LERNEN FÖRDERN Landesverband Baden-Württemberg Landesverbandstagung 2000 Workshop ADS – Aufmerksamkeitsdefizitsstörungen Was ist das? Welche Unterstützung braucht ein betroffenes Kind? Dr. med. Helma Seither-Decker Die Diagnosen ADS - Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom und ADHS - Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit Hyperaktivität werden in letzter Zeit auch in Deutschland immer häufiger gestellt. Ist dies nun ein Fortschritt für die Betroffen, für die Kinder und ihre Eltern, oder sind Kritik und Aussagen wie „Modediagnose“, „Entschuldigung für mangelnde Erziehung“, „zeit- und umweltbedingt“ etc. berechtigt? Als Ursache der Hyperaktivität und der Verhaltensauffälligkeit eines Kindes wurde und wird zum Teil bis heute kindliches oder erzieherisches Fehlverhalten angenommen. Bereits seit dem 18. Jahrhundert wird das Symptom jedoch immer wieder in der Literatur beschrieben. So ist uns allen der „Zappelphilipp“ aus dem Struwwelpeter bekannt. Der Arzt und Psychiater Dr. Heinrich Hoffmann schilderte 1846 sehr eindrucksvoll die Symptome eines hyperaktiven Kindes. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts meinte der englische Kinderarzt Still, dass für diese Störung nicht schlechte Erziehung oder ungünstige Umweltbedingungen sondern eine angeborene Konstitution verantwortlich seien. Trotz intensiver Forschung ist die Ursache des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms auch heute nicht definitiv bekannt, man geht jedoch davon aus, dass es sich um eine neurobiologische Funktionsstörung der Hirnabschnitte handelt, die für die übergeordneten Steuerungs- und Koordinationsaufgaben in der Informationsverarbeitung des Gehirns zuständig sind. Dadurch bedingt kann das Gehirn innere unwichtige und äußere wichtige Reize und Impulse schlecht hemmen und ausfiltern. Wichtiges und Unwichtiges werden gleichermaßen aufgenommen, diese „Reizfilterschwäche“ führt zu einer Reizüberflutung. Außerdem gilt als sicher, dass Erbfaktoren eine Rolle spielen: ADS-Kinder haben sehr häufig hyperaktive Geschwister, Mutter oder Vater oder andere Verwandte. Auch Schädigungen während der Schwangerschaft oder Geburt kommen als Ursache in Frage. Fehlerhafte Erziehung alleine kann für das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom nicht verantwortlich gemacht werden, wohl aber kann die Problematik dadurch gravierend verstärkt werden. Das familiäre und soziale Umfeld kann sich sowohl positiv als auch negativ auf die Ausprägung der Symptome auswirken. Die Diagnose ADS / ADHS sagt nichts über die Intelligenz des betroffenen Kindes aus, vielmehr liegt die Streuung wie bei allen anderen Kindern auch. Während man früher vom „Auswachsen“ der Symptome ausging, überwiegt heute die Überzeugung, dass im Erwachsenenalter die äußere motorische Unruhe lediglich einer inneren Unruhe weicht, die die Lebensführung der Betroffenen weiterhin beeinträchtigen kann. Priorität jeder Therapie muss deshalb sein, das Leben trotz ADS selbst in den Griff zu bekommen. Nicht die Umwelt muss sich nach dem ADS-Kind richten, sondern das ADS-Kind muss lernen, in seiner und mit seiner Umwelt zurecht zu kommen. Je nach Ausprägung der Störung und dem damit verbundenen Leidensdruck des Betroffenen und seiner Umwelt kann eine medikamentöse Behandlung zusätzlich zur Therapie erforderlich werden. Manchmal ermöglicht auch erst die medikamentöse Behandlung eine Kontaktaufnahme und die Verhaltenstherapie des Kindes. Als Medikament wird an erster Stelle Methylphenidat (Ritalin) verordnet, das in den USA bereits seit 60 Jahren bei ADS eingesetzt wird. Methylphenidat ist kein Beruhigungsmittel sondern zählt zur Gruppe der Stimulanzien. Ein stimulierendes Mittel hilft diesen Kindern, ruhiger und konzentrierter zu LERNEN FÖRDERN Landesverband Baden-Württemberg Landesverbandstagung 2000 werden. ADS-Kinder sind unkonzentriert und motorisch hyperaktiv, da ihnen die notwendigen Transmitter (Überträgersubstanzen) zwischen den einzelnen Neuronen im Gehirn fehlen, um wach zu sein. (Ein ähnlicher Vorgang besteht, wenn gesunde Kleinkinder bei Übermüdung unruhig und zappelig werden.) Durch Medikamente werden die Kinder entgegen weit verbreiteter Meinung also nicht „ruhig gestellt“, vielmehr versetzen Stimulanzien betroffene Kinder in die Lage, ihre Ressourcen besser zu nutzen und dies äußert sich häufig in besseren Schulleistungen und Ruhe in ihrem Umfeld. Auch die besonders bei Mädchen beobachteten Tagträumereien weichen einer erhöhten Aufmerksamkeit, die Kinder lassen sich nicht mehr so leicht von einer Aufgabe ablenken und führen diese zu Ende. Früher war man der Meinung, dass vorwiegend Jungen betroffen sind, da sich vorwiegend bei ihnen bereits im Vorschulalter das „klassische“ ADS - Erscheinungsbild mit motorischer Unruhe zeigt und sie spätestens im Schulalter verhaltensauffällig werden und durch schlechte Leistungen auffallen, während bei Mädchen häufiger die Symptome der Unaufmerksamkeit auftreten und sie damit nicht durch störendes Verhalten auffallen. Kriterien für die Diagnose der beiden unterschiedlichen Erscheinungsbilder DSM IV (internationales Manual psychischer Störungen) 1. ADS - Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom 2. ADHS - Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit Hyperaktivität 1. Kriterien der Unaufmerksamkeit - ADS ♦ Konzentrationsschwäche, Vergesslichkeit, Flüchtigkeit ♦ Mühe mit der Daueraufmerksamkeit (bei großem Interesse kann lange fokusiert und konzentriert gearbeitet werden) ♦ Mühe mit Anleitungen und bei alltäglichen Verrichtungen ♦ Mühe, Arbeiten zu Ende zu bringen. ♦ Mühe, sich länger geistig anzustrengen ♦ häufiges Verlieren und Verlegen ♦ leichte Ablenkbarkeit durch äußere Reize ♦ übermäßige Vergesslichkeit im Alltag 2. Kriterien der Hyperaktivität und Impulsivität - ADHS ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ Ständige Unruhe in Händen und Füßen Mühe, ruhig sitzen zu bleiben „Zappelphilipp“ - bei Erwachsenen innere Unruhe Schwierigkeit, ruhig zu spielen „innerlich wie von einem Motor angetrieben“ übermäßiges Reden Antworten bevor die Frage vollständig gestellt wurde kann nur schwer warten störendes Verhalten anderen gegenüber LERNEN FÖRDERN Landesverband Baden-Württemberg Landesverbandstagung 2000 ⇒ Beginn dieser Symptome im Kindesalter ⇒ die Symptome müssen sehr ausgeprägt sein und ⇒ die persönliche Entwicklung nachhaltig behindern ⇒ über mindestens sechs Monate hinweg anhalten und ⇒ sich in unterschiedlichen Lebensbereichen (Kindergarten, Schule, Freizeit, zu Hause oder am Arbeitsplatz) manifestieren. ⇒ Je nach Ausprägungsart der Störung unterscheidet DSM IV zwischen dem Vollbild oder Teilstörungen mit vorwiegender Aufmerksamkeitsproblematik (ADS) bzw. Hyperaktivität / Impulsivität (ADHS). Praktisch alle betroffenen Kinder zeigen die folgenden Leitsymptome: - Aufmerksamkeitsbeeinträchtigung - Probleme bei der Impulskontrolle - starke Bewegungsunruhe Grundsätzliche Regeln für die Bewältigung des Alltags in der Schule und zu Hause, die das Zusammenleben wesentlich erleichtern: 1. Kinder mit ADS brauchen klare Regeln und Strukturen, bei ihnen darf man nicht heute so und morgen anders entscheiden. 2. Kinder mit ADS brauchen Steuerungshilfen - bei der Zeiteinteilung - bei der Aufgabenerarbeitung - bei der Organisation des Tagesablaufes 3. Differenzierung in der Familie und als zentrales Unterrichtsprinzip „Kinder gerecht behandeln heißt, sie ungleich behandeln“ (Sennlaub) - individuelle Aufgabenstellung 4. langer Atem und Geduld ⇒ die Maßnahmen zeigen keine Sofortwirkung 5. Nicht können heißt nicht nicht wollen - durch die Konzentrationsschwierigkeiten ist es für hyperaktive Kinder geradezu typisch, dass eine Aufgabe einmal gelingt und beim nächsten Mal nicht - starke Schwankungen im Leistungsbild sind „normal“ 6. Positive Seiten des Kindes beachten rückmelden. (auch seinen Eltern bzw. Lehrern!) 7. Vertrauen vermitteln - das Kind nicht „abschreiben“, sondern an seine Fähigkeiten glauben 8. Kooperation und Hilfen suchen und anbieten - auch Zusammenarbeit Eltern / Lehrer mit Therapeuten und Ärzten Aus medizinischer Sicht erforderliche pädagogische Maßnahmen im Unterricht 1. Spannung und Entspannungsphasen (Rhythmisierung) 2. Bewegungsraum schaffen und zulassen 3. Strukturierungshilfen - überschaubare Teilaufgaben - Erinnerungshilfen - Signalkarten zur Unterstützung der Verhaltenskontrolle LERNEN FÖRDERN Landesverband Baden-Württemberg Landesverbandstagung 2000 - Zeitstrukturen sichtbar machen (deutlich lesbare Uhr) 4. Direkte Rückmeldungen auf konkrete Ereignisse und Verhaltensweisen 5. Hilfen zur Selbstkontrolle anbieten 6. interessantes Arbeitsmaterial anbieten (z.B. intensive Farben)
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