Filmknäcke

04/2015 soziale psychiatrie
im kino
»Freistatt«
Heul doch!
Man stellt sich auf ein paar lässige
Kinobesuche ein und freut sich auf
klimatisierte Säle. Pustekuchen!
Die winzigen Kinos mit Namen
wie »Zukunft«, »Kino« oder »Central« finden sich in Hinterhöfen,
alternativen Projekten oder im
hintersten hippen Neukölln.
Schwitzen ist angesagt, meistens
bleibt man allein oder zu zweit
und kann die Beine über die Lehne
des Vordersitzes werfen. Jetzt bloß
nicht einschlafen. Ich träume von
harten Jungs und allzu labilen
Mädchen. Dann bin ich plötzlich
im Allgäu und Herr Mollath singt
mit Untertiteln. Sorry, das ist wohl
ein bisschen zu viel gewesen.
Was sie nicht umbringt,
macht sie härter
1968 in einer Außenstelle der von
Bodelschwinghschen Anstalten.
Der Spielfilm »Freistatt« wurde
aufwendig an Originalschauplätzen gedreht. Der 14-jährige Wolfgang muss ins Heim, weil sein
Stiefvater eifersüchtig ist. Wolfgang hatte schöne Jahre mit seiner
Mutter, nun ist er nur noch im Weg.
In der Diakonie Freistatt gerät er in
die Mühlen eines perfiden Systems,
geprägt von schwärzester Pädagogik. Die Jungs verbringen den Tag
beim Torfstechen, die Nacht im
Schlafsaal. Es wird schikaniert und
geprügelt, vorzugsweise mit der
Schaufel gegen den Kopf. Sexueller Missbrauch, das wird beiläufig
angedeutet, ist an der Tagesordnung. Fehlhandlungen einzelner
Zöglinge muss immer das ganze
Kollektiv ausbaden: Die abendli-
56
»Tribe«
Geschlechterspezifische Strategien im Kinosommer 2015 / Filmknäcke Von Ilse Eichenbrenner
che Wassersuppe wird gestrichen,
oder alle müssen in den Bunker.
Wolfgang rebelliert immer wieder,
und als Zuschauer identifiziert
man sich nur zu gerne mit ihm. Er
ist aufmüpfig und schlägt immer
häufiger selbst zu. Die Brutalität
der Erzieher, die »Bruder« genannt
werden, lässt ihn selbst immer
brutaler werden, während andere
längst gebrochen sind und sich
anpassen. Es gibt eine schöne, fast
euphorische Szene, in der die Jungs
»Sometimes I feel like a motherless child« grölen und eine kleine
Revolte anzetteln. Wolfgang versucht immer wieder auszubrechen,
versinkt entweder im Moor oder
wird eingefangen und bestraft.
Schließlich gelingt ein Ausbruchsversuch gemeinsam mit einem
Kameraden, doch Wolfgang wird
von seiner Mutter auf hinterlistige
Weise zurück ins Heim verbracht.
Zur Strafe wird er im Torf begraben
und erst kurz vor dem Erstickungstod gerettet. Sein Gefährte erhängt
sich. Nun ist Wolfgang endgültig
versteinert. Er kämpft sich in der
Hierarchie der Zöglinge nach
oben, wird härter und heimtückischer und taugt nicht mehr als
Identifikationsfigur. Der Zuschauer ist allein. Wolfgang wird zwar
regulär entlassen, kehrt aber nicht
wirklich in sein altes Leben zurück.
Die Pervertierung des hübschen
Jugendlichen zu einem antisozialen Charakter macht den Film so
ungewöhnlich. Hier gibt es nicht
nur Täter und Opfer, sondern die
Opfer werden zu Tätern, und man
ist dabei. Psychiatrisch Tätige
kennen die Endstrecke dieser Entwicklung, aber nicht immer die
dahinterliegenden Biografien. Der
Film gibt drastisch Nachhilfe. Obwohl dies eine deutsche Geschichte ist, wurde kein typisch deutscher Film gedreht. Das ist irritierend, macht den Film aber auch
sehenswert. Die Bilder sind am
Anfang gelbstichig, fast psychedelisch, wenn die Euphorie des Aufbruchs im Jahr 1968 illustriert wird.
