04/2015 soziale psychiatrie im kino »Freistatt« Heul doch! Man stellt sich auf ein paar lässige Kinobesuche ein und freut sich auf klimatisierte Säle. Pustekuchen! Die winzigen Kinos mit Namen wie »Zukunft«, »Kino« oder »Central« finden sich in Hinterhöfen, alternativen Projekten oder im hintersten hippen Neukölln. Schwitzen ist angesagt, meistens bleibt man allein oder zu zweit und kann die Beine über die Lehne des Vordersitzes werfen. Jetzt bloß nicht einschlafen. Ich träume von harten Jungs und allzu labilen Mädchen. Dann bin ich plötzlich im Allgäu und Herr Mollath singt mit Untertiteln. Sorry, das ist wohl ein bisschen zu viel gewesen. Was sie nicht umbringt, macht sie härter 1968 in einer Außenstelle der von Bodelschwinghschen Anstalten. Der Spielfilm »Freistatt« wurde aufwendig an Originalschauplätzen gedreht. Der 14-jährige Wolfgang muss ins Heim, weil sein Stiefvater eifersüchtig ist. Wolfgang hatte schöne Jahre mit seiner Mutter, nun ist er nur noch im Weg. In der Diakonie Freistatt gerät er in die Mühlen eines perfiden Systems, geprägt von schwärzester Pädagogik. Die Jungs verbringen den Tag beim Torfstechen, die Nacht im Schlafsaal. Es wird schikaniert und geprügelt, vorzugsweise mit der Schaufel gegen den Kopf. Sexueller Missbrauch, das wird beiläufig angedeutet, ist an der Tagesordnung. Fehlhandlungen einzelner Zöglinge muss immer das ganze Kollektiv ausbaden: Die abendli- 56 »Tribe« Geschlechterspezifische Strategien im Kinosommer 2015 / Filmknäcke Von Ilse Eichenbrenner che Wassersuppe wird gestrichen, oder alle müssen in den Bunker. Wolfgang rebelliert immer wieder, und als Zuschauer identifiziert man sich nur zu gerne mit ihm. Er ist aufmüpfig und schlägt immer häufiger selbst zu. Die Brutalität der Erzieher, die »Bruder« genannt werden, lässt ihn selbst immer brutaler werden, während andere längst gebrochen sind und sich anpassen. Es gibt eine schöne, fast euphorische Szene, in der die Jungs »Sometimes I feel like a motherless child« grölen und eine kleine Revolte anzetteln. Wolfgang versucht immer wieder auszubrechen, versinkt entweder im Moor oder wird eingefangen und bestraft. Schließlich gelingt ein Ausbruchsversuch gemeinsam mit einem Kameraden, doch Wolfgang wird von seiner Mutter auf hinterlistige Weise zurück ins Heim verbracht. Zur Strafe wird er im Torf begraben und erst kurz vor dem Erstickungstod gerettet. Sein Gefährte erhängt sich. Nun ist Wolfgang endgültig versteinert. Er kämpft sich in der Hierarchie der Zöglinge nach oben, wird härter und heimtückischer und taugt nicht mehr als Identifikationsfigur. Der Zuschauer ist allein. Wolfgang wird zwar regulär entlassen, kehrt aber nicht wirklich in sein altes Leben zurück. Die Pervertierung des hübschen Jugendlichen zu einem antisozialen Charakter macht den Film so ungewöhnlich. Hier gibt es nicht nur Täter und Opfer, sondern die Opfer werden zu Tätern, und man ist dabei. Psychiatrisch Tätige kennen die Endstrecke dieser Entwicklung, aber nicht immer die dahinterliegenden Biografien. Der Film gibt drastisch Nachhilfe. Obwohl dies eine deutsche Geschichte ist, wurde kein typisch deutscher Film gedreht. Das ist irritierend, macht den Film aber auch sehenswert. Die Bilder sind am Anfang gelbstichig, fast