsein in ein Befremdetsein umschlägt. Der aufsteigenden Angst auf Grund erlebter, ja lähmender Bedrohung ist nur zu entgehen,
wenn man versucht ihr auszuweichen.
Gelingt das nicht, versuchen wir, die Ursache der Bedrohung auszumachen, diese
anzugehen bzw. in Schach zu halten – und wenn auch dieses Mittel nicht greift, den
Träger der Bedrohung auszuschalten, ihn schlichtweg zu vernichten.
Beispiele aus der Geschichte sind wohl vielen vor Augen. Aktiv umgebracht in
diesem Umfang und in dieser Form wie damals werden behinderte Menschen heute
kaum mehr – angegriffen allerdings schon und „liegen gelassen“ als schwer behinderter Säugling immer öfter. („Abtreibung nach der Geburt“; Holland)
Andere milde Formen der „Vernichtung“ ist, Bildung zu verweigern, Spielsachen
zu verwehren, eigene Gottesdienste nur am Samstagnachmittag anzubieten, nur mit
Abfällen von Material oder mit getragener Kleidung diese Menschen auszustatten,
ihm die Mitgliedschaft bei einer Krankenkasse zu verweigern oder ihn von der Urlaubsliste zu streichen – all dies sind sehr subtile Formen der Tötung und der Vernichtung.
Insgesamt wegzuschauen, hinter dem Rücken von jemanden zu tuscheln, ihn geflissentlich zu übersehen – das sind ebenfalls Mittel der Vernichtung, wenn auch die
feineren, aber nicht weniger wirksam.
Wir dürfen uns aber jene Bedrohung nicht zu direkt vorstellen; dann wäre sie u.U.
fast schon einfach zu handhaben. Die als Bedrohung als erlebte Reaktion auf behinderte, sichtlich kranke und geschädigte Menschen selbst ist nur die Kehrseite dem
Erleben einer persönlichen Entmachtung. Es ereignen sich Dinge und es entwickeln
sich Situationen, die unserem Wollen und Mögen widerstehen und sich trotz intensivster ärztlicher Kunst, einer ausgeklügelten Medikamentierung, einer lang währenden Therapie oder auch nur jeder herkömmlichen Bemühung um Erziehung und Bildung im Hinblick auf ei-ne erhoffte Veränderung sich stringent verweigern.
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Wenn wir bei jenem voraus genannten Erleben von Fremdheit und Anderssein
noch an eine Gewöhnung glauben, von der oft im Kontext von „integrativen Maßnahmen“ die Rede ist und wir diese gar mit allen methodischen wie auch organisatorischen Mitteln forcieren, reicht dies bei der erlebten inneren Bedrohung nicht mehr
aus.
Man könnte kritisch zurück fragen: Kann man sich überhaupt auf einen Gewöhnungsprozess einlassen, wenn man von einer tiefen Verunsicherung als Grundgefühl
beherrscht wird?
Müsste der Weg nicht doch ein völlig anderer sein, sich nicht an den anderen zu gewöhnen oder ihm Akzeptanz und Anerkennung zukommen zu lassen, sondern sich
vielmehr mit sich und seinen Wertvorstellungen auseinander zu setzen und dies als
singuläre Chance für das eigene „Werden als Person“ zu begreifen.
Gleichzeitig gilt es aber auch dem nachzugehen, welch eine Stellung man zu sich
selbst hat, ob man in Freundschaft oder Feindschaft mit sich lebt, ob man sich
selbst Anerkennung zu zollen bereit und fähig ist, wie man sich als Mensch mit seinem Körper, seiner Seele wie auch mit seinem Verstand in Einklang fühlt und wie
man alle diese Schätze zu leben, zu pflegen wie auch zu kultivieren weiß.
Pädagogische Arbeit mit behinderten Menschen bedeutet allem voran erst einmal
eine hinreichende Auseinandersetzung mit sich selbst. Versäumt man diese, hat
man ständig mit Störquellen zu tun bei allem, was man (heil) pädagogisch organisieren und gestalten will.
Die Gewöhnung an etwas ist vielleicht ein bequemer Weg, auch einer dem Menschen zugänglicher, aber kein ausreichender. Wir Menschen sind nicht nur zu mehr
begabt, sondern wir sind auch zu Tieferem und Höherem heraus gefordert und berufen. Schwierigkeiten sollten von innen heraus und nicht primär durch Gewöhnung
angegangen und bewältigt werden.
Sehen wir in der Gewöhnung eine sehr niedere Form des Lernens mit stark biologischen Anteilen, die wir Menschen mit vielen Tieren gemeinsam haben, so kann ich
mich auch mit der Akzeptanz und Anerkennung nur bedingt anfreunden, selbst
wenn ihr eine menschlicheren Note eigen ist.
Anerkennen und Annehmen wie auch Akzeptieren sind immer einseitige Akte, die
von jenem ausgehen, der sich „oben“ befindet und der Anderes, in diesem Fall
Schwaches oder Defizitäres zu schätzen und durch seine Zuwendung zu heben bemüht ist. Es ist schwer, hier in keinen „Akt der Gnade“ abzurutschen und sich nicht
aus der unbedingten Verpflichtung dem Anderen gegenüber herauszulösen.
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Mit Geschwisterlichkeit – ein alternativer Begriff zur Solidarität - hat das noch sehr
wenig zu tun. Wir beugen uns weder zu dem Anderen hinab noch heben wir ihn
großzügig nach oben, sondern wir versuchen uns ihm partnerschaftlich zuzuordnen,
weil wir das Gleiche wie er oder sie sind – schwache, zeitlich begrenzte, verletzbare
und zur Verantwortung gerufene Menschen.
Das Verbindende sind gemeinsame Aufgaben, in denen jeder mit seiner Verantwortung steht – und keiner darf auf der Strecke bleiben, keiner verloren gehen. Die
Welt gehört uns allen und das Leben ist für jeden Menschen gleich kostbar. Es gilt
immer wieder den Dialog zu suchen und sich darin einzuüben – in der Wertschätzung der Gaben des jeweils Anderen wie auch der eigenen und gleichzeitig im Bewusstsein für Begrenzung, für Schwächen und für Fehler, die wiederum auch bei
einem selbst zu finden sind.
Im Dialog spielt die Partnerschaft die entscheidende Rolle, während die Anerkennung oder auch Akzeptanz nie gänzlich frei sind von einer vielleicht sogar gnädigen
Haltung dem anderen gegenüber – wenn man so will als Bewegung von „oben nach
unten“.
Zusätzlich streiten in uns Menschen zwei gegensätzliche Strebungen – auf der einen
Seite wollen wir sein wie alle und uns möglichst nicht oder nur wenig unterscheiden.
Große Unterschiede haben immer auch Einsamkeit und am Ende vielleicht sogar ein
Nicht-Dazugehören zur Folge; auf der anderen Seite möchten wir nie so sein wie alle,
sondern am liebsten so wie kein anderer – also unverwechselbar.
Es gibt viele Momente, die uns von anderen unterscheiden lassen. Von besonderem
Gewicht sind jene, die eine persönlich oder gesellschaftlich bedingte negative Bewertung erfahren – die Hautfarbe, ein bestimmtes Verhalten (z.B. autistisches),
schwere Verletzungen, Abartigkeiten der Haut, bestimmte Gerüche, gewisse Farben,
Essgewohnheiten, Sprach- und Sprechgestaltung (z.B. ein bestimmter Defekt wie
Stottern oder auch nur ein gewisser Dialekt).
Zusammen genommen ist ihnen als Grundtenor eine negative Bewertung eigen,
der meist unlogisch erscheint und auch mit Erklärungen kaum zu fassen ist. Es laufen
Bewertungen mit, denen wir anfangs zumindest hilflos ausgeliefert sind. Diese Bewertungen können in uns auf Grund bestimmter Erlebnisse entstanden sein, meist
jedoch werden sie von gesellschaftlich geltenden Bewertungen erzeugt. Dank engagierter Selbstreflexion und eingehender Bemühung sind solche Bewertung zu überwinden und in Wertschätzung umzuwandeln - vorausgesetzt, wir wenden uns an die
Person eines Menschen und lassen uns nicht von einzelnen wie auch immer auffallenden oder heraus ragenden Merkmalen unreflektiert leiten. Und noch viel sicherer
gelingt der Weg zum Anderen durch ein engagiertes miteinander. Wir lernen den anderen kennen und dieser uns – und wir sind dort angelangt, was wir vorhin ein wenig
„abgehoben“ mit Dialog bezeichneten.
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Allerdings sind die Hürden hierfür in unterschiedlichen Gesellschaften unterschiedlich groß. So gilt z.B. in westlichen Industrienationen die Fähigkeit, schreiben, lesen
und rechnen zu können als ein sehr hoch angesetztes Merkmal und damit als
Schwelle für einen positiv bewerteten Zugang in „unsere Welt“; in bäuerlichen
afrikanischen Kulturen spielen diese Fähigkeiten vergleichsweise eine geringe Rolle.
Da in diesen Ländern Kinder zu einem großen Teil zur Altersversicherung der älteren
Generation dienen, sind Verkrüppelungen oder gar Anfälle ein weitaus belastenderes Merkmal für behinderte Menschen, weil ihre Arbeitsfähigkeit in Frage steht.
Eine Quelle für oft verheerend negative Bewertungen und Abwertungen stellt das
jeweilige Nicht-Wissen dar – wenn man sich die Entwicklungen oder Situationen
nicht erklären kann. Als vernunftbegabte Menschen wollen wir vor allem für unerwartete Ereignisse die jeweiligen Ursachen erfahren. Wieso haben wir ein solches
Kind? Ist der Alkohol schuld, vielleicht hat die Mutter geraucht oder liegt es in der
Familie? Und afrikanische Menschen würden nach den Geistern fragen oder vermuten, hier sei ein Zauberer mit ihm Spiel oder ein solch verhexter Mensch zum Ausbund des Bösen geworden.