Status Quo und »Scarborough
Fair« bilden den Soundtrack. Die
Qualen im Heim und vor allem die
Schinderei beim Torfstechen sind
inszeniert wie in alten amerikanischen Filmen oder Theaterstücken.
Das stellt Distanz her und erinnert so gar nicht an Bethel und
Bodelschwingh. Erst ganz am Ende,
beim Abspann, sind authentische
Bilder aus der Diakonie Freistatt
mit einer besonders schwermütigen Fassung von »House of the
rising sun« unterlegt. Nein, es gibt
keine Hoffnung, denn die Diakonie Freistatt hat ihre Zöglinge
zerstört.
Eine andere Erziehungsanstalt,
in der Ukraine, ausschließlich für
gehörlose junge Männer und
Frauen, steht im Mittelpunkt von
»Tribe«. Wie Angehörige eines
fremdartigen Stammes stoßen,
tänzeln und gebärden sich diese
Auszubildenden. Auch hier wird
die Deformation eines Zöglings
durch das System verfolgt, allerdings sind Lehrer und Erzieher hier
nur am Rande beteiligt. Es sind die
Jugendlichen selbst, die ein kriminelles System aufgebaut haben.
Sie bedrohen und rauben, erpressen und verfolgen, prostituieren
und morden. Der namenlose
Hauptdarsteller kommt neu in
das Internat und ist in Kürze
restlos verwickelt in die ungeheuren Machenschaften. »Tribe« ist
langatmig, hart und grobschlächtig, denn ohne Sprache scheint
eine differenzierte Kommunikation gar nicht möglich zu sein. Oder
könnte man mit viel Mühe mehr
verstehen? Sogar die Sexszenen
zwischen zwei Liebenden im
Heizungskeller – Momente von
Hoffnung und Zuneigung – sind
rau und unbarmherzig. Stille wird
zur Qual. Nur Geräusche wie
Stampfen, Klatschen, Keuchen
bleiben übrig. Das ist kaum auszuhalten. Die Stummfilmzeit war
gnädig und übertönte ihre Stille
mit Livemusik. »Tribe« wird allenfalls untermalt vom Scharren und
Seufzen der Zuschauer. Sozialrealismus in seiner schmerzhaftesten
Ausprägung, ausgezeichnet in
Cannes 2014 und ab Oktober im
Kino.
Sie wollten verschwinden
Mädchen und Frauen scheinen
eine völlig andersartige Spezies zu
sein. Darf man das in Transgenderzeiten überhaupt noch schreiben? Aber der Kontrast zwischen
den Männer- und Frauenfilmen
war in diesem Berliner Kinosommer schon extrem. Die Jungs
schlagen sich, die Mädchen geben
sich preis, nicht nur in der Ukraine.
Da ist zum Beispiel diese namenlose Blondine, die auf einem
Hochhaus balanciert. Springt sie?
Dann trifft sie sich mit einem
älteren Vertreter für Autowaschanlagen in einem Hotel und geht
im kino
»Das Zimmermädchen Lynn«
mit ihm in eine Gaststätte, um ihn
dort übelst zu beschimpfen. In der
nächsten Szene tanzt sie ziemlich
nuttig in einer Kneipe und macht
einen Gast an, bis der sie mit zu
sich in seine prekäre Wohnung
nimmt. Es folgt die Begegnung
mit einem Managertypen, den sie
dazu nötigt, mit ihr in sein nobles
Eigenheim zu fahren. Frauchen ist
gerade verreist. Die Szenen sind
ineinandergeschnitten und verschachtelt, entwickeln sich chronologisch von der Anbändelei bis
zum Konflikt. Die typische Borderline-Dynamik wird demonstriert
oder – der Filmtitel verrät das
Muster – »Das fehlende Grau«.
Die Protagonistin macht die so
unterschiedlichen Männer heiß,
spielt mit ihnen, um sie dann völlig
abrupt und hasserfüllt wegzustoßen. Die Männer reagieren auf die
Provokation, jeder auf andere Art,
jammernd oder gewalttätig.
