Fehlerkultur im Kinderschutz - Kinderschutz

Fehlerkultur im Kinderschutz
Vortrag beim Deutschen
Kinderschutzbund e.V.
Landesverband Hannover 2015
Themenübersicht
1. Worum geht es heute in der
Fehlerkulturdebatte?
2. Was ist hier unter „Kultur“ zu verstehen?
3. Was heißt Fehlerkultur im Kinderschutz?
4. Ist der Kinderschutz in Deutschland
schon gut gesichert?
5. Welche Empfehlungen sollten Beachtung
finden?
Begriffe: Fehlerkultur,
Fehlermanagement
• Fehlerkultur = die Art und Weise, wie die
Mehrheit in einem Milieu mit Fehlern umgeht.
• Fehlermanagement = gezielte Steuerung von
Aktivitäten im Umgang mit Fehlern, Nähe zu
Qualitätsstandards, zu Innovationsmanagement
aber auch zur generellen Entwicklung von
einzelnen Organisationen oder von Branchen.
Wo interessiert man sich für die
Fehlerkulturdebatte?
• Begriff aus der Technik, dann in den
• Wirtschafts- und Sozialwissenschaften
• heute in Hochsicherheitssystemen der
Flug- und Atomindustrie
• in schulischen Kontexten
• in klinischen Milieus
• neuerdings im Kinderschutz (Biesel,
Fegert et. al., Tsokos/Guddat)
Anfänge der Debatte in der
Wissenschaft im 20. Jahrhundert
• zuerst Fehler in der Pädagogik – Psychologie
des Fehlers (Weimar/Kießling)
• Fehlleistungen des Unbewussten bei Freud
• Später: Fehler in Hochrisikomilieus –
Reaktorunfälle (ThreeMiles Island, Tschernobyl)
• Beck: Risikogesellschaft, überall Risiken
• Lernen heute nicht mehr adaptatives Anpassen,
sondern Lernen durch Herausforderungen,
Lernen durch Fehler
Die lernende Organisation – Fehler
im Zentrum des Managements
• Kaizen in Japan – permanente Fehlerreflexion
• in europäischer Wirtschaft neue Begriffe: gegen
Fehlervermeidungsstrategien nun
Fehlertoleranz, Fehleroffenheit,
Fehlerfreundlichkeit
• der produktive Umgang mit Fehlern wird zum
relevanten Wettbewerbsfaktor
• päd. Psychologie: (Oser/Spychinger)
Fehlerforschung
• der Begriff „Fehler-Lernen“ bleibt aber trotzdem
ein Problem - Paradoxie
Immer zwei Ebenen von Fehlern
1. Fehler einzelner Personen
- Aufgaben werden unaufmerksam,
fehlerhaft oder gar nicht wahrgenommen
2. Systemfehler:
- Die Struktur eines Systems erzeugt Fehler
z.B. ist zu unbeweglich oder
- Die Kultur eines Systems erzeugt Fehler
auf verschiedenen System-Ebenen
Kultur – Organisationskultur Fehlerkultur
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•
•
1.
Nähe zur Organisationskultur (Schein 1995)
Culture = Kulturanthropologie
OK drei Ebenen, nur durch Deutung
äußere Merkmale, wie werden Fehler zur
Kenntnis genommen (Listen usw.)
2. Welche Normen sind für ihre Bewertung
maßgeblich (offenlegen, vertuschen usw.)
3. wie sind diese Sichtweisen und
Handlungsmuster auch im Unbewussten bei
den Organisationsmitgliedern mit
existenziellen Themen verankert
Einflüsse auf die Kultur
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•
Branche – Branchenkultur
Dauer des Bestehens einer Organisation
Konstanz/Fluktuation der Mitglieder
hierarchischer Aufbau
Kompetenzen/Qualifikationen der
Mitarbeiter, berufliche Vielfalt
• Leitung als zentraler Faktor (Kets de Vries)
Zentrale Bedeutung für Fehlerkultur
Fehlerstrategien in Pädagogik und
Wirtschaft
• PädagogInnen betonen positives
Lernklima durch Fehlerlernen
• Für QualitätsmanagerInnen ist optimale
Fehlerkultur maximale Fehlervermeidung
• Für InnovationsmanagerInnen gelten
Fehler als Chance zu Neuem
• Vertreter der lernenden Organisation
fördern Fehleroffenheit zur Stärkung der
kollektiven Problemlösungskompetenz
Aber: Fehlermanagement und
Fehlerkultur in Risikomilieus
• Wenn es um die Sicherung von Menschen vor
Gefahren geht, erhalten Fehler eine andere,
eine bedrohliche Bedeutung.