Wir in Europa sehen uns zwar als aufgeklärte und zunehmend auch naturwissenschaftlich orientierte Menschen – und trotzdem haben es auch bei uns behinderte
Menschen und deren Angehörigen nach wie vor schwer – selbst wenn sich vieles für
sie – dank unserer Wahrnehmung bis hin zu unterstützenden Maßnahmen – wesentlich verbessert hat.
Eine so offenkundige und zudem sichtbare Behinderung dokumentiert uns Menschen, dass unser Leben verletzlich ist und sich keineswegs so gefestigt zeigt, wie
man glauben möchte. Und unsere größte Angst, im Leben Hilfe annehmen zu müssen
und unserem selbstverwirklichenden Wünschen und selbstbestimmten Zielen nicht
ungehindert nachgehen zu können, wird bestätigt vom Erleben, dass eben eine Behinderung genau das sehr oft zur Folge hat...und so ließen sich noch viele weitere
Beispiele aufführen, die jeweils das Gleiche bewirken: Man möchte davon gar nichts
hören, am liebsten nichts sehen und sich im Glauben wiegen, dass das nicht sein
kann, was man nicht sieht.
Insgesamt kristallisiert sich die Frage nach dem heraus, was man als „normal“ bezeichnet. Ist normal ist das, was die meisten als solches für sich so erklären oder ist
das normal, was ich für mich als solches empfinde?
Da die meisten Menschen problemlos sprechen können, ist es eben nicht normal, mit dem Sprechen Schwierigkeiten zu haben. Da die meisten Menschen als Mann eine Frau als Partnerin bevorzugen Männer und umgekehrt, ist es nicht normal, wenn sich zwei Männer oder zwei Frauen zu
einer Lebensgemeinschaft verbinden wollen. Da sich die meisten Säuglinge schon nach wenigen
Wochen vom Rücken auf den Bauch drehen und umgekehrt, ist es eben nicht normal, wenn ein
Kind mit 19 Monate dies immer noch nicht tut usw.
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Normal ist es für die meisten Menschen auch, als Erwachsene selbständig zu wohnen und ihr Leben nach eigenen Vorstellungen und Wünschen zu gestalten. Nicht normal ist es, auch mit 3o oder
4o Jahren noch daheim zu wohnen und das tun zu müssen, was die Eltern oder andere Betreuer sagen.
Erwachsene gehen normalerweise erst gegen 22.oo oder später ins Bett – nicht normal ist es, bereits um 18.oo ins Bett zu müssen, nur weil sich der Tagesdienst verabschiedet und die Nachtwache
ihren Dienst beginnt.
Aus diesen Überlegungen heraus hat man das Prinzip der Normalisierung besonders im Hinblick auf behinderte Menschen ausgerufen, das man in gewisser Weise als
Vorläufer und vielleicht auch als Ideengeber für die sog. Integration und weiterhin
für die „integrative Beschulung“ ansehen kann.
Unsere gesamtgesellschaftliche Situation hat uns ein Stück weit eine wohltuende Lockerung beschert – wir kennen nicht mehr die alle Lebensbereiche zentrierende und
damit bestimmende Mitte der verbindlichen Norm. Sobald es keine Mitte mehr gibt,
gibt es immer weniger „Vorbeter der Norm“ und auch kaum mehr isolierende Randbereiche mehr - sondern nur noch eine Reihe von nebeneinander, meist sogar gleichberechtigten und zunehmend auch gleichwertigen Möglichkeiten des Lebens.
Da hat der tolle Sportler neben dem Künstler seinen Platz, der Fromme neben dem,
der ohne Religion lebt, der Dicke neben dem Dünnen, der Weiße neben jenem mit
schwarzer Hautfarbe, der Begabte neben dem, der weniger oder andere, vielleicht
weniger geachtete Gaben hat.
Diese Entwicklung hat eine Entlastung mit sich gebracht, aber an nicht wenigen
Stellen auch eine Einebnung – denn wenn alles sog. gleich ist, ist auch alles weniger
wert. Und zusätzlich geht ein wichtiges Moment an Orientierung verloren.
Die Integration als ein Mittel jener Eingliederung in das Mainstreaming einer solchen
Reihung geht von drei Grundannahmen aus, die allerdings schon eine kritisches
Hinterfragen verdienen:
(1)
(2)
(3)
Es ist normal, verschieden zu sein
Jeder ist gleichwertig und daher auch
gleichberechtigt
Jeder lernt und lebt auf seine Weise
Zu (1) Es ist normal – verschieden zu sein.
Dieser nicht nur in Deutschland bekannte Satz wurde fast zu einem Glaubensbekenntnis. Er ist in allerbester Absicht formuliert und absolut „gut“ gemeint. Er entstammt dem Leitbild der Bundesvereinigung LEBENSHILFE e.V. (Deutschland) und
wird auch in anderen Länder immer wieder zitiert.
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Dieser Satz atmet vor allem für sog. Betroffene etwas Befreiendes, gleichzeitig aber
wird in diesem Satz in einem Atemzug „Behinderung“ mit „Verschiedenheit“ gleichgesetzt. Und hier beginnen bei allem Fortschritt die Probleme.
Diese Formulierung wurde nicht nur in Deutschland von fast allen Behinderten-Verbänden und -Vereinigungen mit Freuden aufgegriffen. Sie brachte eine wohltuende
Entlastung, nach der sich vor allem Betroffene wie auch deren Angehörigen seit Jahren sehnten, sie aber für sich kaum zu formulieren wussten, zu sehr lastete ihre Geschichte der Vernichtung und Aussonderung auf ihren Schultern.
Sie war der schon lange gesuchte Funke, jenes Feuer zu entzünden, das eine alternative und damit neue Begrifflichkeit gegenüber dem Begriff „ Behinderung“ erzeugte.
Signalisiert „Behinderung“ vorwiegend das Besondere, Schwere, das Defizitäre und
auch den Mangel – sollte „Verschiedenheit“ zum einen die Gleichwertigkeit herausstellen und zum anderen das Finstere auslöschen und dieses durch das Normale – das
Helle – ersetzen.
Im Leitbilder der Blinden-Institutsstiftung, Würzburg (D) lesen wir:
„Kein Mensch ist wie der andere.
Die Menschen, die wir betreuen, haben es schwerer als die meisten.
Sie sind blind bzw. stark sehbehindert und zusätzlich oft geistig oder
körperlich behindert. Doch auch sie sollen - entsprechend ihren Möglichkeiten - ein weitgehend normales Leben führen. Unsere Aufgabe
ist es, sie darin zu unterstützen“, aber auch – wenn notwendig – sie zu
schützen (Dieter FISCHER).
Inzwischen hat sich der Sprachgebrauch weiter gewandelt. Man spricht inzwischen
zunehmend von Kompetenzen und damit von einer „Kompetenz-Orientierung“, auch
von „besonderen Begabungen“ und in letzter Zeit auch von „Menschen mit besonderem Hilfebedarf“ oder einfacher von „Menschen mit besonderen Bedürfnissen“.
Alle diese Formulierungen treffen wesentliche Aspekte des Lebens mit einer „Behinderung“ und insgesamt betrachtet sind diese Formulierungen genauer als jene „Verschiedenheit“, von der im Satz „Es ist normal, verschieden zu sein“ die Rede ist.
Aber alle diese Formulierungen blenden dennoch die Mühe aus, auch den
Schmerz und die Enttäuschung, eben die sich vollziehende Verletzung, die eine
Behinderung den Betroffenen wie auch ihrer Familie mit sich bringt. Und weil dieses
existentielle Moment für das Erleben eines Menschen so wichtig ist und sich allein
19
daraus alternativlos auch so viele Kräfte entwickeln und sich viele Ideen entfalten,
kann ich mich mit dem ausschließlichen Verweis auf das „Verschiedensein“ nie und
nimmer anfreunden („E ist eben nicht nur normal, verschieden zu ein!“) Ich selbst
komme aus einer Familie, wo Behinderung eine alles verändernde und alles prägende
Rolle spielte – und zusätzlich wurden mir in den langen Jahren meiner Berufstätigkeit als Sonderpädagoge genau solche Situationen zahlreichst mitgeteilt und persönlich durch eigene Erfahrungen nachdrücklich bekannt.
Dies alles darf aber nicht heißen, dass behindert zu sein immer mit Depressionen, mit
Schmerz und mit Leid einher gehen muss; das Gegenteil ist oft der Fall. Vor allem
behinderte Kinder können sehr fröhlich und in ihrer Art sehr zugetan sein. Mit dem
Erwachsensein allerdings nehmen die Schwierigkeiten häufig zu, wobei wir in unseren Bemühungen um Normalisierung noch lange nicht dort angekommen sind, wo es
trotz allem Bemühen tatsächlich eine unüberschreitbare Grenze gibt.
Eine Behinderung ermöglicht bzw. verunmöglicht gleichermaßen und zwar jeweils
so, wie man das höchstwahrscheinlich nicht will:
Sie ermöglicht
mehr Fürsorge
mehr Zuwendung
mehr Besonderung
mehr Kummer
größere Unfreiheit
viel Kopfzerbrechen
häufiges Auffälligsein
ein Überwinden- und Bestehen-Wollen
.
Sie verunmöglicht aber auch häufig
die Befriedigung von Bedürfnissen
ein stabiles Selbstbild (erschwert!)
hinreichende Achtung und Wertschätzung
die Übernahme von herkömmlichen Rollen
die Einnahme (unterschiedlicher) Positionen
die Beauftragung mit Funktionen in der Gesellschaft
das Leben in einem Unauffälligsein
eine normierte Leistungserbringung
für sich eine persönliche Heimat zu finden
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Wir sollten vielleicht beides neben einander stellen – die mit dem Begriff gemeinte
Verschiedenheit und die sich aus der Behinderung selbst ergebenden schmerzlichen
und nicht aufhebbaren Verschiedenheit.