Zwischendurch steht sie im Badezimmer und trinkt Shampoo
direkt aus der Flasche, würgt es
wieder heraus. Manche Szenen
bleiben rätselhaft; nichts wird
erklärt, keine Diagnose wird genannt, es wird ausschließlich
agiert. Zu entdecken gibt es Sina
Ebell, jene junge, sensationelle
Schauspielerin: Mal ist sie die
junge Schlampe, dann wieder die
spröde Zicke. Selten war Zweisamkeit im Film so anziehend-abstoßend.
Wer die reale Begegnung scheut,
der kann sich vielleicht auf die
Lauer legen und beobachten?
Genau dies macht »Das Zimmermädchen Lynn« in der Verfilmung
des gleichnamigen Romans von
Markus Orths. Lynn kommt aus
der Psychiatrie und putzt zwanghaft. Um wieder einen Job als
soziale psychiatrie 04/2015
»Amy«
Zimmermädchen zu erhalten,
erweist sie dem Hotelmanager
sexuelle Gefälligkeiten. Sie hält
sich lange in den Zimmern der
Gäste auf, probiert die Kleider,
schnüffelt in fremden Leben herum. Jeden Mittwoch legt sie sich
unter ein Bett und lauscht, was
nicht immer spannend ist. Doch
dann erlebt sie aus ihrer bodenständigen Perspektive den Besuch
einer Prostituierten, die SM praktiziert. Es erregt sie. Der parasitäre
Blickwinkel reicht ihr nicht mehr,
und Lynn bestellt die professionelle Dienstleisterin Chiara in ihre
kleine Einraumwohnung, gegen
Vorkasse. Versöhnliche, freundschaftliche und liebevolle Szenen
zwischen den beiden Service-Kräften gewähren diesem zunächst so
kühlen Film mit seiner merkwürdig leblosen Hauptakteurin ein
freundlich-offenes Ende.
Kaum zu glauben, dass auch die
berühmte Amy Winehouse einfach nur verschwinden wollte.
Doch genau das behaupten ihre
letzten Weggefährten. Sie war
auffällig, mit ihrer begnadeten
Soul-Stimme, ihrem markanten
Lidstrich und der Bienenkorbfrisur.
Über zwei Stunden lang verfolgt
man »Amy« in dem gleichnamigen
Dokumentarfilm von Asif Kapadia;
den Aufstieg eines eigensinnigen,
extrem labilen Mädchens. Schon
früh fing sie an zu kiffen, zu kotzen, sich mit Alkohol und Drogen
zu betäuben. Sie war abhängig –
von Beziehungen, von Substanzen
und dem Balancieren auf der
Borderline. Der Film erzählt in
einer exzellenten Montage aus
unzähligen Clips und Videos und
Mitschnitten eine moderne Legende. Das heutzutage jeder Pups
auf irgendeinem elektronischen
Gerät verewigt wird, hat hier einmal sein Gutes, allerdings nur für
den Zuschauer. Viel Glück war ihr
nicht vergönnt, bevor sie am 23. Juli
2011 tot aufgefunden wurde.
Irritiert hat mich der großartig angekündigte Dokumentarfilm
»Seht mich verschwinden« über
das magersüchtige Model Isabelle
Caro. Ihr Foto wurde 2007 kurzfristig sehr populär im Rahmen einer
italienischen Kampagne gegen
Magersucht, die allerdings sofort
verboten wurde. Drei Jahre später,
nach einer kurzen Karriere, ist sie
an ihrer Erkrankung gestorben.