psychedelisch, wenn die Euphorie des Aufbruchs im Jahr 1968 illustriert wird. Status Quo und »Scarborough Fair« bilden den Soundtrack. Die Qualen im Heim und vor allem die Schinderei beim Torfstechen sind inszeniert wie in alten amerikanischen Filmen oder Theaterstücken. Das stellt Distanz her und erinnert so gar nicht an Bethel und Bodelschwingh. Erst ganz am Ende, beim Abspann, sind authentische Bilder aus der Diakonie Freistatt mit einer besonders schwermütigen Fassung von »House of the rising sun« unterlegt. Nein, es gibt keine Hoffnung, denn die Diakonie Freistatt hat ihre Zöglinge zerstört. Eine andere Erziehungsanstalt, in der Ukraine, ausschließlich für gehörlose junge Männer und Frauen, steht im Mittelpunkt von »Tribe«. Wie Angehörige eines fremdartigen Stammes stoßen, tänzeln und gebärden sich diese Auszubildenden. Auch hier wird die Deformation eines Zöglings durch das System verfolgt, allerdings sind Lehrer und Erzieher hier nur am Rande beteiligt. Es sind die Jugendlichen selbst, die ein kriminelles System aufgebaut haben. Sie bedrohen und rauben, erpressen und verfolgen, prostituieren und morden. Der namenlose Hauptdarsteller kommt neu in das Internat und ist in Kürze restlos verwickelt in die ungeheuren Machenschaften. »Tribe« ist langatmig, hart und grobschlächtig, denn ohne Sprache scheint eine differenzierte Kommunikation gar nicht möglich zu sein. Oder könnte man mit viel Mühe mehr verstehen? Sogar die Sexszenen zwischen zwei Liebenden im Heizungskeller – Momente von Hoffnung und Zuneigung – sind rau und unbarmherzig. Stille wird zur Qual. Nur Geräusche wie Stampfen, Klatschen, Keuchen bleiben übrig. Das ist kaum auszuhalten. Die Stummfilmzeit war gnädig und übertönte ihre Stille mit Livemusik. »Tribe« wird allenfalls untermalt vom Scharren und Seufzen der Zuschauer. Sozialrealismus in seiner schmerzhaftesten Ausprägung, ausgezeichnet in Cannes 2014 und ab Oktober im Kino. Sie wollten verschwinden Mädchen und Frauen scheinen eine völlig andersartige Spezies zu sein. Darf man das in Transgenderzeiten überhaupt noch schreiben? Aber der Kontrast zwischen den Männer- und Frauenfilmen war in diesem Berliner Kinosommer schon extrem. Die Jungs schlagen sich, die Mädchen geben sich preis, nicht nur in der Ukraine. Da ist zum Beispiel diese namenlose Blondine, die auf einem Hochhaus balanciert. Springt sie? Dann trifft sie sich mit einem älteren Vertreter für Autowaschanlagen in einem Hotel und geht im kino »Das Zimmermädchen Lynn« mit ihm in eine Gaststätte, um ihn dort übelst zu beschimpfen. In der nächsten Szene tanzt sie ziemlich nuttig in einer Kneipe und macht einen Gast an, bis der sie mit zu sich in seine prekäre Wohnung nimmt. Es folgt die Begegnung mit einem Managertypen, den sie dazu nötigt, mit ihr in sein nobles Eigenheim zu fahren. Frauchen ist gerade verreist. Die Szenen sind ineinandergeschnitten und verschachtelt, entwickeln sich chronologisch von der Anbändelei bis zum Konflikt. Die typische Borderline-Dynamik wird demonstriert oder – der Filmtitel verrät das Muster – »Das fehlende Grau«. Die Protagonistin macht die so unterschiedlichen Männer heiß, spielt mit ihnen, um sie dann völlig abrupt und hasserfüllt wegzustoßen. Die Männer reagieren auf die Provokation, jeder