Aus dieser ersten begrifflichen Veränderung lässt sich gut das 2. Votum ableiten und
in seiner Mehrschichtigkeit kritisch verstehen:
Zu (2) Jeder ist gleichwertig und daher auch gleichberechtigt
Dieser Satz ist wiederum konfliktbelastet – je nach Sichtweise derjenigen, die diesen
Satz einfordern und solchen, die ihn umzusetzen versuchen.
Ich denke, die gemeinsame Basis, nämlich Mensch zu sein – und die Christen unter
uns begründen diese mit der Tatsache, als jeweils einzelner ein Gedanke oder auch
ein Geschöpf Gottes zu sein, lässt keine Alternative zu.
Jeder Mensch hat, unabhängig von Aussehen, Verhalten, Begabung oder Al-ter und
Geschlecht den gleichen Wert und besitzt die gleiche Würde, aber nicht jedem dient
das gleiche Recht. Gleiches Recht ist noch nicht gleichzusetzen mit dem Menschen
dienlicher Gerechtigkeit.
Ich denke, dieses Recht gründet in dem Moment der Bedürftigkeit. Wir haben als
Menschen und zudem als Bürger oder als Mitglied einer Familie „auf etwas Anrecht“, aber ob es uns förderlich ist, wer weiß das schon. Verwerflich wäre, von Beginn an etwas auszuschließen; verwerflich wäre aber auch, allen alles zuzumuten. Es
würde dann das ALLES zählen, nicht aber das dem einzelnen Menschen Notwendige im wahrsten Sinne des Wortes.
Das Notwendige ergibt sich aus dem Bedarf nach Entwicklung, nach Interessen,
nach Gesundung oder gar nach Heil, nach Lernen, Bildung und Erziehung, nach
Pflege und auch nach Therapie. Ob dieses Notwendige integrativ, kooperativ oder
separat uns erreichen soll, muss extra entschieden werden. Eröffnen, Ermöglichen
und Unterstützen auf der einen Seite, Schützen und Bewahren auf der anderen in der
Abwägung der Notwendigkeiten und Möglichkeiten sind für uns wichtige Orientierungspunkte.
Wollte man sich einen Überblick verschaffen, wohin die (heil)pädagogische Arbeit
mit unterschiedlich befähigten wie auch unterschiedlich bedürfenden Kindern denn
zielen sollte, hilft vielleicht nachfolgendes Schema – trotz einer gewissen Vereinfachung:
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fördern
bewirken
schützen
unterstützen
erleben
fordern
Dem Ansinnen nach Veränderung steht das Bewahren und Schützen gegenüber.
Das Fördern sollte im Fordern als einen an das jeweilige Kind gerichteten Anspruch sein Pendant finden. Fordern richtet sich als Anspruch nach innen, Fördern
verkörpert den Anspruch von außen. Der Weg dorthin darf aber auch das Bewirken
und Erleben weder ausschließen noch zu gering einschätzen.
Im Bewirken erfährt das Kind seine ihm eigene, seine sich in ihm entfaltende Macht;
und im Erleben hat es Anteil an dem, was es selbst nicht ist. Nur am Nicht-Eigenen
zusehend, zuhörend, vielleicht sogar ein Stück weit mitmachend teilzuhaben, reicht
auf Dauer nicht aus. Vor allem behinderte Kinder benötigen das Erleben, hier stellen
sich mir Lern- und Lebenssituationen, die mir und meinen Fähigkeiten gemäß sind,
wo es einhaken und daraus lernen kann. Erst ein solches Erleben bringt Sicherheit
und das Gefühl, als Person mit seinen Möglichkeiten und Grenzen gemeint wie auch
gefragt zu sein.
Die Gefahr, in einem integrativen Zusammenhang in die Zuschauerrolle gedrängt zu
werden oder mit Nebenaufgaben sich abfinden zu müssen, zählt mit zu den heiklen
Punkten einer integrativ gestalteter Erziehung. Pädagogik ist nur dort überzeugend,
wo sie in Kern-Aufgaben für jedes Kind und nicht in „Besuchs-Situationen“ mündet. Es muss das sichere Gefühl haben, als Person gemeint zu sein in seinen Möglichkeiten und Grenzen, in seinem Bedürfen wie in seinen Interessen und im Sinne
des „Werdens als Person“ (Identität!).
22
Zu (3) Jeder lernt und lebt auf seine Weise
Integrations-Pädagogen sehen die Besonderung – als das von ihnen kritisierte Gegen-Modell - vor allem dann und dadurch gegeben, dass man Kinder zusammenfasst,
die jeweils das Gleiche lernen – z.B. gemeinsam die Anfänge des Lesens oder mathematischer Zusammenhänge in Form von Ableitungen oder physikalische Gesetzmäßigkeiten. Wer eben hier nicht Schritt halten kann, wird ausgegliedert und einer
anderen Klasse solange zugeordnet, bis sich wieder all jene zusammen finden, die
sich wiederum erfolgreich lernend um das Gleiche scharen.
Der Konstruktivismus hat eine Reihe weiterer wichtiger Argumente beigetragen,
die gegen die Vorstellung von „Erlernen des jeweils Gleichen“ sprechen. Jeder lernt
auf seine Weise und jeder lernt das Seine – selbst am sog. „gleichen Lerngegenstand“. Der eine nähert sich diesem sinnlich, der andere handelnd, ein Dritter fragendforschend, diskutierend und gestaltend.
Hierzu scheinen mir folgende ergänzende Anmerkungen angebracht:
„Jeder lernt“ betont nicht nur „jeder“, sondern eben auch das Lernen. Mit der Vokabel „lernen“ setzen wir den Schüler, die Schülerin frei – der Lehrer hat bestenfalls
das Lernen zu organisieren, aber auch zu begleiten und am Ende dem Kind zu bestätigen. Behinderte Kinder und Jugendliche lernen nicht nur jeweils das Eigene, sie
benötigen auch das jeweils Eigene und Individuelle. Dieses Benötigen fragt in einer
anderen Weise nach dem Erzieher oder Lehrer als das dem Kind zugestandene Selber-Lernen. Einerseits geht es um das Lernen und somit um die Art und Weise, also
um das sog. Wie - andererseits um die Inhalte, um das sog. Was – „Was genau sollen die einzelnen Kinder lernen?“
Die starke Individualisierung kann auf der einen Seite tatsächlich in eine Besonderung, vielleicht sogar in eine Aussonderung führen; sie ist aber auch absolut in einem
Verbund mit unterschiedlich begabten, interessierten und bedürfenden Kindern vorstellbar.
Der starken Sympathie gegenüber jener Individualisierung darf uns nicht darüber hinweg täuschen, dass es doch in Schule und Kindergarten immer auch um das Gleiche
geht – der gleiche Lerninhalt oder Lerngegenstand, der zu gleichen Ergebnissen
führen muss. Der Zebrastreifen muss von allen gleich als solcher benützt werden, der
Briefmarkenautomat auch – und auch der Umgang mit Geld lässt keine subjektiven
Variationen zu.
Mit Blick auf die kognitiven Fähigkeiten ist das gut nachzuvollziehen:
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Intellekt
Gedächtnis
Denken
erfassend
wertend
produktiv
konvergierend
divergierend
Übersetzt heißt das:
erfassend steht für „objektiv“
wertend steht für „subjektiv“
produktiv versteht sich als Synthese von beiden
Wir Menschen sind zum Überleben in unserer Welt darauf angewiesen, sowohl subjektiv als auch objektiv die Welt zu erfassen bzw. zu verstehen.
Objektiv muss ich sein bzw. mich verhalten, wenn ich mich in den Straßenverkehr
wage, subjektiv kann ich sein, wenn ich ein Gedicht lese; will ich ein Geschenk verpacken, benötige ich beides – eine subjektive Idee und einen objektiven Umgang
mit Papier, Klebstoff und Band. Erst dann wird es mir gelingen und ich vermag produktiv zu sein.
Unschwer lassen sich hier die Schwierigkeiten vor allem geistig behinderter Kinder
einordnen. Im subjektiven Bereich sind sie absolut stark, hier unterliegen sie auch
24
keinen allgemein verbindlichen Auflagen; ihre Schwäche liegt im Objektiven, dem
Allgemeingültigen.
Sie nur im Subjektiven zu belassen, wäre sträflich, weil wir damit ihre Alltagstauglichkeit bzw. ihre Lebenstüchtigkeit gefährden. Um sie jedoch im objektiven Bereich
zu fördern, sind oft sehr spezielle Lernangebote und Lernmethoden notwendig.
Auch ihre Produktivität käme bald an ein Ende, würden wir sie nicht durch die Förderung im objektiven Feld erweitern und stabilisieren.
Bei einer neuen Untersuchung (2oo6) von vier geistig behinderten Jugendlichen
in einer integrativ geführten Montessori-Klasse kam heraus, dass lernstützende
Fähigkeiten wie ihre Aufmerksamkeit und ihr Leistungsbereitschaft sich steigerten; Lernerträge allerdings waren ihnen nicht in gleicher Weise zugewachsen;
und in der Pause bzw. in der Freizeit sonderten sich die behinderten Schüler –
selbst nach fünf Jahren gemeinsamer Schulzeit – zunehmend von den anderen
ab und umgekehrt. Jede Gruppe formierte sich um sich selbst.
Exkurs: Effektivität
Es ist verständlich, dass wir alle nach den besten Methoden suchen, um optimale
Erfolge zu erzielen. Wenn es dann noch um ein so schwieriges Terrain wie das des
Lebens im Kontext einer Behinderung und den sich daraus ergebenden inneren wie
äußeren Beeinträchtigungen geht, dann muss dem kritischen Nachfragen nochmals
mehr Aufmerksamkeit und Verständnis entgegen gebracht werden.
Aber die beiden größten gegensätzliche Modelle gegenüber gesetzt, sind für sich
genommen nicht oder nur bedingt vergleichbar – das (1) separierende/spezielle auf
der einen und das (2) integrative auf der anderen Seite.