Die Filmemacherin Kiki Allgeier
hat Caro in diesen drei Jahren
immer wieder mit der Kamera
begleitet. Die vor allem in Paris
entstandenen Aufnahmen hat
Allgeier durch Recherchen zur
Vorgeschichte und Interviews mit
den Angehörigen ergänzt: Die
lebenshungrige Caro in ihrer
kleinen Wohnung, bei der vermeintlichen Präventionskampagne gegen Magersucht, bei Modeschauen, beobachtet von der
internationalen Presse. Entstanden ist das verwirrende Porträt
einer anorektischen Frau, die schon
früh durch massive Eingriffe ihre
Identität veränderte: ihren Namen,
ihr Kinn, ihre Nase, ihre Lebensgeschichte. Die Filmemacherin
durfte ausdrücklich die Magersucht nicht in den Vordergrund
stellen; trotzdem beherrscht das
extreme Aussehen natürlich jede
Einstellung. Isabelle Caro scheint
stolz auf ihre Ausstrahlung zu
sein; auf jeden Fall genießt sie die
Aufmerksamkeit. Eine extrem
dominante Mutter (die sich drei
Monate nach dem Tod ihrer Toch-
ter das Leben genommen hat)
und ein selbstgerechter Vater –
reicht das als Erklärung für die
tödliche Erkrankung, die bei ihr
erst im Erwachsenenalter begonnen hat? Der Titel des Films
stammt aus dem Theaterstück
»4.48 Psychose« von Sarah Kane;
der Film zeigt Szenen aus einer
Inszenierung mit Caro.
Verschwunden sind beide.
Nach der Forensik: Was bleibt?
Zwei junge Filmemacherinnen
haben Gustl Mollath von seiner
Entlassung aus der forensischen
Psychiatrie im August 2013 bis zur
Entscheidung im Wiederaufnahmeverfahren im August 2014 mit
der Kamera begleitet. Knapp ein
Jahr später ist nun ihr Dokumentarfilm über den Menschen und
den Fall, der die Psychiatrie in den
letzten Jahren so maßgeblich beeinflusst hat, in die Kinos gekommen. Annika Blendl und Leonie
Stade berichten sehr zurückhaltend aus dem Off, informieren
zunächst über die offiziellen
Fakten und Ereignisse. Sie treten
selbst nicht in Erscheinung. Sie
beobachten und begleiten Mollath
auf den Straßen und in diversen
Wohnungen und Hotelzimmern
in München, Nürnberg und Berlin
und zu einer Rennstrecke für
Oldtimer im englischen Cadwell.
Mollath spricht wenig über die
sieben schlimmen Jahre im Maßregelvollzug: »Das wünsche ich
meinem ärgsten Feind nicht.« Er
kommentiert den Alltag, an den er
sich erst wieder gewöhnen muss,
und landet stets bei allgemeinen
Gesellschaftsproblemen oder der
57
04/2015 soziale psychiatrie
im kino
»Seht mich verschwinden«
Weltlage. Es geht dem Zuschauer
wie den Gutachtern: Mollath kooperiert nicht wirklich, er lächelt
und entzieht sich. Er ist ein gut
aussehender Mann, er ist gebildet
und redegewandt und wirkt
ausgesprochen sympathisch. So
wundert man sich nicht über die
vielen, vor allem weiblichen Sympathisanten, die neben den Aktivisten der antipsychiatrischen
Szene immer wieder aufgeregt
auf ihn warten, vor dem Gericht,
bei Demonstrationen und Solidaritätsveranstaltungen. Ist dieser
freundliche Herr psychisch krank?
Vielleicht ist er ein wenig sehr
akribisch, zwanghaft, und natürlich weiß er alles besser. Manche
Details rühren ungemein. Auf einer
Terrasse beobachtet ihn die Kamera dabei, wie er zwei in einem
Topf zusammengewachsene
Pflanzen zu trennen versucht. Es
handelt sich um eine kleine Dattelpalme und ein Mandarinenbäumchen, die er in der Haft aus
Kernen gezogen und zusammen
in einen Topf gepflanzt hat. Die
Erde habe er jeweils beim Hofgang
herausgebuddelt und mit einem
Joghurtbecher in der Hosentasche
transportiert. Später berichtet er
noch von seiner schlimmsten Situation: Er habe durch sein kleines
Zellenfenster beobachten können,
wie ein befreundeter Insasse in
der Zelle gegenüber fixiert und
mit einer »Betonspritze« ruhiggestellt worden sei. Und er habe
nichts tun können. Mehr ist über
den Aufenthalt in der Forensik
nicht zu erfahren.
