Kinder Gottes

Predigt über 1. Johannes 2,28a.3,1-3
THEMA: KINDER GOTTES
Pfr. Daniel Eschbach am 22.11.2015 in der EMK Oberglatt
Liebe Gemeinde,
ich komme in meinen Predigten zur Zeit immer wieder auf das Thema 'Erlösung' zu sprechen. Das ist
auch davon inspiriert, dass 'Erlösung' aktuell auf der Ebene der JK ein Thema ist. Seit längerem beschäftigt sich eine Gruppe intensiv mit der Soteriologie (→ Lehre von der Erlösung) mit dem Ziel, eine Sprache zu
finden, in der heute auch für kirchlich und religiöse kaum sozialisierte Menschen verständlich von Erlösung
im christlichen Sinn gesprochen werden kann. Das klingt ziemlich kompliziert. Einfacher gesagt: Wir möchten als EMK neu lernen, so von Erlösung zu reden, dass Menschen verstehen was gemeint ist und merken,
dass das interessant ist für sie. In Kirche und Welt kann man ab und zu etwas lesen von diesem sog.
'Soteriologie-Projekt'. Und an der nächsten Jährlichen Konferenz wird es das Schwerpunkt-Thema sein.
Ganz unabhängig davon halte ich es sowieso für ausgesprochen wichtig, sich immer wieder mit den
Grundthemen des christlichen Glaubens zu befassen. Und da gehört Erlösung ja zweifellos dazu. Das
Thema muss aktuell bleiben. Erlösung ist ein echter christlicher Dauerbrenner.
Dabei hat das Thema ja zwei Seiten: Einerseits ist Christi Erlösungswerk vollbracht (vgl. Jh 19,30). Das gilt
in vollem Umfang. Wer immer – wie Paulus sagt - 'in Christus ist', der ist erlöst. Man kann nicht nur 'ein
bisschen' erlöst sein, sondern man ist es ganz … oder gar nicht. Insofern könnte man fast sagen: Wer
Christus angenommen hat, für den hat sich das Thema Erlösung erledigt. Andererseits aber fängt es damit
erst richtig an. Denn die Erlösung durch Christus ist kein Lorbeerkranz, auf dem man sich ein Leben lang
ausruhen könnte. Sondern sie bedeutet die Einladung zu einer befreiten Lebensführung und -gestaltung.
Erlösung will in unserem persönlichen Leben umgesetzt werden, Schritt für Schritt und immer mehr. Das
ist eine Lebensaufgabe. Schliesslich sind wir – bei allen Fortschritten, die uns schon geschenkt worden
sein mögen - noch meilenweit von einem grenzenlos befreiten, erlösten Leben entfernt. Wir sind wohl
unterwegs auf dieses Ziel hin, bleiben aber auch als Erlöste, Wiedergeborene, Gläubige in vielerlei Hinsicht erlösungsbedürftig…. Das wiederum ist auch eine Begründung dafür, warum Erlösung in der Gemeinde thematisch ein Dauerbrenner bleiben muss.
Ein Bild, mit dem die Bibel Erlösung veranschaulicht, bringt dieses Ineinander von 'schon ganz erlöst' und
'noch lange nicht fertig' auf den Punkt: Die Bibel sagt, dass wir Gottes Kinder seien. Als Kinder – egal in
welchem Entwicklungsstadium – gehören wir ganz zu Gottes Familie. Daran kann nichts etwas ändern.
Und doch bleibt sehr viel zu lernen, bis wir unser Erbe in vollem Umfang antreten können. In Jesu Gleichnis
vom verlorenen Sohn ( Lk 15,11-32) zeigt sich das am zweiten, zu Hause gebliebenen Sohn. Der war
zwar immer ganz nahe bei seinem Vater. