Sprechtexte im Gottesdienst Ökumenische Feier zu 25 Jahren Deutsche Einheit Grenzen überwinden – was das für mich bedeutet Berthold Dücker | Mitbegründer „Point Alpha“, Geisa Mein Name ist Berthold Dücker. Ich bin 1947 geboren und aufgewachsen in der thüringischen Rhöngemeinde Geismar, unmittelbar an der ehemaligen innerdeutschen Grenze zu Hessen. Die DDR habe ich von klein auf als einen diktatorischen Staat voller Willkür und Unrecht erlebt. „Pass auf was du sagst, die bringen uns von Haus und Hof!“ So haben meine Eltern mich stets gemahnt. Die Wahrheit zu sagen, war kreuzgefährlich. Man hatte zu lügen, wenn man nicht anecken wollte. Aber ist Lügen nicht Sünde? Welch ein Konflikt für ein im Glauben erzogenes Kind! Und ich träumte ausgerechnet vom Journalismus! Aber mein Vater sagte: „Als Journalist in diesem Land musst du auch die ständigen Lügen dieses Systems verbreiten! Kannst du dir eine solche Zukunft vorstellen?“ Das war der Moment, in dem mir klar wurde: Das war zwar meine geliebte Heimat, aber nicht mein Land. Was blieb mir anderes übrig, als zu gehen? In ein mir fremdes Land! In ein Land aber, das mir ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit versprach. Also nahm ich, 16 Jahre alt, aber mit einem grenzenlosen Gottvertrauen ausgestattet, eine Kneifzange und kroch durch das Minenfeld in die Freiheit. Mit der Zange, die den Stacheldraht durchtrennte, stocherte ich nach Minen. Ich muss eine ganze Heerschar von Schutzengeln gehabt haben, denn meine Flucht gelang. Noch immer bin ich dankbar all jenen, die mir in der schwierigen Anfangszeit halfen - und Verständnis zeigten. Und längst lebe ich auch wie-der in meiner Heimat. In den Flüchtlingen von heute erkenne ich mich deshalb wieder! Es schmerzt und beschämt mich, wenn diesen Menschen heute dumpfe Hassparolen und Brandsätze entgegen geschleudert werden. Betelihem Fisshaye | Abiturientin, Frankfurt Mein Name ist Betelihem Fisshaye. Mein Vorname „Betelihem“ ist die eritreisch-äthiopische Version von „Bethlehem“. Der Ort, in dem Jesus Christus geboren wurde. Meine Mutter hat mir immer die Geschichte erzählt von Maria und Joseph, die damals von Tür zu Tür gegangen sind und niemand Platz hatte. Und dann haben sie doch einen Ort gefunden für ihre Familie. So hat auch mein Vater aus Eritrea in Frankfurt Zuflucht gefunden. Er hat unsere Familie nach-geholt. Da war ich acht Jahre alt. Im nächsten Jahr mache ich hier Abitur. In der Schule habe ich gelernt: Vor mehr als 25 Jahren sind in Deutschland Menschen auf die Straße gegangen, um Grenzen zu überwinden und für die Freiheit. Ich finde es verrückt, wenn heute Menschen neue Grenzen ziehen: Zwischen sich und den sogenannten „Anderen“, die anders aussehen, anders glauben, von woanders kommen. Frankfurt ist international. Hier wohnen Leute mit mehr als hundert Muttersprachen. Deutsch ist die Brücke zwischen uns. Ich bin froh, dass ich hier genug Leute treffe, die sagen: Wir wollen keine neuen Grenzen! Wir wollen zusammen leben! Meiner Familie wurde damals nicht die Tür vor der Nase zugeschlagen, als wir hierhergekommen sind. Ich will dazu beitragen, dass in Deutschland auch andere offene Türen finden. So wie damals Maria und Joseph in Bethlehem. _____________________________________________________________________________________________________ Öffentlichkeitsarbeit des Bistums Limburg Öffentlichkeitsarbeit der EKHN Roßmarkt 4, 65549 Limburg Paulusplatz 1, 64285 Darmstadt * 06431 / 295-276 06151 / 405-504 * 0175 / 9377959 [email protected] [email protected] _____________________________________________________________________________________________________ Samuel Koch | Schauspieler, Darmstadt