Wolfgang Strate, sein Rechtsanwalt, der ihn ohne Honorar vertei-
58
»Mollath – und plötzlich ist man verrückt«
digt hat, kommt häufig zu Wort.
Mollath hat ihm im Laufe des Verfahrens das Vertrauen entzogen,
doch das Gericht hat Strate zum
Pflichtverteidiger bestellt – ein
schwieriges, fragiles Verhältnis.
Ein enger Freund, der Gustl Mollath
eine Wohnung überlässt und ihn
zum Oldtimer-Rennen nach England begleitet, kommt angeblich
gut mit ihm zurecht, betont aber
gewisse rechthaberische Persönlichkeitszüge, die man eben akzeptieren müsse. Zwei Journalisten kommen zu Wort, die eher die
Seite des vermeintlichen Opfers,
also Mollaths Exfrau, beleuchten
oder sogar Kontakt zu ihr haben.
Wer hat recht, wer lügt, wem kann
das Gericht glauben? Allmählich
wird deutlich, wie schillernd und
komplex die ganze Angelegenheit
ist. Beate Lakotta vom »Spiegel«
zeigt Aktenbände mit den Strafanzeigen Mollaths, die er an lange
Verteilerlisten von hochrangigen
Persönlichkeiten verschickte, wie
sie typisch für die querulatorischen Schreiben von Klienten des
Sozialpsychiatrischen Dienstes
sind. Aber reicht das für eine
Diagnose? Am Ende des Films hat
man den Menschen Mollath ganz
gut kennen gelernt, ohne den Fall
wirklich beurteilen zu können. Der
Film endet mit dem für Mollath
unbefriedigenden Urteil im Wiederaufnahmeverfahren – kein
absoluter Freispruch. Den hat er
aber gefordert. Möglicherweise –
wer weiß es – hat er seine Frau
misshandelt? Dass er dafür sieben
Jahre im Maßregelvollzug eingesperrt war, ist unangemessen und
unverhältnismäßig, auch wenn er
mit einer Summe von zirka 50 000
Euro entschädigt wurde. »Der Fall
Mollath ist eine Blamage für
unsere Zunft«, war in letzter Zeit
von dem einen oder anderen
Psychiater, hinter vorgehaltener
Hand, zu hören. Nicht umsonst
unternimmt die DGPPN erhebliche
Anstrengungen, um das Image
der forensischen Psychiatrie zu
verbessern.
Am Ende des Films ist man kein
bisschen schlauer. Es wird eine
Metapher vom Anfang aufgenommen, in der die Rückkehr
Mollaths aus dem Maßregelvollzug mit der Rückkehr eines Astronauten von einem fremden Planeten verglichen wird. Das ist visuell
und akustisch ganz hübsch gestaltet, aber aus meiner Sicht eine
überflüssige, euphemistische
Spielerei. Doch das ist geschenkt.
Der Film »Mollath – und plötzlich
ist man verrückt« ist in der Presse
und bei der deutschen Filmbewertung nicht gut weggekommen.
Man erhoffte sich mehr als ein
facettenreiches Porträt. Ich finde,
angesichts der Umstände hätte
man es nicht besser machen
können.
Über den Forensikpatienten und
Künstler Julius Klingebiel und
seine so wunderbar ausgemalte
Zelle hatte Wolfram Voigtländer in
der Januar-Ausgabe der »Sozialen
Psychiatrie« (1/2015) ausführlich
berichtet. Am 14. Juni 2015 war im
NDR ein sehr schöner Film zu
sehen: »Ausbruch in die Kunst:
Die Zelle des Julius Klingebiel«.
Das Format nennt sich »szenische
Dokumentation«. Julius Klingebiel,
verkörpert von einem Schauspieler, ist bei dem Prozess des Ausmalens seiner Zelle zu sehen. Die
Herstellung der Farben aus den
für ihn verfügbaren Materialien,
aber auch die freundliche Interaktion mit den Pflegern wird immer
wieder unterbrochen durch historische und psychiatrische Informationen aus heutiger Sicht. Geradezu anrührend sind die Schilderungen eines Pflegers, der Julius
Klingebiel noch leibhaftig erlebt
hat. Der Film ist jederzeit verfügbar auf www.julius-klingebiel.de
und mit einer Länge von 43 Minuten auch für Veranstaltungen sehr
geeignet. Der Film ist ein Plädoyer
für die Erhaltung dieses psychiatriegeschichtlich bedeutsamen
Kunstwerks.