auf andere Art, jammernd oder gewalttätig. Zwischendurch steht sie im Badezimmer und trinkt Shampoo direkt aus der Flasche, würgt es wieder heraus. Manche Szenen bleiben rätselhaft; nichts wird erklärt, keine Diagnose wird genannt, es wird ausschließlich agiert. Zu entdecken gibt es Sina Ebell, jene junge, sensationelle Schauspielerin: Mal ist sie die junge Schlampe, dann wieder die spröde Zicke. Selten war Zweisamkeit im Film so anziehend-abstoßend. Wer die reale Begegnung scheut, der kann sich vielleicht auf die Lauer legen und beobachten? Genau dies macht »Das Zimmermädchen Lynn« in der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Markus Orths. Lynn kommt aus der Psychiatrie und putzt zwanghaft. Um wieder einen Job als soziale psychiatrie 04/2015 »Amy« Zimmermädchen zu erhalten, erweist sie dem Hotelmanager sexuelle Gefälligkeiten. Sie hält sich lange in den Zimmern der Gäste auf, probiert die Kleider, schnüffelt in fremden Leben herum. Jeden Mittwoch legt sie sich unter ein Bett und lauscht, was nicht immer spannend ist. Doch dann erlebt sie aus ihrer bodenständigen Perspektive den Besuch einer Prostituierten, die SM praktiziert. Es erregt sie. Der parasitäre Blickwinkel reicht ihr nicht mehr, und Lynn bestellt die professionelle Dienstleisterin Chiara in ihre kleine Einraumwohnung, gegen Vorkasse. Versöhnliche, freundschaftliche und liebevolle Szenen zwischen den beiden Service-Kräften gewähren diesem zunächst so kühlen Film mit seiner merkwürdig leblosen Hauptakteurin ein freundlich-offenes Ende. Kaum zu glauben, dass auch die berühmte Amy Winehouse einfach nur verschwinden wollte. Doch genau das behaupten ihre letzten Weggefährten. Sie war auffällig, mit ihrer begnadeten Soul-Stimme, ihrem markanten Lidstrich und der Bienenkorbfrisur. Über zwei Stunden lang verfolgt man »Amy« in dem gleichnamigen Dokumentarfilm von Asif Kapadia; den Aufstieg eines eigensinnigen, extrem labilen Mädchens. Schon früh fing sie an zu kiffen, zu kotzen, sich mit Alkohol und Drogen zu betäuben. Sie war abhängig – von Beziehungen, von Substanzen und dem Balancieren auf der Borderline. Der Film erzählt in einer exzellenten Montage aus unzähligen Clips und Videos und Mitschnitten eine moderne Legende. Das heutzutage jeder Pups auf irgendeinem elektronischen Gerät verewigt wird, hat hier einmal sein Gutes, allerdings nur für den Zuschauer. Viel Glück war ihr nicht vergönnt, bevor sie am 23. Juli 2011 tot aufgefunden wurde. Irritiert hat mich der großartig angekündigte Dokumentarfilm »Seht mich verschwinden« über das magersüchtige Model Isabelle Caro. Ihr Foto wurde 2007 kurzfristig sehr populär im Rahmen einer italienischen Kampagne gegen Magersucht, die allerdings sofort verboten wurde. Drei Jahre später, nach einer kurzen Karriere, ist sie an ihrer Erkrankung gestorben. Die Filmemacherin Kiki Allgeier hat Caro in diesen drei Jahren immer wieder mit der Kamera begleitet. Die vor allem in Paris entstandenen Aufnahmen hat Allgeier durch Recherchen zur Vorgeschichte und Interviews mit den Angehörigen ergänzt: Die lebenshungrige Caro in ihrer kleinen Wohnung, bei der vermeintlichen Präventionskampagne gegen Magersucht, bei Modeschauen, beobachtet von der internationalen Presse. Entstanden ist das verwirrende