Steht das eine (1) für messbare Leistungen – vor allem in den Funktions-, Fähigkeits- und Fertigkeitsbereichen, schlägt das andere (2) bzgl. sozialer und auch kommunikativer Kompetenzen zumindest auf den ersten Blick unstreitbar zu Buche.
Es scheint so, als könne man zu keinem wirklichen Ergebnis auf Grund der Unvergleichbarkeit kommen. Bei diesem Ergebnis allerdings sind wir – bildlich gesprochen
- auf der gleichen Ebene verblieben.
Beziehen wir die Wirkung einer Behinderung (s.o.) auf die Umwelt mit in unser
Verstehen und Werten mit ein, zeichnen sich andere Ergebnisse ab.
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(4) Anforderungen an die Beteiligten in einer Integrativen Klasse bzw. einer Kindergarten-Gruppe
1. ...an das behinderte Kind
Anforderung schließen immer Voraussetzungen mit ein. An sich dürften von solchen
erst überhaupt nicht gesprochen werden, denn wenn Integration angestrebt wird, dann
gilt sie allen Kindern ohne Ausnahme – vorausgesetzt, es sind all jene Maßnahmen
vorhanden bzw. getroffen, die für das einzelne Kind zum Über-Leben vonnöten sind.
Und dennoch erscheint es notwendig, dass Kinder in der Lage sind, es aushalten, in
ein Milieu einzutauchen, das weder primär für sie gemacht noch ge-staltet ist und
auch nicht immer auf ihr Wohlbefinden und ihre Bedürfnisse hin ausgerichtet ist
(z.B. durch Sehhilfen; durch ebene Zugänge, haptische Veränderungen des Spielzeugs usw.).
Auch werden behinderte Kinder sich damit abfinden müssen, dass sie meist nicht im
Mittelpunkt stehen, dass um sie fremdes, oft auch überforderndes, sie übergehendes
Leben und Lernen statt findet.
Sie werden nur bedingt ähnlich begabte oder auch ähnlich schwache Kinder antreffen. Sie haben also bzgl. der eigenen Schwäche kaum geeignete Vergleichspunkte
und damit auch wenig Möglichkeiten der Identifikation. Umso mehr aber kann ihre
Begrenzung durch die „normale Umgebung“ und die allen geltenden Aufgaben deutlicher und damit schmerzhafter zu Tage treten.
Dafür erleben sie mehr Hilfe, mehr Zuwendung durch die anderen nicht behinderten
Kinder, mehr Sprache, mehr sprechende Zuwendung, mehr Herausforderung, ein
anderes Tempo und eine größere Dynamik. Vieles allerdings, was um sie herum oder
auch mit ihnen selbst passiert, werden sie nur bedingt (objektiv) verstehen, bestenfalls
nur subjektiv für sich erschließen.
Sie werden zu längerem Durchhalten aufgefordert und erleben dadurch manchen
wichtigen zusätzlichen Lernimpuls. Ihre Frustrationstoleranz kann sich ausweiten
und ihre Ideen können sich entwickeln und steigern. Sie müssen ertragen lernen –
und dies hautnah, dass es Altersgenossen gibt, die mehr, auch anderes können, was
ihnen selbst verschlossen bleibt. Sie werden aber vielleicht auch das Gegenteilige
erfahren: Vielleicht weniger Fürsorge, damit aber mehr Interesse an ihnen und an
dem, was sie auf den Weg bringen oder wovon sie träumen.
Die ihnen dienliche Erholung finden sie dann (wie neuere Untersuchungen auch aus
Schweden erkennen lasen; 2oo6) in der eigenen Gruppe, sodass sie die Freizeit, ohne
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jene pädagogische Steuerung, meist unter sich verbringen, wie sich auch die behinderten Kameraden in der freien Zeit nicht selten zurück ziehen – von nicht selten eindrucksvollen Ausnahmen wunderbarer Freundschaft zwischen gänzlich unterschiedlich begabten Kindern abgesehen.
Nach Möglichkeit sollten auch behinderte Kinder, wo es nur geht, im Sinne des Prinzips das Partizipation wählen bzw. mit entscheiden können, in welch einem sozialen
Umfeld sie leben und lernen möchten. Bedenken sollten wir dabei, dass es nie nur
die beiden polarisierenden Systeme - das integrativen und das spezifische - gibt,
sondern viele Zwischenstufen und Variationen – z.B. dem kooperativen, dem additiven Fördersystem oder einem zeitweise Verbleiben in der einen oder anderen Form.
Wichtig wäre, dass sich Freude einstellt und die jeweils erreichte Freude erhalten
bleibt. Wir erleben sie im selbstvergessenen Spiel, beim Singen und Tanzen, beim
Erzählen von Geschichten, beim Bestaunen und Versorgen eines Tieres und beim
gemeinsamen Betrachten von Bildern. Zumindest im Kindergarten sollte das der alles bestimmende Grundton sein, auch wenn er sich in der Schule auf Grund der dort
gegebenen Lern- und Leistungsansprüchen nicht immer bruchlos fortsetzen wird.
2. ...an die Eltern des behinderten Kindes
Auch die Eltern des behinderten Kindes sollten sich nicht nur eine „integrative Beschulung“ – oder eine andere Form – wünschen, sondern sich bewusst mit allen Konsequenzen dafür entscheiden. Integration darf nicht als Instrument bzw. als Mittel
(als Schlüssel) missverstanden werden, das geeignet ist, eine Behinderung, mit der
man selbst nicht zurecht kommt und die einem ein Dorn im Auge ist, quasi „unschädlich“ zu machen, d.h. sie zu beseitigen.
Integration ist letztlich von seinem Grundanliegen her eine Haltung, die sich
nicht von selbst einstellt, sondern an der man täglich arbeiten und um die man
ringen, ja kämpfen muss. Versöhnung ist dabei Ziel und Ergebnis gleichermaßen. So wohltuend ein versöhnliches Leben im Ergebnis auch ist, der Weg dorthin ist jedoch ohne Anstrengung kaum zu haben.
Sich entscheiden ist mehr als (nur) auszuwählen. Stehen beim Auswählen die jeweiligen Bedürfnisse und Wünsche, sicher auch manche Notwendigkeit an vorderer
Stelle, meint „sich entscheiden“ einen bewusst geführten Akt. Um sich gut entscheiden zu können, braucht man Kategorien wie auch Kriterien, d.h. man muss auch die
Situation und deren Bedingungen gut kennen und verstehen lernen, um diese anschließend dann in ein stimmiges Verhältnis mit seinen Möglichkeiten wie auch seinen Zielen zu bringen. Wer sich für etwas entscheidet, entscheidet sich gleichzeitig
immer auch gegen etwas. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen sind sowohl im
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Hinblick auf das zu tragen, wofür als auch wogegen man sich entschieden hat. Ganz
selten kann man im Leben alles gleichzeitig und auf einmal haben. Das klingt fast
schon platt, doch genau aus der Tatsache des jeweils Fehlenden oder des nicht Vorhandenen erwachsen schneller als man denkt Kritik und Unzufriedenheit.
Wegen der hohen Bedeutung solcher meist doch sehr schwierigen Entscheidungsprozesse sind diesen viel Zeit einzuräumen und sie mit großer Gründlichkeit zu handhaben wie auch mit wacher Aufmerksamkeit zu begleiten.
Eltern behinderter Kinder haben die Chance, hier – gegenüber anderen Eltern der
nicht behinderten Kinder - sich zum erstenmal ausführlicher und intensiver mit ihrem behinderten Kind quasi der Öffentlichkeit zu präsentieren und sich auf dieser
Ebene mit Vorurteilen, Meinungen, Befürchtungen, aber auch mit unerwarteter Bereitschaft und Entgegenkommen konfrontiert zu sehen. Sie können zudem Missverständnissee abbauen, sich im Formulieren ihrer Wünsche, Erwartungen und Hoffnungen üben und auch in einem gesunden Maße für ihre Kinder werben.
Das Leben besteht fast immer aus Kompromisse – und dies ganz besonders, wenn
so ein schwieriges Terrain wie das der Integration betreten wird. Es ist wichtig, sich
endlich aus dem Versteck hervorzuwagen, die Bühne des allgemeinen Lebens zu betreten und sich nicht nur oder noch länger in Sonderwelten aufzuhalten.
Eltern behinderte Kinder müssen lernen, aus dem Status des Sich-BenachteiligtFühlens bewusst heraus zu treten, gleichzeitig aber auch Zugeständnisse zu machen,
um nicht ihrerseits jenen isolierenden Sonderstatus für sich wie für ihr behindertes
Kind zu festigen.
Zusätzlich ist wichtig:
„Die Bereitschaft der Eltern zur engen Zusammenarbeit mit dem Kindergarten-Team
einzufordern.
Bereits vor der Kindergarten-Aufnahme erfolgt eine gegenseitige Motivations- und
Erwartungsabklärung zwischen Eltern und Kindergarten-Team.
Gemeinsam mit dem Kindergarten-Team sind besondere Erfordernisse für das Kind
mit Behinderung abzuklären: pflegerisch, baulich, kommunikativ, erzieherisch, heilpädagogisch, pädagogisch, psychologisch, medizinisch.
Es werden kontinuierlich individuell auf das Kind bezogene Ziele von den Eltern
gemeinsam mit dem Kindergarten-Team definiert.
Eltern haben Anspruch darauf, mindestens einen Tag pro Kindergarten-Halbjahr
im Kindergarten zu hospitieren.
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Elterngruppe: in allen integrativ arbeitenden Kindergärten sollte eine Elterngruppe
"Integration" gebildet werden, die für Eltern von Kindern mit und ohne Behinderung
offen ist.“ (aus einem Leitfaden eines „Integrativen Kindergartens“ in Deutschland).