Wem die SP zu langsam ist:
www.psychiatrie.de/bibliothek/
aktuelle-kinofilme
Freistatt, Deutschland 2014, 108 Min.,
Regie: Marc Brummund; Darsteller:
Louis Hofmann, Alexander Held, Stephan
Grossmann, Max Riemelt
Tribe (Kinostart 1.10.2015), Ukraine 2014,
130 Min., Regie: Myroslav Slaboshpytskiy;
Darsteller: Grigoriy Fesenko
Das fehlende Grau, Deutschland 2014,
79 Min., Regie: Nadine Heinze, Marc
Dietschreit; Darstellerin: Sina Ebell
Das Zimmermädchen Lynn, Deutschland
2014, 90 Min., Regie: Ingo Haeb; Darstellerinnen: Vicky Krieps, Lena Lauzemis
Amy, Dokumentarfilm, Großbritannien
2015, 128 Min., Regie: Asif Kapadia
Seht mich verschwinden, Dokumentarfilm, Deutschland 2014, 85 Min., Regie:
Kiki Allgeier
Mollath – und plötzlich bist du verrückt, Deutschland 2015, 93 Min., Regie:
Annika Blendl, Leonie Stade
im kino
»Blender« / Friedlieb
»Blender«
Blender ist der Name eines Bergs
im Allgäu. Es ist aber auch der
Name einer Einrichtung für psychisch kranke Menschen, die der
Vater der Filmemacherin Susann
Reck Anfang der Siebzigerjahre
aufgebaut hat. Susann Reck ist
hier aufgewachsen. Inzwischen
wird das Heim, das aus drei Häusern am Hang besteht, von der
Familie betrieben. Für ihren
gleichnamigen Dokumentarfilm
»Blender« ist sie ein Jahr lang mit
einer Kamera zurückgekehrt. Sie
lässt sich Zeit und widmet sich
geduldig sechs Bewohnern, die sie
einen Sommer und einen schneereichen Winter lang begleitet. Die
kleinen Szenen zeigen den Alltag,
der wie in jeder Psycho-Institution
durch die Mahlzeiten, die Medikamentengabe und das Zigarettenschnorren strukturiert wird. Die
Regisseurin kommentiert aus
dem Off, und ihre Erinnerung an
die Perspektive des jungen Mädchens macht »Blender« zu einem
einzigartigen Dokument. Das
Ritual der Medikamenteneinnahme veränderte damals die Stimmung schlagartig; allzu gerne
hätte die kleine Susann auch ein
paar Pillen geschluckt. Auch heute
noch ist das Schlucken unter argwöhnischer Beobachtung ein
zentraler Moment. Wir lernen
Julius kennen, den seine Biografie
nach Ungarn und wieder nach
Deutschland trieb und der stolz
seinen muskulösen Körper und
seinen Schaffensdrang demonstriert. Wir treffen den Seemann
Friedlieb, immer mit Kopfhörern,
allein im Wald, der im Kampf
soziale psychiatrie 04/2015
»Blender« / Frau Beck
gegen seine Imperative den Kopf
in die Regentonne tunkt oder sich
nur in Unterhose in den Schnee
legt. Dann gibt es Herrn Kraus,
den viele für einen Mitarbeiter
halten und der es liebt, die anderen Bewohner zu gängeln; und die
stille Frau Beck, die schöne Kleider
liebt und sich so sehr in ihr Zimmer
zurückzieht, dass sie schließlich in
ein Zweibettzimmer wechseln
muss. Der Jüngste von ihnen, Lars
Oliver, hat eine Drogenkarriere
und Aufenthalte in der Forensik
hinter sich. Er träumt von einer
eigenen Wohnung und einer Tätigkeit als Organist. Und zuletzt der
sich stets ausgegrenzt fühlende
Gerd Stuhler, dessen schönste Zeit
im Leben ein Aufenthalt in der
Psychiatrie Kaufbeurens gewesen
ist.