Porträt einer anorektischen Frau, die schon früh durch massive Eingriffe ihre Identität veränderte: ihren Namen, ihr Kinn, ihre Nase, ihre Lebensgeschichte. Die Filmemacherin durfte ausdrücklich die Magersucht nicht in den Vordergrund stellen; trotzdem beherrscht das extreme Aussehen natürlich jede Einstellung. Isabelle Caro scheint stolz auf ihre Ausstrahlung zu sein; auf jeden Fall genießt sie die Aufmerksamkeit. Eine extrem dominante Mutter (die sich drei Monate nach dem Tod ihrer Toch- ter das Leben genommen hat) und ein selbstgerechter Vater – reicht das als Erklärung für die tödliche Erkrankung, die bei ihr erst im Erwachsenenalter begonnen hat? Der Titel des Films stammt aus dem Theaterstück »4.48 Psychose« von Sarah Kane; der Film zeigt Szenen aus einer Inszenierung mit Caro. Verschwunden sind beide. Nach der Forensik: Was bleibt? Zwei junge Filmemacherinnen haben Gustl Mollath von seiner Entlassung aus der forensischen Psychiatrie im August 2013 bis zur Entscheidung im Wiederaufnahmeverfahren im August 2014 mit der Kamera begleitet. Knapp ein Jahr später ist nun ihr Dokumentarfilm über den Menschen und den Fall, der die Psychiatrie in den letzten Jahren so maßgeblich beeinflusst hat, in die Kinos gekommen. Annika Blendl und Leonie Stade berichten sehr zurückhaltend aus dem Off, informieren zunächst über die offiziellen Fakten und Ereignisse. Sie treten selbst nicht in Erscheinung. Sie beobachten und begleiten Mollath auf den Straßen und in diversen Wohnungen und Hotelzimmern in München, Nürnberg und Berlin und zu einer Rennstrecke für Oldtimer im englischen Cadwell. Mollath spricht wenig über die sieben schlimmen Jahre im Maßregelvollzug: »Das wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht.« Er kommentiert den Alltag, an den er sich erst wieder gewöhnen muss, und landet stets bei allgemeinen Gesellschaftsproblemen oder der 57 04/2015 soziale psychiatrie im kino »Seht mich verschwinden« Weltlage. Es geht dem Zuschauer wie den Gutachtern: Mollath kooperiert nicht wirklich, er lächelt und entzieht sich. Er ist ein gut aussehender Mann, er ist gebildet und redegewandt und wirkt ausgesprochen sympathisch. So wundert man sich nicht über die vielen, vor allem weiblichen Sympathisanten, die neben den Aktivisten der antipsychiatrischen Szene immer wieder aufgeregt auf ihn warten, vor dem Gericht, bei Demonstrationen und Solidaritätsveranstaltungen. Ist dieser freundliche Herr psychisch krank? Vielleicht ist er ein wenig sehr akribisch, zwanghaft, und natürlich weiß er alles besser. Manche Details rühren ungemein. Auf einer Terrasse beobachtet ihn die Kamera dabei, wie er zwei in einem Topf zusammengewachsene Pflanzen zu trennen versucht. Es handelt sich um eine kleine Dattelpalme und ein Mandarinenbäumchen, die er in der Haft aus Kernen gezogen und zusammen in einen Topf gepflanzt hat. Die Erde habe er jeweils beim Hofgang herausgebuddelt und mit einem Joghurtbecher in der Hosentasche transportiert. Später berichtet er noch von seiner schlimmsten Situation: Er habe durch sein kleines Zellenfenster beobachten können, wie ein befreundeter Insasse in der Zelle gegenüber fixiert und mit einer »Betonspritze« ruhiggestellt worden sei. Und er habe nichts tun können. Mehr ist über den