3. ...an die „anderen“ Kinder
Die „anderen“ Kinder gelten als die nicht behinderten. Ihnen stehen all jene Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Verfügung, die in ihrem Alter „normal“, also selbstverständlich sind. Sie können richtig, d.h. mit abwechselnden Fuß eine Treppe hinauf
und hinunter gehen, kleine Mengen bestimmen, vielleicht einfache Wörter, zumindest Buchstaben lesen, sich in ein Spiel einfügen, sich in eine Unterhaltung einbringen, mit einer Schere einen Kreis ausschneiden, so-gar aus Papier ein Schiff falten,
die eigenen Schuhe binden oder sich auf der Toilette selbst versorgen.
Indem sie bei ihren als behindert geltenden Altersgenossen feststellen, dass diese
das nicht so ohne weiteres oder gar nicht können, wird ihnen ihr Können nochmals
mehr bewusst; gleichzeitig erleben sie bei ihren behinderten Freunden sog. Ersatzlösungen oder Ersatzhandlungen, erleben aber auch, wie sehr sich das eine oder andere
Kind müht, um zu einem für es befriedigenden Ergebnis zu kommen – und darüber
hinaus, dass auch bei diesem nicht so tüchtigen Kind sehr wohl interessante Ideen zu
entdecken sind. Man kann darüber miteinander ins Gespräch kommen, das Gesehene
bewundern und befragen, vielleicht selbst für sich oder andere neue Ideen entwickeln
und den Versuch starten, etwas zusammen zu probieren – gemeinsam zu spielen.
Man kann zusätzlich das Helfen für sich entdecken, beim Essen und Trinken helfen,
den Rollstuhl schieben, etwas aus dem Regal holen... oder einfach auch nur Rücksicht auf den schwächeren Partner nehmen.
Vor etwas allerdings möchte ich wirklich warnen:
Behinderte Kinder sind nicht dazu da, dass man an ihnen oder durch sie „soziale Kompetenzen“ erwirbt. Damit würde man sie instrumentalisieren. Es geht um
Entwicklung, Lernen und Sich-Bilden – nicht mehr und nicht weniger, und um
den Erwerb eines einigermaßen stabilen Selbst-, Fremd- und Weltbildes trotz Einschränkungen, Behinderung und der vielfältigen Erfahrung des Verletzt-Worden-Seins..
Auch für nicht behinderte Kinder ist es wichtig zu erfahren, dass man die Welt unterschiedlich sehen kann, dass gleichaltrige Kinder verschiedene Fähigkeiten besitzen,
dass es aber u.a. auch nicht selbstverständlich ist, dieses oder jenes zu können – und
dass behindert zu sein arg viel Mühe bedeuten kann und Hochachtung verdient. Insofern sind behinderte Kinder oft auch Vorbilder für die anderen und steuern eine
Menge Lernimpulse für die eigene Psychogenese bei.
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Zusätzlich lernt man, sich auf ein manchmal ganz anderes als das eigene Lern- und
Lebenstempo einzustellen (es kann zu schnell oder eben auch zu langsam sein), man
entwickelt Ideen, wie man seinen Kameraden unterstützen kann, dass um Hilfe zu
bitten keine Schande ist – und nicht zuletzt, dass Helfen auch Freude bereiten kann
und ein tiefes Gefühl für Dankbarkeit und Sinnhaftigkeit vermittelt.
Schwieriger dagegen ist es, im richtigen Moment auch „nein“ sagen zu lernen. Man
muss nicht alles tun, worum einen der eine oder die andere bittet – und man wird lernen müssen, dass im Leben wie im konkreten Alltag manche Wünsche offen bleiben
und trotz hohem Engagement nicht erfüllbar sind.
4. ...an die Eltern der nicht behinderten Kinder
„Für alle Kindergarten-Eltern kommen bei integrativer Kindergartenarbeit neue
Anforderungen hinzu:
Sie werden täglich mit der Verschiedenartigkeit von Bedürfnissen und Möglichkeiten ihrer Kinder konfrontiert und müssen mit daraus resultierenden Gefühlen umgehen.
Ihre Kinder bringen neue Erfahrungen und Fragen mit (z.B. warum ist das eine
Kind so und das andere anders?). In Folge davon werden Eltern mit gesellschaftlichen Werten und Normen in Bezug auf Normalität, Behinderung und Lebensbedingungen für Menschen mit Behinderungen konfrontiert.
Dies löst meist eine Reflektion eigener Haltungen, Einstellungen, Menschenbilder
und pädagogischer Zielsetzungen aus.
Für Eltern von Kindern mit Behinderung stellt sich darüber hinaus die Frage der Verlässlichkeit „integrativer Arbeit“ im Kindergarten sowie die Frage, ob eine spezifische Förderung des Kindes trotzdem gegeben ist.“ (ebd.)
Nicht alle Eltern können dem zustimmen; es erwachen viele Ängste, z.B. das eigene
Kind erleide durch ein behindertes Kind Einbußen gesundheitlicher, entwicklungswie auch leistungsbezogener Art. Umso mehr ist Aufklärungsarbeit voraus, aber auch
parallel zur täglichen „integrativen Arbeit“ notwendig, ohne dabei das Recht auf Integrität des behinderten Kindes wie auch dessen Eltern zu verletzen.
5. ...an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
(1) Anforderungen an Kindergarten-Mitarbeiterinnen
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Im Einzelnen sind zu nennen wie auch zu beachten:
Hohe Kooperationsbereitschaft fordert eine interdisziplinäre Zusammenarbeit, sowie einem Kompetenztransfer zwischen externen und internen Mitarbeitern.
Die Bereitschaft, Schwierigkeiten, die sich aus gemeinsamer Erziehung ergeben, pädagogisch zu bewältigen bzw. sich fachliche Hilfen zu
erschließen.
Bereitschaft zu angemessenem Kontakt mit entsprechenden Facheinrichtungen (Beratungsstellen, ÄrztInnen, Fördereinrichtungen, etc.).
Bereitschaft zum Austausch mit anderen integrativ arbeitenden Kindergärten, Engagement für intensive Kommunikation und Verständigung aller Beteiligten (Kinder, Eltern, Fachleute, Kolleginnen).
Persönliche Bereitschaft, mit anderen Kolleginnen eine Integrationssituation zu begleiten, zu gestalten und zu reflektieren.
Alle Mitarbeiterinnen des Kindergarten-Teams sind für alle Kinder
da: Es gibt keine "Spezial-Erzieherin", die prinzipiell für die Kinder mit
besonderen Bedürfnissen zuständig ist.
Bereitschaft, sich selbst weiter zu entwickeln, eigene Einstellungen
und Haltungen kontinuierlich zu überdenken, lieb gewordene Rollen abzulegen und neue zu übernehmen.
Bereitschaft zu intensiver Elternarbeit in zeitlich regelmäßiger Form.
Geeignete Rahmen- und Lernbedingungen mittels zeit- und kindgemäßer Pädagogik für das Zusammenleben von Kindern mit und ohne
Behinderung schaffen.
Hohe innere Präsenz der Kindergarten-Mitarbeiterinnen im Kindergartenalltag, um integrative Prozesse wahrzunehmen und zu fördern.
Auseinandersetzung mit eigenen Normvorstellungen bzgl. Normalität,
Behinderung, sozialem Verhalten, Leistung, Ästhetik u.s.w.
Offenheit im Umgang mit eigenen Ängsten, Schwächen, Stärken und
Grenzen.
(2) Erforderliche Ressourcen
Dem Kindergarten-Team müssen für jene zusätzlichen Erfordernisse zur
Verfügung stehen:
angemessene zeitliche und finanzielle Quellen · insbesondere für Möglichkeiten zum Austausch über die konkrete päd. Situation und deren Weiterentwicklung, sowie für die Einarbeitung, Elternarbeit, Teambesprechung und die
Besprechung mit externem Fachpersonal.
genügend Personal bzw. Mitarbeiter · meist Aufstockung erforderlich
Zugang zu fachlichen Informationen:
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a) für Diagnostik (Erstdiagnostik vor Aufnahme sowie Verlaufsund Entwicklungsdiagnostik),
b) für Grundinformation zur spezifischen Behinderung (medizinisch, heilpädagogisch, pädagogisch, psychologisch),
c) für kontinuierliche externe Fortbildung
In der herkömmlichen ErzieherInnen-Ausbildung werden für diese komplexe Aufgabenstellung notwendige Qualifikationen häufig nicht ausreichend vermittelt. Deshalb
muss mittelfristig mit der Forderung nach „integrativer Kindergartenarbeit“ die Forderung nach einer Veränderung der Ausbildung für ErzieherInnen unbedingt einhergehen.
6. ...an die Räumlichkeiten und Ausstattung
(1) Allgemeine Rahmenbedingungen
Die jeweiligen Einrichtungen sollten über eine ausreichende räumliche, technische
und personelle Ausstattung verfügen.
Die Vorbereitung und andauernde Fortbildung sowie Praxisbegleitung der pädagogischen Mitarbeiterinnen ist sicher zu stellen und möglichst schon bei der Ausbildung
zu berücksichtigen.
(2) Räumliche Voraussetzungen
Bauliche Gegebenheiten werden oft in ihrer Bedeutung überbewertet, stellen jedoch
in der Regel im Kindergartenbereich keine wesentlichen Hindernisse für Kinder mit
Behinderung dar. Dies gilt gleichermaßen für Materialien.
Gegebenenfalls prüfen das Kindergarten-Team und die Eltern, ob spezifische räumliche Veränderungen oder Anpassungen notwendig sind. Neubauten sollten von
vornherein so geplant und ausgestattet werden, dass sie allen Kindern offen stehen.
(3) Mitarbeiter
- Integrativ arbeitende Kindergartengruppen brauchen fest angestelltes Personal.
- Integrativ arbeitende Kindergartengruppen sollen bevorzugt eine zusätzliche
Vorpraktikantin zugewiesen bekommen.
- Bei Erkrankung/Ausfall von hauptamtlichen MitarbeiterInnen sollte bereits ab
dem erstem Tag eine kompetente Ersatzkraft gestellt werden (z.B. als mobile
Reserve).
