ÜBER-WERTE
ADRIAN HERRMANN
„Meinen Sie nicht auch, es wäre mal wieder angebracht, über
Werte zu reden?“, fragt die Figur der Öffentlichen Meinung
in der Konstanzer Inszenierung von Orpheus in der Unterwelt
recht suggestiv. Was aber ist ein Wert?
Anfang 2015 wird Alexander Tsipras griechischer
Ministerpräsident, sein Finanzminister wird Yanis
Varoufakis. Gut ein halbes Jahr später ist letzterer nicht
mehr im Amt, Tsipras muss sich unsicheren Neuwahlen
stellen. Ein wenig ähneln die griechischen Politiker Göttern wie Jupiter aus Orpheus in der Unterwelt. Was sie auch
tun, irgendjemanden werden sie verärgern, ihre Macht
bekommt Symbolcharakter. Die oft und gerne beschworene Wiege der Demokratie und Europas, sie hängt
gefährlich schief. Und in Deutschland sorgen Medien wie
BILD mittels Stimmungsmache gegen die so genannten
„Pleite-Griechen“ für ein schlechtes Image. Griechenland
ist wertlos geworden.
157 Jahre zuvor erlebt ein griechischer Mythos eine ähnliche
Schieflage: Orpheus, der göttliche Sänger, wird von Jacques
Offenbach zum gehörnten und fremdgehenden Ehemann
degradiert. Treue als Wert verliert an Bedeutung. Noch gibt
die feierwütige Gesellschaft sich blind – Siegfried Kracauer
spricht später von einer kollektiven Verdrängung – aber die
Doppeldeutigkeit von Schein und Sein rückt ins Bewusstsein,
die Auflösung der Idee von Repräsentationssystemen ist im
Gange, Karl Marx entwickelt die Idee von Gebrauchs- und
Tauschwert. Doch alles was stört wird ausgeblendet. Schein
und Sein fallen noch nicht immer offenkundig auseinander.
Im Grunde aber ist Orpheus in der Unterwelt das formgewordene Unterbewusstsein des Orpheusmythos der modernen Zeit.
Werte werden in dieser Operette damit zu einer ganz neuen Kategorie erhoben: Sie werden verhandelbar und damit Gegenstand eines
Systems, das letztlich auf Zuschreibungen und Glauben basiert. Marx
als Analyst seiner Zeit hat dies als erster erkannt, Offenbachs Orpheus
führt es vor.
Themen wie „Treue“ oder „Macht“ sind nach wie vor aktuell. Doch sie
changieren nun zwischen den Polen wie „Wert“, sprich: wertvoll, und
„Lappalie“.
Die Neufassung der Operette durch Thomas Pigor setzt diesen Gedanken konsequent fort, indem sie selbstreferenziell wird, also die eigene
Wertigkeit thematisiert und zur Debatte stellt: Das oft oberflächliche
Gebaren der Gattung Operette wird so metahaft, quasi zur Eigendiagnose. Selbstanalyse und (Selbst-)Ironie schaffen kritische Distanz, ob
im Bereich der sozialen Rollen oder der Politik. So löst sich in diesem
Orpheus in der Unterwelt endgültig der theaterhafte Schein vom Sein und
stellt die offene Frage nach Wertigkeiten heute.
Und genau damit spielt auch die Inszenierung: Die Gemachtheit und die
Illusion, sozusagen das theatrale Blendwerk, werden offengelegt. Der naive
Witz der Überzeichnung weist überdeutlich auf die Vorgänge hin aufgrund
derer gesellschaftliche Wertungen sich vollziehen. So wird die Suche nach
Gründen in der komikhaften Überzeichnung evident – und ersichtlich,
dass die so genannte öffentliche Meinung oftmals eher PEGIDA, BILD
oder Twitter heißt, als dass sie ein wirkliches Meinungsbild darstellt. Der
inszenierte Skandal aber ist die reale Bedrohung, denn er kann wertzerstörend wirken.
Alex Tsipras und Yanis Varoufakis werden das Dogma der PleiteGriechen und Fiskusräuber nicht mehr loswerden. Ihre Identität ist
festgelegt durch die Deutungsübermacht der Gläubiger und Medien.
Sie haben ihren Wert verloren, die Götter aus Orpheus konnten ihren,
trotz Orgien im Ergo-Versicherungsstil, gerade noch einmal wahren.
Auf Fragen nach Werten aber haben sie keine Antworten mehr. Diese
müssen im gesellschaftlichen Diskurs neu bestimmt werden.