• Luftfahrt als Modell: Trotz Steigerung des
Flugaufkommens in den USA von 299 auf 634
Mio ging Todesrate stetig zurück
• Unerwünschte Zwischenfälle und
• „Beinahe-Unfälle“ sind unvermeidlich
• Fehlerate beim Ablesen der Instrumente ca10 %
• bei gefährlichen Ereignissen sogar 25%.
Fehlermanagement in Kliniken
• jedes Jahr sterben etwa 17 000 Menschen
durch Behandlungsfehler
• Ursachen: Infektionen, Medikamente,
weniger in Fehlleistungen der Ärzte als in
• Systemfehlern: wie Schwächen im
Pflegepersonal, in Diagnostik, Therapie,
Prävention, mangelnde Komm. der Ärzte,
ihrer Kultur (Befragung bei Krisen, zu
überheblich 70% Klinik, 26% Piloten)
Fehleranalyse in Risikomilieus
• Formale Hierarchie (Klinik, der Chef hat
immer Recht)
• Autoritätshörigkeit (Flugverkehr)
z.B. 1988-1998 spektakuläre Abstürze bei
den Koreanern; Koreanische Höflichkeit
(Ko-Pilot durfte nicht eingreifen)
erst nach Training Verbesserung,
allerdings neuerdings wieder nationalkulturelle Probleme
Fehlervorstufen, Fehlerkumulierung
bei Katastrophen
• latente Fehler
• kritische Ereignisse
• Beinahe-Komplikationen
• aktive Fehler
Beispiel aus der Chemie-Industrie
Beispiel der Titanic: Fehlerkumulierung
- zu wenig Rettungsboote, Kapitän ignorierte
Gefahr von Packeis, wollte Rekord aufstellen,
Annahme von Unsinkbarkeit, kein passendes
Fernglas, 1. Offizier gab Anweisung – Volldampf
voraus) dann Katastrophe
Worauf zielt die Fehlerkultur im
Kinderschutz?
Kinder müssen bewahrt werden vor
1. physischer Misshandlung
2. vor Vernachlässigung
3. vor psychischer Misshandlung
4. vor sexuellem Missbrauch
Und wer schädigt die Kinder – fast immer die
Eltern
Säuglinge und Kleinkinder bis 4 Jahren am
häufigsten betroffen
Sorgfältige Beachtung von Risiken
ist zentral (Tsokos/Guddat)
•
•
•
•
sehr junge Eltern
allein erziehende Elternteile
Isolierung/soziale Verarmung
Krankheit der Eltern v.a. psychische K.
und Suchterkrankungen
• materielle Armut
Merkmale der Fehlerdebatte im
Kinderschutz
• Es handelt sich noch mehr als im
Gesundheitswesen um ein Feld, das schwer zu
operationalisieren ist
• das immer mehrdeutig bleibt, immer Balancen
erfordert (Gefahr der Stigmatisierung)
• Kinder müssen vor Gefahren geschützt werden,
aber auch Fachkräfte vor unangemessenen
Forderungen der Familien, der Organisationen,
der Öffentlichkeit
Was sind denn überhaupt Fehler im
Kinderschutz (nach Fegert)?
•
•
•
•
•
unvollständige Nutzung von Informationsquellen,
strukturelle, organisatorische Schwierigkeiten
Untätigkeit bei Hilfeverweigerung der Eltern
Verkennung der Gefährdungslage
Mangelnde Diagnostik des Elternhauses bei
Alkoholismus, Drogenkonsum, Delinquenz,
Psychosen
• Nichtbeteiligung der Kinder
• keine Supervision, keine Falldiskussionen
Weitere Fehler, die öffentlich
thematisiert werden
• Unvollständiger Eindruck von Eltern/Kindern
• Meldungen von Dritten werden nicht oder falsch
bewertet, Furcht vor Stigmatisierungen
• Aussagen der Eltern werden nicht hinterfragt
• zu wenig Kontrollen
• männliche Partner meist nicht berücksichtigt
• mangelnde Dokumentation
• All das wegen Personalmangel, Überlastung ?