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- Die pädagogischen Mitarbeiterinnen brauchen integrationsspezifische kontinuierliche Fortbildung und Praxisbegleitung.
(4) Gruppenzusammensetzung
Die Gruppen im Kindergarten sind bereits aktuell in der Regel zu groß. Kommen zusätzlich noch Kinder mit Behinderungen hinzu, ist eine Verringerung der Gruppengröße unabdingbar. Für jede Aufnahme eines Kindes mit Behinderung sollte die Gesamt-Gruppengröße um je ein Kind gekürzt werden.
Es sollten möglichst mehrere Kinder mit besonderen Bedürfnissen gemeinsam
in eine Gruppe aufgenommen und nicht vereinzelt über mehrere Gruppen verteilt
werden.
(5) Ziele, Inhalte und Methoden
Wenn wir von den zwei Grund-Konzeptionen – dem integrativen und dem spezifischen - ausgehen, dann sind für mich folgende Aspekte zu bedenken:
1. Es gibt nicht die optimale oder auch nur die bessere Konzeption zur Erziehung und Bildung (und nicht nur zur Förderung!) behinderter Kinder. Jedes
Konzept hat seine Vor- und seine Nachteile. Auch die vielen Therapien in einer speziellen Einrichtung sind für sich genommen nicht das erhoffte Optimum. Wer etwas anderes behauptet, begibt sich auf das Feld der Ideologien –
und verfolgt nicht mehr primär (heil)pädagogische Interessen zum Wohl des
einzelnen Kindes.
Eltern stehen häufig vor vergleichbaren Entscheidungen: Soll ich mein Kind auf ein
musisches Gymnasium schicken oder in ein naturwissenschaftliches, in eine Waldorf-Schule oder in eine Montessori-Einrichtung?
Einen klärenden Einblick geben immer wieder Untersuchungen, die allerdings auch
zu sehr divergenten Ergebnissen führen und keineswegs die objektiven aussagen zu
Tage fördern, die man sich so gerne wünscht. Deshalb sind sie immer auch mit einer
gewissen Zurückhaltung zu genießen. Nachfolgend werden die Ergebnisse aus einer
jüngst erst (2oo6) in Deutschland veröffentlichen Studie vorgestellt:
Untersuchung zum Integrativen Unterricht mit geistig
behinderten Schülern in einer Grundschul-Klasse bzw.
Sekundarstufen-Klasse mit nicht behinderten Schülern.
33
1. Es wurde dabei unterschieden zwischen der
1. Zeit im Unterricht
2. Zeit in der Pause
Zu (1) - der Unterricht
Hier waren fünf Kategorien wichtig (nach M. MONTESSORI)
geordnete Arbeit
Arbeit mit Hilfe
Beobachtung
ungeordnete Arbeit
stören
Ziel ist es, dass die Schüler in einen „Zustand der Ordnung“ kommen
– verstanden als die optimale Voraussetzung für einen guten Lernerfolg
Zu (2) - die Pause
Hier wurden wieder unterschieden:
Dialog mit einem behinderten Kind
Dialog mit nicht behinderten Kindern
einseitiger Kontaktversuch
allein für sich bleiben
Konflikt erzeugen
2. Es geht um Entwicklung, um Lernen, Erziehung Bildung und nie nur um
Förderung. Hat die Förderung eher lebenspraktische Fähigkeiten und Fertigkeiten im Blick, ist die Zielperspektive bei den vorgenannten Zielbereichen
komplexer und ganz selbstverständlich das soziale Moment mit eingeschlossen, vielleicht sogar die Grundlage von allem weiteren.
Der Fokus lässt sich letztlich als Selbstbild und Weltbild umschreiben, im und mit
dessen Kontext man dann als Kind oder als Jugendlicher wirksam oder auch scheiternd aktiv sein kann.
3. Wichtig allerdings erscheint mir, nochmals darauf hinzuweisen, dass der jeweils schwache Mensch, unabhängig davon, woher seine Schwäche rührt – es
kann eine Behinderung, eine Krankheit, ein Verlust, ein Trauma, eine Minder34
begabung, eine Vernachlässigung oder auch eine psychisch schwierige Situation sein, des besonderen Schutzes bedarf.
Kinder sind dabei auf sehr unterschiedliche Weise geschützt bzw. zu schützen, das
gilt für behinderte wie auch nicht behinderte in gleicher Weise, wenn auch individuell verschieden:
Geschützt:
in der Mutter
durch die Mutter/den Vater
durch Angst und Unsicherheit
durch Fähigkeiten und Fertigkeiten
durch ein stabiles Selbstsein
durch Selbstvertrauen bzw. Selbstzutrauen
durch Kraft und durch Macht
durch Sich-Wehren-Können
durch die Gemeinschaft mit anderen
durch Werte und Einstellungen
durch eine religiöse Bindung
Behinderte Kinder bedürfen des besonderen Schutzes.....
Geistig behinderte Kinder bedürfen der besonderen Wertschätzung ihrer Art,
das Leben zu leben und die Welt um sie herum zu erfassen.
Da ist die Orientierung an der Drei-Welten-Theorie von Karl POPPER hilfreich… Er
unterscheidet drei Welt-Aspekte, die jeweils vom Menschen eine andere Zugangsweise erwarten - eine mehr sinnlich-handelnde, eine sprechend-hörende - und eine
schriftlich-abstrakte.
Menschen mit einer geistigen Behinderung tun sich umso schwerer, je abstrakter,
entsinnlichtre und unkonkreter ihnen die Welt entgegen kommt. Sie suchen das, was
man anfassen und fühlen, was man riechen und schmecken kann, was klingt und was
man hört.
die Welt 1 ermöglicht eine „leiblich-sinnliche Kultur“
die Welt 2 eine vorwiegend „mündliche Kultur“
die Welt 3 eine „schriftliche (abstrakte) Kultur“
Weiterhin spielt für uns die Art und Weise ihrer Zuwendung zur Welt eine entscheidende Rolle. Grundlage ist stets, wenn die Zuwendung als aktiv zu bezeichnen ist,
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mit welch einer Intensität und Intentionalität ein Kind über sich hinaus in die Welt
eingreift.
Da genau hinzuschauen, ist wohl grundlegend wichtig, um ein Kind weder zu überfordern, noch in seiner Einschätzung und in seinem Urteil abzuwerten.
Die Lernangebote müssen dieser Art Weltkontakt entsprechen bzw. man muss wohl
damit rechnen, dass ein Kind sich eben auf diese Weise der Welt in Form einer Situation, einem Spiel oder einem Vorhaben nähert.
Ergänzend sei die Art und Weise der Intensität genannt, mit der vor allem behinderte Kinder an der Welt teilhaben bzw. Anteil nehmen und sich einbringen können:
Formen der Kontaktnahme zur Welt
1. Wachheit/
Erreichbarkeit
irritiert sein,
innehalten
2. Zuwendung
Zugänge suchen
3. Teilhabe
beteiligt sein
4. Teilnahme
aktiv mitwirken
5. Übernahme
sich einbringen,
dabei selbst sein
Neues schaffen,
produzieren
6. Gestaltung
Jede Form dieser Art der Kontaktnahme ist für ein Kind stimmig, wenn es seinem
Entwicklungsniveau entspricht; hier kann man zum einen eine mögliche Retardierung feststellen, zum anderen aber auch sein eigenes (heil)pädagogisches Angebot
und Vorgehen kritisch überprüfen.
(6) (Heil)pädagogische Grundsätze
Über allem und vor allem steht Paul MOOR mit seinen drei markanten Sätzen:
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Nicht gegen den Fehler, sondern für das Fehlende arbeiten
Erst verstehen und dann erziehen
Heilpädagogik ist Pädagogik – und sonst nichts
(1)
(Heil)Pädagogische Gedanken im einzelnen – stichpunktartig
aufgelistet:
Räumliches Zusammensein allein ist eine Voraussetzung für, aber noch
keine Integration.
Das pädagogisches Konzept muss sicher stellen, dass alle Kinder sich auf der
Basis ihres jeweiligen Entwicklungsniveaus im gemeinsamen Handeln, Spielen und Lernen als kompetent erfahren können.
Eine entwicklungsbezogene Individualisierung ist Grundlage einer integrativen Pädagogik, die den individuellen Bauplan eines Kindes berücksichtigt und entsprechende Angebote ableitet.
Ein integrativ arbeitender Kindergarten ist ein Ort, an dem Gemeinschaft
und Solidarität gepflegt und gelebt werden. In der Gemeinschaft erfahren
Kinder die Andersartigkeit als Lebensmöglichkeit und Bereicherung.
Integration bedeutet nicht die Anpassung an das, bzw. die Orientierung von
Kindern am vorherrschenden Leistungs- und Wertesystem, sondern Integration
strebt eine Umorientierung von überbetontem Leistungs- und Konkurrenzdenken, in Richtung gemeinsame Bewältigung anstehender Aufgaben an.
Im Vordergrund stehen die Möglichkeiten und Kompetenzen der Kinder nicht deren Defizite.
Gemeinsame Erziehung sollte grundsätzlich allen Kindern mit Behinderung offen stehen.
Ein wertschätzender Umgang zwischen Kindergarten-Mitarbeiterin und Kind
setzt das tiefe Vertrauen in das Entwicklungsinteresse, die Eigenaktivität und
die Persönlichkeit des Kindes voraus.
Das Ziel und Aufgabe ist: Alle Beteiligten sollen freiwillig, aufgrund eigener Überzeugung, an der gemeinsamen Aufgabe mitwirken.
(Quelle: siehe oben)
(2)
Anregungen für den pädagogischen Alltag – wiederum stich punktartig aufgelistet:
Die Kinder sind Ausgangspunkt, Bezugspunkt und Mitgestalter (Partizipation) der pädagogischen Planung des Alltags.
Der Tagesablauf und die Arbeitsmethoden sollten den jeweiligen Bedingungen und Bedürfnissen wandelbar angepasst werden.
Ausgehend von Vorgesprächen und der Beobachtung erfolgt eine individuelle
Zieldefinition für das Kind mit Behinderung.
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Klare, überschaubare, ggf. individuelle Regeln und Grenzen für das soziale
Zusammenleben und den Alltag werden mit den Kindern erarbeitet, festgehalten und weiterentwickelt.
Ernstnehmen der Kinder durch ihr aktives Miteinbeziehen.
Spiel -, Lern- und Lebensangebote vorbereiten, bei denen Kinder mit unterschiedlicher Ausgangslage unter Berücksichtigung ihrer individuellen Kompetenzen, gemeinsam aktiv werden können.
Damit Lernen sinnvoll wird und Fähigkeiten in realen Handlungsfeldern erfasst und angewandt werden, ist der Alltag des Kindergarten lebensnah zu
gestalten.
Sich eng an den Lebenssituationen der Kinder orientieren.
Notwendige alltägliche Verrichtungen mit Kindern pädagogisch nutzen.
Kinder erleben sich als wichtig und nützlich für die Gemeinschaft, weil sie
etwas bewirken.
Alle Kinder sollten miteinander und voneinander lernen.
Eine vorbereitete, anregende Umgebung schaffen, die den Entwicklungsbedürfnissen der Kinder entspricht.
(Quelle: siehe oben)
(7) Und das zum Schluss – man darf auch scheitern dürfen
Die Zusammenfassung soll in dreifacher Weise erfolgen:
(1) Neue Chancen – neues Glück?
(2) Leitsätze zur Integrativen Arbeit
(3) Man darf auch scheitern dürfen
Zu (1) Neue Chancen – neues Glück
Ich gebe zu, das lange Nachdenken herüber und hinüber zur Integration erbringt nicht
selten die Gefahr, die Begeisterung über diese vergleichsweise neuen „Form“ abzukühlen, behinderte und nicht behinderte gemeinsam zu erziehen und zu bilden, und
mit Kindern unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit pädagogisch zu arbeiten.
Diese grundsätzliche Lust an neuen Konzepten und ganz konkret mit den sich daraus ergebenden wiederum neuen Situationen und Zielen zu arbeiten, gilt als kostbarer Schatz und muss als Motor erhalten bleiben, Alles Grüblerische beschädigt ihn.
Solche starken Impuls lassen tatsächlich neue Ufer erreichen und vielleicht sogar
auch neue „Länder“ (des Lebens) besiedeln. Für viele Situationen erweisen sich „integrativ gelebte Momente“ al alternativlose Bereicherung – sei es in der Familie, im
Kindergarten, in der Schule oder in der Gemeinde. Allerdings darf trotzdem weder
der Glaube obsiegen, heilpädagogische Professionalität kann man ohne jegliches
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Nachdenken durch Begeisterung für jenes neue Miteinander einfach ersetzen oder
auch nur für vernachlässigbar erklären. Behinderte, kranke und belastete Kinder haben ein verbrieftes Anrecht auf fachlich kompetente Hilfe und auf ihnen dienliche,
d.h. fordernde und förderliche Anregungen, wie auch Kinder unterschiedlicher ethnischer Herkunft ein Anrecht auf ihre Kultur, konkret auf ihre Lieder und Märchen,
ihre Bräuche und Tänze, ihre Feste und Gewohnheiten besitzen.
Die jeder (heil)pädagogischen Arbeit inne wohnende Verantwortung speist sich nie
nur aus einem derzeit für vertretbar gehaltenem oder wünschenswertem Konzept und
auch nicht nur aus einem noch so singulär erlebten und beglückenden Augenblick,
sondern immer auch aus der jeweiligen Geschichte der jeweiligen Kinder. Die Geschichte selbst speist sich immer aus der individuellen Geschichte des einzelnen wie
auch über-individuellen Anteilen einer bestimmten Gruppe von Kindern – und nur
von diesen beiden Wurzeln herkommend kann die jeweilige Lebensgeschichte eines
Kindes durch Erziehung und Bildung in die Zukunft fortgeschrieben werden. Weiterentwicklungen wie auch Kurskorrekturen sind dabei stets eingeschlossen und halten
sich die Waage. So muss es nicht immer in jenem oft sorgenvollen und vielleicht sozial isoliertem Trend, bedingt durch eine Behinderung, wie bisher weiter gehen und
man braucht auch nicht alle Sitten und Gewohnheiten unverändert in die Zukunft
weiter getragen. Nicht selten ergibt sich die Lebendigkeit von Lebensgeschichten genau erst aus jenen Umbrüchen und Veränderungen, durch das Wechseln in eine neue
Spur oder durch das mutige Beschreiten eines neuen Weges.
Spielen bei ethnisch unterschiedlichen Kindern vor allem kulturelle Werte, Erlebnisse und gesellschaftlich bedingte Gegebenheiten eine Rolle, unterscheiden sich behinderte und nicht behinderte Kinder anhand drei wichtiger Momente - den jeweils unterschiedlichen Lebenserfahrungen, der oft sehr voneinander geschiedenen Art des
Lernens wie auch der sich unterscheidenden Art und Weise Welt zu begegnen, sie zu
erobern und Teilbereiche davon für sich zu erfassen. Diese spiegeln sich dann – quasi
als Antwort – zu einem großen Teil als „Fragen der Methodik“ im Umgang mit so
unterschiedlichen Kindern wider. Hinzuzurechnen sind noch das jeweilige Verhalten,
ein anderes sprachliches wie auch körperlich-sinnliches (sensumotorisches) Niveau,
ein divergentes Wahrnehmungs- und Lerntempo und die sich zeigenden Gedächtnisleistungen.
Übergeht man diese, kann man bei bestem Willen nicht mehr von „gleichen Chancen“ im Hier und Jetzt, aber auch nicht im Hinblick auf die persönliche Zukunft des
einzelnen sprechen. Dabei geht es ja um ein ständiges Bemühen, berechtigte Hoffnungen im Sinne von Zuversicht auf eine glücklichere Zukunft einzulösen und Lebensmöglichkeiten vor allem dann zu erweitern, wenn man sein Leben mit einer Behinderung oder unter anders motivierten Bedrohungen zu leben hat.
Noch einer der oft übersehenen Gedanken:
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Die Auseinandersetzung mit Fragen nach Integration und deren Wirksamkeit bzw.
Erfolg scheint ja die Richtung unseres Blick von der Behinderung und der damit drohenden Vereinzelung, wenn nicht sogar Isolierung von behinderten Menschen weg
hin zu dem sich neuen, aber auch zu dem gestaltenden Miteinander zu lenken.
Und dennoch hat sich im Vergleich zu früher mancherorts nicht allzu viel geändert.
Wieder dreht sich alles „nur“ um eine Konzeption oder ein Paradigma, eben um
diesen mit viel Hoffnung besetzten „Schlüssel Integration“; verstärkt wird das Ganze
noch durch die Unentschiedenheit bzgl. der Einstellung zur Integration und ihrem
wirklichen oder auch nur vermeintlichen Nutzen. Dabei sollte es in der Erziehung
und in der möglichst früh einsetzenden Bildung um Inhalte gehen und nicht primär
um Methoden oder Maßnahmen – und damit um Entwicklung, Erziehung, Bildung
und Lernen.
Zu Inhalten wird all das, was Kinder brennend interessiert. Inhalte sind auch das,
wovon sie etwas erfahren sollten, um Zutrauen zu sich wie zum Leben zu fassen. Inhalte helfen, mit diesem ihrem Leben zurecht zu kommen und in ihm kreativ zu wirken und zu erfahren, wo man in diesem Leben Freude und Halt findet. Inhalte – als
pädagogisch fachlicher Begriff - gehören der Welt zu – und begegnen uns Menschen
mit eigenen Ansprüchen - nicht nur Kindern - als Farben und Formen, als Geräusche
und Klänge, als Gedichte und als Musik, als Tanz, Theater und Sport, als Technik
und als Öffentlichkeit, als Natur und als Kunst.
Zu (2) Zusammenfassung mit nachfolgenden LEIT-Sätzen:
Die vorausgegangenen Überlegungen lassen sich vereinfacht mit nachfolgenden
Leitsätzen zur (heil)pädagogischen Arbeit in einem integrativ geführten Kindergarten zusammen fassen:
(1) Jeder Aufnahme eines behinderten Kindes, unabhängig vom Schweregrad, muss eine
bewusste wie auch reflektierte Entscheidung voraus gehen, wobei auch alle Bedenken
wie auch alle Träume ihren Platz haben.
(2) Behinderte Kinder sind insonderheit auf ihre Kompetenzen und Erfahrungen hin zu betrachten, ohne ihre Behinderungen oder Schädigungen dabei in unberechtigter Weise zu
vernachlässigen oder gar zu übergehen.
(3) Aufgabe und Ziel eines Integrativ arbeitenden Kindergartens ist nicht primär eine behinderungsspezifische Förderung, sondern die Realisierung eines gemeinsamen Lern-,
Lebens- und Spiel-Alltags und des Gruppenlebens selbst.
(4) Eine integrative (heil)pädagogische Arbeit macht eine hohe interdisziplinäre Zusammenarbeit erforderlich.
(5) Räumliches Zusammensein allein ist eine Voraussetzung für, aber noch keine vollzogene und schon gar nicht eine gestaltete und mit Leben erfüllte Integration.
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(6) Die Auseinandersetzung mit den eigenen Normvorstellungen bzgl. sog. Normalität ist
sowohl für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als auch für die beteiligten Eltern
aller beteiligten Kinder unerlässlich.
(7) Alle Beteiligten sollten dieses Vorhaben in entschiedener Freiwilligkeit angehen und an
der gemeinsamen Aufgabe gemäß der ihnen jeweils gegebenen Möglichkeiten mitwirken. Persönliche Grenzen und Bedenken spielen dabei eine wichtige Rolle – denn nur
Ehrlichkeit kann auf Dauer Gutes bewirken.