Aufenthalt in der Forensik nicht zu erfahren. Wolfgang Strate, sein Rechtsanwalt, der ihn ohne Honorar vertei- 58 »Mollath – und plötzlich ist man verrückt« digt hat, kommt häufig zu Wort. Mollath hat ihm im Laufe des Verfahrens das Vertrauen entzogen, doch das Gericht hat Strate zum Pflichtverteidiger bestellt – ein schwieriges, fragiles Verhältnis. Ein enger Freund, der Gustl Mollath eine Wohnung überlässt und ihn zum Oldtimer-Rennen nach England begleitet, kommt angeblich gut mit ihm zurecht, betont aber gewisse rechthaberische Persönlichkeitszüge, die man eben akzeptieren müsse. Zwei Journalisten kommen zu Wort, die eher die Seite des vermeintlichen Opfers, also Mollaths Exfrau, beleuchten oder sogar Kontakt zu ihr haben. Wer hat recht, wer lügt, wem kann das Gericht glauben? Allmählich wird deutlich, wie schillernd und komplex die ganze Angelegenheit ist. Beate Lakotta vom »Spiegel« zeigt Aktenbände mit den Strafanzeigen Mollaths, die er an lange Verteilerlisten von hochrangigen Persönlichkeiten verschickte, wie sie typisch für die querulatorischen Schreiben von Klienten des Sozialpsychiatrischen Dienstes sind. Aber reicht das für eine Diagnose? Am Ende des Films hat man den Menschen Mollath ganz gut kennen gelernt, ohne den Fall wirklich beurteilen zu können. Der Film endet mit dem für Mollath unbefriedigenden Urteil im Wiederaufnahmeverfahren – kein absoluter Freispruch. Den hat er aber gefordert. Möglicherweise – wer weiß es – hat er seine Frau misshandelt? Dass er dafür sieben Jahre im Maßregelvollzug eingesperrt war, ist unangemessen und unverhältnismäßig, auch wenn er mit einer Summe von zirka 50 000 Euro entschädigt wurde. »Der Fall Mollath ist eine Blamage für unsere Zunft«, war in letzter Zeit von dem einen oder anderen Psychiater, hinter vorgehaltener Hand, zu hören. Nicht umsonst unternimmt die DGPPN erhebliche Anstrengungen, um das Image der forensischen Psychiatrie zu verbessern. Am Ende des Films ist man kein bisschen schlauer. Es wird eine Metapher vom Anfang aufgenommen, in der die Rückkehr Mollaths aus dem Maßregelvollzug mit der Rückkehr eines Astronauten von einem fremden Planeten verglichen wird. Das ist visuell und akustisch ganz hübsch gestaltet, aber aus meiner Sicht eine überflüssige, euphemistische Spielerei. Doch das ist geschenkt. Der Film »Mollath – und plötzlich ist man verrückt« ist in der Presse und bei der deutschen Filmbewertung nicht gut weggekommen. Man erhoffte sich mehr als ein facettenreiches Porträt. Ich finde, angesichts der Umstände hätte man es nicht besser machen können. Über den Forensikpatienten und Künstler Julius Klingebiel und seine so wunderbar ausgemalte Zelle hatte Wolfram Voigtländer in der Januar-Ausgabe der »Sozialen Psychiatrie« (1/2015) ausführlich berichtet. Am 14. Juni 2015 war im NDR ein sehr schöner Film zu sehen: »Ausbruch in die Kunst: Die Zelle des Julius Klingebiel«. Das Format nennt sich »szenische Dokumentation«. Julius Klingebiel, verkörpert von einem Schauspieler, ist bei dem Prozess des Ausmalens seiner Zelle zu sehen. Die Herstellung der Farben aus den für ihn verfügbaren Materialien, aber auch die freundliche Interaktion mit den Pflegern wird immer wieder unterbrochen durch historische und psychiatrische Informationen