Auch von mir einen - all den 560 unterschiedlichen Umständen entsprechenden - möglichst gut gelaunten Morgen. Samuel Koch, Tetraplegiker, d.h. Arme und Beine sind gelähmt. Manchmal schränken Vorschriften die Lebens-qualität ein. Dies empfinde ich besonders stark, wenn vor einem Hotel die Rampe abgebaut wurde, weil sie nicht allen Vorschriften entsprach. Dann musste ich mir mit zwei (nicht TÜV-gerechten) Holzbrettern helfen lassen, um in das gebuchte, barrierefreie Zimmer zu gelangen. In manche Räume darf ich erst gar nicht rein, weil ich nicht zu evakuieren bin. Manch andere im Rollstuhl bekommen keine Arbeit, weil sie – so vermute ich – für nicht so leistungsfähig erachtet werden oder weil sie nicht wie andere Arbeitnehmer entlassen wer-den können (zur Info § 85 SGB). Durch den vermeintlichen Kündigungsschutz werden sie benachteiligt. Manchmal sind ungewollte Grenzen in den Köpfen. Ich will keine Sonderbehandlung, wo ich es nicht brauche. Diese Beispiele sind keine Luxusprobleme. Aber andererseits kommen sie mir gerade auch wieder kleiner vor im Vergleich zu den Grenzen und „Behinderungen“, denen sich die Menschen ausgesetzt sehen, die vor Terror und Krieg fliehen. Es ist wenig vorbildhaft, mit dem Kopf gegen ein Auto zu laufen. Bei vielen Rollstuhlfahrern kann man sich die Frage stellen: Wer kann was dafür, dass er angefahren wurden - sie so wenig Sauerstoff bei der Geburt hatte er in einer bestimmten Familie geboren wurde und nun ein Tumor wächst Ich schäme mich manchmal ein bisschen, wenn ich wehmütig an früher zurückdenke, denn eigentlich kann ich für so vieles dankbar sein. Wir leben in Deutschland soooo gut. Muss ich mich dafür schämen? Wer kann was dafür, in welchem Land er geboren ist? Was können wir dafür, dass wir in Deutschland geboren sind oder in Nigeria oder in Syrien. Mit welchem Recht kann jemand sagen, das Land gehört mir, er ist einfach darin geboren. Keiner kann etwas dafür, wo er geboren ist und was ihm im Leben vielleicht zustößt. Aber alle haben ein Recht darauf, dass Grenzen und Hindernisse sie nicht am Leben hindern. 2 Fürbitten / Friedensgrüße Rabbinerin Dr. Elisa Klapheck | Egalitärer Minjan, Jüdische Gemeinde Frankfurt am Main Ich freue mich, als Rabbinerin und Vertreterin des jüdischen Lebens in Frankfurt heute zu Ihnen zu sprechen. Als im November 1989 die Berliner Mauer fiel, da befürchteten viele Juden – mich eingeschlossen –, dass dies zu einem neuen Nationalismus in Deutschland führen würde. Tat-sächlich gehören Rechtsradikalismus und Neonazis leider immer noch mit zur deutschen Realität. Trotzdem hat sich die deutsche Gesellschaft insgesamt auf eine Weise entwickelt, in der Juden heute nicht mehr auf gepackten Koffern sitzen. Es gab sogar eine Wiedergeburt jüdischen Lebens in Deutschland. Das war auch eine Folge des Mauerfalls. Mit der Öffnung des Ostens und dem Zusammenwachsen Europas kam es zu einem neuen Aufbruch bei den Juden, die hier zu Hause sind. Heute sind wir inmitten einer Entwicklung. Gerade in Frankfurt kann man sie besonders gut sehen. Hier gedeihen unter dem Dach der Jüdischen Gemeinde die verschiedenen jüdischen Strömungen – ob traditionell orthodox, ob liberal - ja bis hin zu einer Rabbinerin. Heute ist Samstag, für uns Juden ist das der Schabbat – der heilige 7. Tag, der Sabbat. Auch feiern wir gerade das Laubhüttenfest – das jüdische Erntedankfest. Es ist ein Friedensfest, das wir nicht nur für uns selbst, sondern für die Angehörigen aller Völker feiern. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und allen, die heute in Deutschland sind: Einen gesegneten Feiertag – und Schabbat Schalom! Imam Selcuk Dogruer | DITIB Hessen Am heutigen historischen Tag wurde eine Grenze überwunden, aber in der Gegenwart sehen wir auf der Welt, wie neue Grenzen gezogen werden. Wir brauchen wie damals auch heute Pioniere, die den Mut haben, Grenzen zu überwinden. Die Würde jedes Menschen ist unantastbar. Ob reich oder arm, ob Adelsgeschlecht oder Waise, egal welcher Herkunft. Alle Menschen sind gleichberechtigt und verfügen über dieselben unveräußerlichen Rechte. Deshalb verurteilen wir Muslime unmissverständlich jeden Miss-brauch von Religion zur Rechtfertigung von Gewalt und Diskriminierung. In einem Koranvers heißt es: Wenn jemand einen Menschen tötet, ist es so, als hätte er die ganze Menschheit getötet; und wenn jemand einem Menschen das Leben erhält, ist es so, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben erhalten. Unsere Demokratie ist kein Selbst-zweck, sondern funktioniert im Dienste des Menschen. Aufgrund von aktuellen Kriegen, die komplexe Ursachen haben, sind sehr viele Menschen auf der Flucht und suchen verzweifelt Halt und Identität. Das große zivilgesellschaftliche und politische Engagement für Flüchtlinge erfreut uns und schenkt Menschen Hoffnung. Wir Muslime setzen uns ein für die Freiheit und Vielfalt in unserer Gesellschaft. Wir wünschen uns eine stärkere respekt- und achtungsvolle Kultur in unserer multikulturellen Gesellschaft. Denn wer Achtung und Respekt sät, wird eines Tages Frieden ernten. Wir sagen: Mensch, achte den Menschen! Wir verurteilen Muslimfeindlichkeit genauso wie Antisemitismus und jede Art von Hass und Rassismus, und setzen uns dafür ein, diese mit Achtung und Anerkennung zu überwinden. Friede sei mit Ihnen! As-salāmu ʿAlaikum! Khushwant Singh | Vorsitzender des Rates der Religionen Frankfurt und Vertreter der Sikh-Religion, Frankfurt Es ist mir eine Freude, an diesem historischen Tag als Vorsitzender des Rates der Religionen Frankfurt und als Sikh zu Ihnen sprechen zu dürfen. Ob dunkel- oder hellhäutig: Wer die namenlose Urquelle allen Seins liebt, erkennt die Einheit des Lebens. Dies ist eine Einsicht der fünft-größten Weltreligion, der Sikh-Religion. Ihre zeitlosen Weisheiten inspirieren zu einem tugendhaften, reflektierten und seelisch orientierten Leben – im Einklang mit der Natur. Aus Liebe zu unserem Schöpfer entsteht Hin-gabe zur Schöpfung. Daraus erwächst Verantwortung – und zwar über unsere Gemeinschaft und Nation hinaus. Wir Sikhs erachten daher die deutsche Einheit als religiösen Vorgang! Wir haben genügend Reichtum in der Welt. Trotzdem leiden viele Menschen an Hunger und Ausbeutung. Wir brauchen mehr Genügsamkeit – und Spiritualität. Sie erinnert uns: Wir sind keine biologischen Roboter! Dialog sichert Frieden! Dies ist eine Grunderfahrung unseres Rates der Religionen. Daher fördern wir den Dialog – auch mit der Politik und den Bürgerinnen und Bürgern. Getrennt sind wir durch Terror und im Streben nach Macht. Vereint sind wir als demütige Gäste unserer Mutter Erde und Sikhs - Lernende. Die Welt verändern heißt sich selbst verändern! Die Erkenntnis, dass uns die Diaspora der Vergänglichkeit vereint, hilft Egoismus und Umweltzerstörung zu überwinden. Lassen Sie uns gemeinsam die Einheit unter den Menschen stärken. Lassen Sie uns die Abgrenzung im Namen von Staaten oder Glaubensvorstellungen überwinden. Die neuen globalen Nachhaltigkeitsziele und die Solidarität mit Flüchtlingen stimmen mich als Kind einer Asylantenfamilie hoffnungsvoll. Ich bedanke mich von Herzen und schließe mit dem Gruß getaufter Sikhs: Der wundervolle Eine ist die höchste Reinheit. Dein Wille geschieht. Waheguru ji ka khalsa – Waheguru ji ki fateh! 3
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