Behinderte Frauen und Männer mit Migrationshintergrund – (k)eine Zielgruppe im Kampf gegen Zwangsverheiratung? Prof. Dr. Swantje Köbsell, Berlin ein Beitrag zur Tagung: Zwangsverheiratung wirksam gekämpfen 16. November 2015 – in Stuttgart-Hohenheim http://downloads.akademie-rs.de/gesellschafts-sozialpolitik/15_11_16_koebsell.pdf Behinderte Frauen und Männer mit Migrationshintergrund – (k)eine Zielgruppe im Kampf gegen Zwangsverheiratung? Prof. Dr. Swantje Köbsell Alice Salomon Hochschule, Berlin Gliederung 2 Migrationshintergrund Behinderung Migration(shintergrund) & Behinderung Zwangsverheiratung & behinderte Frauen und Männer Forderungen/ Maßnahmen Swantje Köbsell, University of Bremen Migrationshintergrund 3 Konstruktion: Unterschiedliche Definitionen, unterschiedlich viele Personen Im Blick dabei immer nur bestimmte Gruppen von Menschen mit Migrationshintergrund Heterogene Gruppe bzgl. Herkunft, Religion, Migrationsgrund, rechtl. Status etc. →den Migrationshintergrund gibt es nicht Swantje Köbsell, University of Bremen 4 Behinderung Swantje Köbsell, University of Bremen Modelle von Behinderung I 5 Medizinisches/ individuelles Modell: Behinderung in der beeinträchtigten Person verortet Wertung als tragischer Schicksalschlag mit Leiden gleichgesetzt ⇒ Betroffene müssen geheilt, „normalisiert“ werden oder sich mt den vorhandenen Bedingungen abfinden Behinderte Menschen gelten als hilflos, bedürftig, geschlechtslos, als Gruppe, die nicht für sich selbst sprechen kann ⇒ Experten müssen für sie sprechen gelten nicht als Rechtsträger_innen sondern Empfänger_innen von Mitleid & Wohltätigkeit ⇒ umfängliche Fremdbestimmung, Expertenmacht Swantje Köbsell, University of Bremen Modelle von Behinderung II Soziales Modell von Behinderung: Trennung von individueller (Beeinträchtigung) und gesellschaftlicher Ebene (Behinderung) entstanden aus polit. Behindertenbewegungen “In our view, it is society which disables ... Disability is something imposed on top of our impairments, by the way we are unnecessarily isolated and excluded from full participation in society. Disabled people are therefore an oppressed group in society” (UPIAS, 1976; zit. n. Priestley, 2003, S. 4) Erkenntnis: Behindert ist man nicht – behindert wird man d.h.: die Gesellschaft muss sich ändern! „Behinderung neu denken“ Behinderung wird von einem individuellen, an einer medizinischen Diagnose festgemachten Problem zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe → Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik „von der Fürsorge zur Teilhabe“ Menschen mit Behinderung sind „Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ UN Behindertenkonvention (2006) → physische, strukturelle, Einstellungsbarrieren Gewalt als behindernde Barriere Vulnerabilität & Behinderung Intersektion Behinderung-weibliches Geschlecht erhöht Vulnerabilität in besonderem Maße für sexualisierte Gewalt: Als hilf- und wehrlos angesehen Abhängigkeit von Personen, die z.T. sehr intime Handlungen vornehmen müssen Isolation Kommunikation: ggf. wenig/keine Sprache Oft keine Vertrauensperson Kein Zugang zu Beratung/ Information Fehlende Glaubwürdigkeit Studie behinderte Frauen (2012) „Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland“ bundesweite Befragung von 1.561 behinderten Frauen im Alter von 16 bis 65 Jahren in Haushalten und in Einrichtungen an 20 Standorten, 31 Tiefeninterviews, Migrationshintergrund unterrepräsentiert → signifikant höhere Betroffenheit von allen Formen der Gewalt als nichtbehinderte Frauen, insb. sexualisierte Gewalt Studie behinderte Männer (2013) Studie 2013 „Lebenssituation und Belastung von Männern mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland“, Migrationshintergrund unterrepräsentiert Ergebnis „verweist darauf, dass bei Männern mit Behinderungen, anders als bei Frauen mit Behinderungen, fortgesetzte und multiple Gewalterfahrungen im Lebensverlauf keine relevante Rolle spielen.“ (119) „beschränkt sich die Höherbetroffenheit von Männern mit Behinderungen durch Gewalt auf körperliche und psychische Gewalt im Erwachsenenleben; sie lässt sich aber nicht im Hinblick auf sexuelle Gewalt und alle Formen von Gewalt in Kindheit und Jugend feststellen.