aus heutiger Sicht. Geradezu anrührend sind die Schilderungen eines Pflegers, der Julius Klingebiel noch leibhaftig erlebt hat. Der Film ist jederzeit verfügbar auf www.julius-klingebiel.de und mit einer Länge von 43 Minuten auch für Veranstaltungen sehr geeignet. Der Film ist ein Plädoyer für die Erhaltung dieses psychiatriegeschichtlich bedeutsamen Kunstwerks. Wem die SP zu langsam ist: www.psychiatrie.de/bibliothek/ aktuelle-kinofilme Freistatt, Deutschland 2014, 108 Min., Regie: Marc Brummund; Darsteller: Louis Hofmann, Alexander Held, Stephan Grossmann, Max Riemelt Tribe (Kinostart 1.10.2015), Ukraine 2014, 130 Min., Regie: Myroslav Slaboshpytskiy; Darsteller: Grigoriy Fesenko Das fehlende Grau, Deutschland 2014, 79 Min., Regie: Nadine Heinze, Marc Dietschreit; Darstellerin: Sina Ebell Das Zimmermädchen Lynn, Deutschland 2014, 90 Min., Regie: Ingo Haeb; Darstellerinnen: Vicky Krieps, Lena Lauzemis Amy, Dokumentarfilm, Großbritannien 2015, 128 Min., Regie: Asif Kapadia Seht mich verschwinden, Dokumentarfilm, Deutschland 2014, 85 Min., Regie: Kiki Allgeier Mollath – und plötzlich bist du verrückt, Deutschland 2015, 93 Min., Regie: Annika Blendl, Leonie Stade im kino »Blender« / Friedlieb »Blender« Blender ist der Name eines Bergs im Allgäu. Es ist aber auch der Name einer Einrichtung für psychisch kranke Menschen, die der Vater der Filmemacherin Susann Reck Anfang der Siebzigerjahre aufgebaut hat. Susann Reck ist hier aufgewachsen. Inzwischen wird das Heim, das aus drei Häusern am Hang besteht, von der Familie betrieben. Für ihren gleichnamigen Dokumentarfilm »Blender« ist sie ein Jahr lang mit einer Kamera zurückgekehrt. Sie lässt sich Zeit und widmet sich geduldig sechs Bewohnern, die sie einen Sommer und einen schneereichen Winter lang begleitet. Die kleinen Szenen zeigen den Alltag, der wie in jeder Psycho-Institution durch die Mahlzeiten, die Medikamentengabe und das Zigarettenschnorren strukturiert wird. Die Regisseurin kommentiert aus dem Off, und ihre Erinnerung an die Perspektive des jungen Mädchens macht »Blender« zu einem einzigartigen Dokument. Das Ritual der Medikamenteneinnahme veränderte damals die Stimmung schlagartig; allzu gerne hätte die kleine Susann auch ein paar Pillen geschluckt. Auch heute noch ist das Schlucken unter argwöhnischer Beobachtung ein zentraler Moment. Wir lernen Julius kennen, den seine Biografie nach Ungarn und wieder nach Deutschland trieb und der stolz seinen muskulösen Körper und seinen Schaffensdrang demonstriert. Wir treffen den Seemann Friedlieb, immer mit Kopfhörern, allein im Wald, der im Kampf soziale psychiatrie 04/2015 »Blender« / Frau Beck gegen seine Imperative den Kopf in die Regentonne tunkt oder sich nur in Unterhose in den Schnee legt. Dann gibt es Herrn Kraus, den viele für einen Mitarbeiter halten und der es liebt, die anderen Bewohner zu gängeln; und die stille Frau Beck, die schöne Kleider liebt und sich so sehr in ihr Zimmer zurückzieht, dass sie schließlich in ein Zweibettzimmer wechseln muss. Der Jüngste von ihnen, Lars Oliver, hat eine Drogenkarriere und Aufenthalte in der Forensik hinter sich. Er träumt von einer eigenen Wohnung und einer Tätigkeit als Organist. Und zuletzt der sich stets ausgegrenzt fühlende Gerd