Der Film gibt einen tiefen und
doch behutsamen Einblick in das
Leben in einer vollversorgenden
Einrichtung. In der ersten halben
Stunde denke ich: Müssen die hier
sein? Könnten die nicht »draußen« leben? Bei allen Freiheiten
und Bequemlichkeiten ist es doch
ein behütetes, rundum reguliertes
Leben. Doch der Film ist noch nicht
zu Ende, und man ließ sich vielleicht ein wenig blenden von der
einfühlsamen Einführung. Julius
verschwindet und versackt in
Ungarn, und ob er sich zu Tode
getrunken hat, das erfährt man
nicht. Herr Krause hat vierzig Jahre
in der Forensik hinter sich, und
weil er einen Bewohner angreift,
wird seine Bewährung widerrufen,
und er muss zurück nach Wiesloch.
Auch der kluge Lars Oliver war nur
auf Bewährung außerhalb des
Maßregelvollzugs, und nach einem
nächtlichen, destruktiven Ausflug
zur örtlichen Apotheke wandert er
wieder ein. Der Umzug von Frau
Beck in ihr neues Zweierzimmer
ist mühsam, und man erhält eine
Ahnung vom Tagwerk der Mitarbeiterinnen. Herr Stuhler hat sich
im Rahmen der Aktion endlich ein
Einzelzimmer erobert und legt die
erste Single auf – der Plattenspieler ist 45 Jahre alt. Friedlieb wird
immer depressiver, möglicherweise hat er Krebs, und im Abspann
erfahren wir, dass er 2010 gestorben ist.
Es sind viele Geschichten, Tragödien, reißerische Berichte und
Flunkereien, die das »Mädchen
vom Irrenhügel« im Laufe ihrer
Kindheit und Jugend in sich aufgesogen hat. Man merkt: Sie hat
gestaunt – und nicht gewertet.
Mit welchen Maßstäben auch? Es
war ihr alles lieber als Langeweile
und bürgerlicher Anstand. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass
es ihr heute, als erwachsene Frau,
so gut gelingt, jede »Coping-Strategie« zu respektieren, ohne die
Störung inklusive Elend und Gefahr zu verharmlosen. Vermutlich
erinnert nicht nur mich vieles an
den wunderbaren Roman von
Joachim Meyerhoff über seine
Kindheit in der Schleswiger Anstalt. Doch Susann Reck geht noch
einen Schritt weiter: Sie kehrt zurück und schaut noch einmal in
einen heißen Sommer und den
zugeschneiten Winter, mit einem
erwachsenen, aber immer noch
unschuldigen Blick. Sie ist kein
psychiatrischer Profi geworden,
sondern eine weit gereiste Künstlerin. In der letzten Szene sitzt Lars
Oliver im Gottesdienst an der Orgel, und Friedlieb wälzt sich im
Schnee. Diese Szene, vielleicht der
ganze Film ist eine Hommage an
all die Menschen, die sehr früh auf
eine andere, enge Spur geschickt
wurden. Ob sie 2015 ganz andere
Wege gehen würden, gehen könnten? Das gilt es nach der Vorführung des (hochdeutsch untertitelten) Films zu diskutieren, vorzugsweise im Quadrolog. Dieser autobiografisch gefärbte Dokumentarfilm scheint mir in besonderer
Weise geeignet für die Öffentlichkeitsarbeit, z.B. im Rahmen der
»Woche der seelischen Gesundheit«, und den Einsatz in der Ausund Fortbildung. ■
Blender, Dokumentarfilm, Deutschland
2014, 104 Min., UT hochdeutsch/englisch,
Regie: Susann Reck. – Der Film ist zu
beziehen über die Firma Red Island Prod.
Interessenten wenden sich per E-Mail
an Susann Reck: [email protected]
oder [email protected]
»Blender« / Herr Stuhler
59