(8) Eine entwicklungs- und kulturbezogene Individualisierung stellt die Grundlage jeder
integrativen (Heil)Pädagogik dar, wenn sie fachlich überzeugen und den einzelnen Kindern in ihrer Entwicklung und seinem Selbst-Werden förderlich drin soll.
(9) (Heil)Pädagogische Arbeit wird leider immer wieder als Feld für Ideologisierungen
missbraucht; die Forderung nach Integration ist hierfür ein besonders eindrucksvolles
Beispiel.
(1o) Bei allem Anstrengung – integrative Arbeit ist Versöhnungs-Arbeit – sollten Zuversicht und Lebensfreude den Ton angeben und in das Leben aller Beteiligten, der Kinder, der Eltern wie auch der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Wärme, Energie und
Farbe bringen. Sie strahlt nach außen Begeisterung aus und stellt so auch für andere
ein unübersehbares, gleichzeitig inspirierendes Leuchtfeuer dar.
Wir betonten immer wieder: es gibt keine einseitig Präferenz für das eine und damit
gegen das andere Modell, so wie auch nicht unbedingt „betreutes Wohnen“ in einem
ganz normalen Lebensumfeld immer z.B. einem Wohnen und Leben in einer „Dorfgemeinschaft“ oder einer Großeinrichtung zu bevorzugen ist.
Es kommt bzgl. des Gelingens auf viele Faktoren an, die dazu beitragen oder dem
ganzen Unternehmen entgegen stehen.
Unabhängig vom Erfolg für den Einzelnen ist aber doch noch einmal festzuhalten,
welche Fortschritte wir in der heilpädagogischen Arbeit mit behinderten Kindern machen konnten. Dabei sind selten wir die Klugen, die sich das alles ausdenken, vielmehr haben wir durch sie und mit ihnen in den letzten 4o – 5o Jahren enorm gelernt.
Wer weiß, wohin uns dieser Weg in den nächsten Jahren noch führen wird –ich kann
mir Rückschritte ebenso vorstellen wie auch Fortschritte, wobei ich diese gar nicht
einmal zu beschreiben vermag. Ob uns die Gehirnforschung grundlegend weiter bringen wird, bezweifele ich. Bislang spüre ich bzgl. konkreter Verbesserung der Lernund Unterrichtssituation – zumindest in allgemeinen Schulen - wenig.
Bei aller Dankbarkeit für jeden Schritt nach vorne – vor allem im Vergleich zu
jener Zeit, wo weder Bildung noch Erziehung, sondern nur liebevolle und manchmal
auch nur funktionale Pflege angesagt waren – sollten wir dennoch bedenken, dass
eine Behinderung noch weniger wie eine Krankheit nur darin ihren Sinn in der Welt
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hat, dass man sie beseitigt. Die ideale Vorstellung von „heiler Welt“ und paradiesischem Leben übersteigt das, was uns Menschen als Aufgabe für dieses Erdenleben
übertragen und aufgetragen ist. Behinderungen wie auch Krankheiten sind immer
auch Botschaften für diejenigen, die unmittelbar davon betroffen sind, aber auch an
jene, die im Umkreis oder im Verbund mit den jeweils betroffenen Menschen leben.,
Wir werden zur Weiterentwicklung der Schöpfung mit eingeladen; deshalb forschen wir und wollen die Welt und was sie zusammenhält immer besser verstehen,
sie aber auch immer besser bewahren und sehr sorgsam wie auch verantwortlich
mit ihr umgehen.
Was sicherlich selten nur zu jenem erwünschten Erfolg führt, das ist die Konzentration auf einen Weg, auf eine Methode – und unsere Versuchung, von ihr alles zu erwarten. Integration ist wie ein Schlüssel, der aber – wie das im Leben so ist – nur für
ein bestimmtes Schloss, und selbst wenn er ein Generalschlüssel wäre, auch nur für
bestimmte Schlösser passt.
Zu (3) Man muss auch scheitern dürfen
Konkret – wir müssen auch bei der Integration ein mögliches Scheitern immer wieder einrechnen. Und dieses Scheitern muss erlaubt sein – wir müssen es uns als Eltern, den Pädagogen, natürlich dem Kind und der Methode oder dem Konzept zugestehen.
Scheitern heißt nach dem etymologischen Wörterbuch „in Stücke gehen“, „misslingen“ oder auch „zerschellen“. Das alles sind heftige Wörter. Sie lassen verstehen,
warum uns das Scheitern einer Beziehung, eines Berufes, einer Bewerbung, unserer
Liebe oder unseres Glaubens oder eben auch eines Konzepts wie der Integration so
schmerzt. Nicht nur etwas Konkretes hat sich dabei nicht erfüllt, sondern mit dem
Scheitern werden wir auf das zurück verwiesen, was wir Menschen sind – nicht berechenbare, nicht manipulierbare und auch nicht vorhersagbare Wesen, sondern solche,
die ins „Hoffen verliebt sind“ – und sich am Ende, wenn alles gut geht, beschenken
lassen müssen; und wenn sich die Hoffnungen nicht erfüllen, den Zauber, aber auch
die Mühe des Neuanfanges für sich in Anspruch nehmen dürfen.
Doch ganz wichtig ist, beim Erleben des Scheiterns mit einer vorschnellen Schuldzuweisung vorsichtig umzugehen. Vor allem einseitige Schuldzuweisungen halte ich
für ausgesprochen problematisch.
Weder allein das Kind noch die Lehrer bzw. Erzieher und auch nicht das Konzept
allein sind verantwortlich zu machen, wenn es zu keiner der erwarteten oder erhofften Veränderungen kommt. Scheitern darf man dürfen!
Wir Menschen – so könnte man in Anlehnung an die Existenzphilosophie – zum
Scheitern verdammt – alles, was Menschen beginnen, versuchen und erhoffen, kann
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in einem Scheitern enden – die Liebe, der Glaube, die Moral, der Beruf usw. – und so
auch die Therapie in Sondereinrichtungen oder eben die Integration.
Nicht nach dem Schuldigen sollten wir einseitig und vorschnell suchen, sondern uns
vielmehr mit der Tatsache anfreunden, das wir als Menschen dem anderen - wie vielleicht auch uns selbst - ein Leben lang „schuldig bleiben“, dem anderen etwas „schulden“ oder „in seiner Schuld stehen“ (E. LEVINAS).
Nach einem wie auch immer sich zeigenden oder erlebten Scheitern sind wir erneut
auf den Weg des Suchens gestellt – nach einem anderen Zugang, einer anderen Methode, vielleicht nach einem anderen Lehrer oder Erzieher, nach einem anderen Medikament – d.h. wir werden nicht vom Weg genommen und das, was wir wollten,
muss neu be- und durchdacht werden. Das Suchen als „nochmals von vorne anfangen“ heftet sich an unsere Füße und lässt sich nicht so einfach abschütteln. Wir bleiben aufeinander verwiesen.
Erfolg zu haben heißt sehr oft „frei werden“, sich „frei schaufeln“ oder „frei zu sein“.
Man ist von weiterer Behandlung entbunden, braucht keine neuen Termine mehr
wahrnehmen, keine neue Bewerbung mehr schreiben, keine besonderen Anträge
mehr stellen – doch das Gegenteil ist bei einem Scheitern der Fall. Wir werden nicht
immer frei gesetzt, sondern fühlen uns gebunden, ja angebunden. Übersetzt heißt das:
wir gehen die nächsten Etappen auf unserem Lebensweg wiederum gemeinsam – und
unser Motto heißt nicht aufzugeben als habe alles keinen Sinn, sondern neu anzufangen, zu suchen und, wenn wir Glück haben, an anderer Stelle Lösungen zu finden.
Wichtig ist mir dabei das „und“ – es geht nie nur um jenes verzweifelte Suchen nach
einem doch noch gangbaren Weg, sondern immer auch darum, auch etwas zu finden,
was vielleicht gerade auf diesem nicht gewollten, dennoch gemeinsamen Weg liegt.
Finden zählt ja zu den Tätigkeiten von uns Menschen mit hohen „passiven Anteilen“
– wer finden will, muss sich immer auch finden lassen.
Und wie so oft liegen die spärlichen Goldstücke eben nicht dort, wo uns die Freiheit,
das Vergnügen und das Wohlergehen entgegen lacht und wir uns ent-bunden fühlen,
sondern gerade dort, wo die „Mühe wohnt“, der Weg von Hitze überflutet und zudem
höchst steinig ist und wir uns ge-bunden erleben, aber auch ver-bunden bleiben.
In der deutschen Sprache besteht zwischen dem Wort Reisen und dem Wort Sinn ein
unmittelbaren Zusammenhang. Reisen heißt im Althochdeutschen „sinnanh“ – und
von diesem „sinnanh“ leitet sich das heute vielfach gebrauchte Wort Sinn ab. Suchen
und Finden als Ausdruck für eine Lebensreise, ohne Vorwürfe nach wohin auch immer, aber immer auf dem Weg des Vertrauen und der Zuversicht, gemeinsam dem
Sinn auf der Spur zu sein – ihn zu suchen und sich von ihm auch finden zu lassen.
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Gemeinsam
Vergesset nicht
Freunde
wir reisen gemeinsam
besteigen Berge
pflücken Himbeeren
lassen uns tragen
von den vier Winden
Vergesset nicht
es ist unsre
gemeinsame Welt
die ungeteilte
ach die geteilte
die uns aufblühen lässt
die uns vernichtet
diese zerrissene
ungeteilte Erde
auf der wir
gemeinsam reisen
Rose Ausländer
P.S.: Literatur beim Verfasser
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Dr. Dieter FISCHER, Akad. Direktor, Universität Würzburg, Lehrstuhl Sonderpädagogik II
Privat: Altenbergring 58 – D-97999 IGERSHEIM – o7931/2o5o [email protected]
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