Stuhler, dessen schönste Zeit im Leben ein Aufenthalt in der Psychiatrie Kaufbeurens gewesen ist. Der Film gibt einen tiefen und doch behutsamen Einblick in das Leben in einer vollversorgenden Einrichtung. In der ersten halben Stunde denke ich: Müssen die hier sein? Könnten die nicht »draußen« leben? Bei allen Freiheiten und Bequemlichkeiten ist es doch ein behütetes, rundum reguliertes Leben. Doch der Film ist noch nicht zu Ende, und man ließ sich vielleicht ein wenig blenden von der einfühlsamen Einführung. Julius verschwindet und versackt in Ungarn, und ob er sich zu Tode getrunken hat, das erfährt man nicht. Herr Krause hat vierzig Jahre in der Forensik hinter sich, und weil er einen Bewohner angreift, wird seine Bewährung widerrufen, und er muss zurück nach Wiesloch. Auch der kluge Lars Oliver war nur auf Bewährung außerhalb des Maßregelvollzugs, und nach einem nächtlichen, destruktiven Ausflug zur örtlichen Apotheke wandert er wieder ein. Der Umzug von Frau Beck in ihr neues Zweierzimmer ist mühsam, und man erhält eine Ahnung vom Tagwerk der Mitarbeiterinnen. Herr Stuhler hat sich im Rahmen der Aktion endlich ein Einzelzimmer erobert und legt die erste Single auf – der Plattenspieler ist 45 Jahre alt. Friedlieb wird immer depressiver, möglicherweise hat er Krebs, und im Abspann erfahren wir, dass er 2010 gestorben ist. Es sind viele Geschichten, Tragödien, reißerische Berichte und Flunkereien, die das »Mädchen vom Irrenhügel« im Laufe ihrer Kindheit und Jugend in sich aufgesogen hat. Man merkt: Sie hat gestaunt – und nicht gewertet. Mit welchen Maßstäben auch? Es war ihr alles lieber als Langeweile und bürgerlicher Anstand. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass es ihr heute, als erwachsene Frau, so gut gelingt, jede »Coping-Strategie« zu respektieren, ohne die Störung inklusive Elend und Gefahr zu verharmlosen. Vermutlich erinnert nicht nur mich vieles an den wunderbaren Roman von Joachim Meyerhoff über seine Kindheit in der Schleswiger Anstalt. Doch Susann Reck geht noch einen Schritt weiter: Sie kehrt zurück und schaut noch einmal in einen heißen Sommer und den zugeschneiten Winter, mit einem erwachsenen, aber immer noch unschuldigen Blick. Sie ist kein psychiatrischer Profi geworden, sondern eine weit gereiste Künstlerin. In der letzten Szene sitzt Lars Oliver im Gottesdienst an der Orgel, und Friedlieb wälzt sich im Schnee. Diese Szene, vielleicht der ganze Film ist eine Hommage an all die Menschen, die sehr früh auf eine andere, enge Spur geschickt wurden. Ob sie 2015 ganz andere Wege gehen würden, gehen könnten? Das gilt es nach der Vorführung des (hochdeutsch untertitelten) Films zu diskutieren, vorzugsweise im Quadrolog. Dieser autobiografisch gefärbte Dokumentarfilm scheint mir in besonderer Weise geeignet für die Öffentlichkeitsarbeit, z.B. im Rahmen der »Woche der seelischen Gesundheit«, und den Einsatz in der Ausund Fortbildung. ■ Blender, Dokumentarfilm, Deutschland 2014, 104 Min., UT hochdeutsch/englisch, Regie: Susann Reck. – Der Film ist zu beziehen über die Firma Red Island Prod. Interessenten wenden sich per E-Mail an Susann Reck: [email protected] oder [email protected] »Blender« / Herr Stuhler 59
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