Welche Fehler müssen unbedingt
vermieden werden (Biesel)
• Fehler in der Interaktion mit den Eltern
• Fehler durch mangelnde Anerkennung und
Beteiligung
• Fehler durch mieses Image des Amtes
• Normative Fehler (Voreingenommenheit)
• Entscheidungs-, Deutungsfehler
• mangelnde Kooperation mit Ärzten, Polizei
usw.
Ursachen von Fehlern
• auf Seiten einzelner Personen (Familie,
Mitarbeiter)
• auf Seiten der gesamten Organisation
Vergleich Dormagen/Schwerin
Zentral: Biesel zeigt drei Systemtypen im
Kinderschutz mit den entsprechenden
Fehlerkulturen
1. Pathologische Kultur
• niemand möchte sich mit Fehlern befassen,
schon der Begriff wird als unpassend begriffen
• Fehlermelder (whistleblower) werden diffamiert
• Niemand übernimmt Verantwortung für die
Fehler
• Fehler werden bestraft, deshalb vertuscht
• Jede Innovation wird abgelehnt
• Eltern gelten vielfach als unantastbar aus
ideologischen Gründen
2. Bürokratische Kultur
• Fehler werden als notwendiges Übel
betrachtet
• Übermittler von Fehlern werden zwar
angehört, aber nicht weiter beachtet
• Fehler werden einzelnen Fachkräften auf
unteren Hierarchie-Ebenen zugeschoben,
dann ein bisschen am Symptom kuriert
• alles geht aber weiter wie bisher
3. Optimale Fehlerkultur
• Mitarbeiterinnen werden geschult, Fehler schnell
zu erkennen (z.B. Gerichtsmedizin, Psychologie)
• Verantwortung wird gemeinsam übernommen
• erkannte Fehler führen zu organisatorischen
Veränderungen
• Aber – Veränderung muss viel tiefer und
umfassender greifen:
Optimale Verankerung der Kultur
• ASD muss im Jugendamt gut verankert sein
• übergeordnete Ebenen müssen sich für deren Arbeit
interessieren
• Freie Träger müssen vom ASD stärker überwacht
werden
• qualifizierte Fallarbeit, im Wochenrhythmus verankert
• Und die Führungskräfte haben für eine gute Fehlerkultur
zu sorgen – nach oben und nach unten (sollte Coaching
beanspruchen)
• Führungskräfte müssen für Ressourcen kämpfen
• Eine gute Fehlerkultur setzt entschiedene Führung
voraus – was ist mit der Führungskultur in den
Jugendämtern?
Fehlerkultur auf nationaler Ebene
• Vorbild: englischsprachige Länder haben
Berichtswesen (Vorfälle, kritische
Ereignisse)
• Politik sollte Ressort übergreifende Arbeit
aus Jugendämtern, Medizin, (Pädiater,
Gerichtsmediziner), Pädagogen, Polizei
fördern
• Politik sollte Forschung im Kinderschutz
fördern
Und die Politik?
• Die Deutsche Familienpolitik, zumal im Westen
war/ist extrem familialistisch
• Wenn die Kinder mehrheitlich in
Kitas/Kigas/Ganztagsschulen sind, reduzieren
sich automatisch die Gelegenheiten für
Misshandlungen.
• Das negative Extrem ist heute das
Betreuungsgeld
• Gute Beispiele: Schweden, Finnland,
Niederlande, Frankreich, engmaschige
Hilfsangebote.
Also - sind wir heute schon gut
aufgestellt?
Nein, man kann es einfach nicht bejahen, es
kommen immer noch viel zu viele Kinder
in Deutschland zu Schaden. Das
Vorsorgenetz ist viel zu schwach
professionalisiert und zu grobmaschig.
Zum Schluß: Literatur zur
Fehlerkultur im Kinderschutz
• Biesel, K. (2011): Wenn Jugendämter scheitern.
Zum Umgng mit Fehlern im Kinderschutz.
Bielefeld: transskript.
• Fegert, J.M., Ziegenhain, U., Fegerau, H.
(2010): Problematische Kinderschutzverläufe.
Mediale Skandalisierung, fachliche
Fehleranalyse und Strategien der Verbesserung
des Kinderschutzes. Weinhein: Juventa Beltz.
• Tsokos, M., Guddat, S. (2014): Deutschland
misshandelt seine Kinder. München: Droemer.
Danke
• für Ihre Aufmerksamkeit