“ (122) Besonders verletzbar unmittelbarer Zusammenhang sexualisierter Gewalt mit Geschlecht & Formen der Beeinträchtigung, die Hilfeleistungen im Kontext von Körperpflege erforderlich machten Regelmäßige Überschreitung von Intimitätsgrenzen: Wo ist der Punkt „NEIN“ zu sagen? Einschränkungen physischer Gegenwehr durch Beeinträchtigung Zusammenhang mit Sozialisation der Mädchen/Frauen zur Anspruchslosigkeit, Minderwertigkeit und Wehrlosigkeit gezieltes Ausnutzen der Behinderung/ von Abhängigkeitsverhältnissen → Druckmittel: Vorenthalten von Hilfeleistungen Behinderung & Heirat als Partner_innen nicht attraktiv Ausfüllen der Rolle als Ehefrau/ -mann angezweifelt Als Eltern nicht erwünscht Behinderung schließt Eheschließung i.d.R. aus (im westl. Kontext) Betroffenheit von Zwangsverheiratung??? Eine Zwangsheirat liegt immer dann vor, wenn einer der zukünftigen Ehepartner mit der Heirat nicht einverstanden ist. Es liegt damit eine zwanghafte Eheschließung vor. Streng davon zu trennen ist die arrangierte Heirat. Die arrangierte Heirat wird zwar von Verwandten initiiert oder von Ehevermittlern arrangiert, aber im Einverständnis der Ehepartner geschlossen. http://www.juraforum.de/lexikon/zwangsheirat Zwangsheirat & Behinderung Keine Daten für Deutschland, Hinweise aus der Praxis Großbritannien, Interviews mit Polizist_innen, Sozialarbeiter_innen,Lehrer_innen etc. 91 Fälle von Zwangsheirat von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen 18-24 Jahre alt, Frauen und Männer gleichermaßen betroffen Gründe Unkenntnis/ Misstrauen gegenüber dem Versorgungssystem → Versorgung/finanzielle Absicherung des behinderten „Kindes“ sicherstellen (und ggf. auch der alt werdenden Eltern) Normalisierung: Annahme, die Hochzeit würde die Beeinträchtigung „heilen“ Angst, dass jüngere Geschwister keine_n Ehepartner_in finden Möglichkeit für Menschen aus dem Herkunftsland, ein Visum/Aufenthaltsrecht zu erhalten Folgen Wiederholte häusliche und sexualisierte Gewalt (vor allem Frauen) Im Vergleich zu nichtbehinderten Zwangsverheirateten noch weniger Möglichkeiten, der Situation zu entkommen: Abhängigkeit von Hilfe, kein Zugang zu Informationen, ggf. keine Möglichkeit allein das Haus zu verlassen, u.U. nicht in der Lage, selbständig Beratungsangeboten aufzusuchen → massive Menschenrechtsverletzung “Zwischen Baum und Borke” 20 In Beratungs- und Unterstützungsangeboten im Kontext Migration Unkenntnis bzgl. Behinderung Versorgungs-/Unterstützungssystem & Beratung im Kontext Behinderung: Unkenntnis migrationsspezifischer Fragen, Angebote von westlicher Sicht auf Behinderung dominiert → in beiden Systemen bleiben behinderte Menschen mit Migrationshintergrund unsichtbar und folglich unversorgt Swantje Köbsell, University of Bremen Schutzräume Nicht auf Bedürfnisse behinderter Menschen ausgelegt Kosten für Assistenz/Unterstützung müssen bis zur Kostenübernahme vorgestreckt werden Bereitschaft „normaler“ Angebote bzgl. der Aufnahme behinderter Menschen oft gering/Ängste UN: Concluding observations Women with disabilities (art. 6) The Committee is concerned about the insufficient action to prevent and combat multiple discrimination of women and girls with disabilities, particularly migrants and refugees, and the inadequate collection of relevant data. The Committee recommends that the State party: Implement programmes for women and girls with disabilities, particularly migrant and refugee women and girls, (…) It also recommends that the State party immediately establish or designate an independent body or bodies (…) and ensure that complaints linked to incidents in institutions are handled by an independent body.” (UN 2015, 6) → Einrichtung einer unabhängigen, vom Staat geförderten Stelle → Entwicklung einer staatlich geförderten Strategie zum Schutz vor Gewalt Maßnahmen allg. Potentielle Opfer stärken, über Rechte und Unterstützungswege informieren Anbieten von Selbstbehauptungskursen/ Empowerment Lehrer_innen, Schulsozialarbeiter_innen, Gruppenleiter_innen sind oft die einzigen Außenkontakte → Anzeichen, Handlungsoptionen Unterstützer_innen sichtbar in Schulen, Einrichtungen der Behindertenhilfe etablieren (→ Frauenbeauftragte in Einrichtungen) Familien über Unterstützungsmöglichkeiten informieren – gesicherte Versorgung ohne Zwangsheirat, Zusammenarbeit mit Gemeinden Alle relevanten Stellen dafür sensibilisieren, dass auch behinderte Menschen zwangsverheiratet werden Mit Behördenvertreter_innen Finanzierungsoptionen für Hilfsmaßnahmen abklären Schutzräume/-programme: Strategien für diese Gruppe entwickeln Maßnahmen UN BRK Artikel 16 Freiheit von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch Artikel 17 Schutz der Unversehrtheit der Person → Berücksichtigung des Themas in Aktionsplänen zur Umsetzung der UN BRK → Berücksichtigung des Themas im geplanten nationalen Behinderungssurvey Schließen der Lücke zwischen Behindertenversorgungssystem und Angeboten für Menschen mit Migrationshintergrund: beide müssen inklusiver werden, um möglichst allen Betroffenen im Falle (drohender) Zwangsheirat helfen zu können und weitere Menschenrechtsverletzungen verhindern können Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Quellen HM Government (2010): Forced Marriage and Learning Disabilities: Multi-Agency Practice Guidelines, London, http://www.womenssupportproject.co.uk/userfiles/FORCED%20MARRIAGE%20GUIDELINES%20SP.pdf (01.11.15) Jungnitz, Ludger; Puchert, Ralf; Schrimpf, Nora; Schröttle, Monika; Mecke, Daniel; Hornberg, Claudia (2013): Lebenssituation und Belastung von Männer mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland – Haushaltsbefragung. – Abschlussbericht –, http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDFPublikationen/Forschungsberichte/fb435.pdf?__blob=publicationFile (01.11.15) Köbsell, Swantje (2012): Wegweiser Behindertenbewegung. Neues (Selbst)Verständnis von Behinderung, NeuUlm: AG SPAK. Leonard Cheshire Disability and Inclusive Development Centre (2014):Forced Marriage among Persons with Intellectual Disabilities: Discussion Paperhttps://www.ucl.ac.uk/lcccr/centrepublications/workingpapers/WP27_Forced_Marriage_Persons_with_Intellectual_Disabilities.pdf, (03.11.2015). Priestley, Mark (2003), Worum geht es bei den Disability Studies? Eine britische Sichtweise. In: Waldschmidt, Anne, Kulturelle Perspektiven der Disability Studies. Tagungsdokumentation, Kassel. Schröttle, Monika; Hornberg, Claudia et al. (2012): Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland. Kurzfassung. Berlin. Eine repräsentative Untersuchung im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/Lebenssituation-und-Belastungen-vonFrauen-mit-Behinderungen-Kurzfassung,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf (01.11.15) United Nations, Committee on the Rights of Persons with Disabilities (2015): Concluding Observations on the initial Report of Germany, http://daccess-ddsny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G15/096/31/PDF/G1509631.pdf?OpenElement (05.11.15) Valle, Jan D. & Connor, David, J. (2011), Rethinking Disability. A Disability Studies Approach to Inclusive Practices, New York. Wansing, Gudrun; Westphal, Manuela (2014) (Hg.): Behinderung und Migration. Inklusion, Diversität, Intersektionalität, Wiesbaden: Springer. Diese Präsentation ist ausschließlich zum privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen, schriftlichen Genehmigung der Urheberin/des Urhebers bzw. der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Alle Rechte bleiben bei der Autorin/dem Autor. Eine Stellungnahme der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart ist durch die Veröffentlichung dieser Präsentation nicht ausgesprochen. Für die Richtigkeit des Textinhaltes oder Fehler redaktioneller oder technischer Art kann keine Haftung übernommen werden. Weiterhin kann keinerlei Gewähr für den Inhalt, insbesondere für Vollständigkeit und Richtigkeit von Informationen übernommen werden, die über weiterführende Links von dieser Seite aus zugänglich sind. 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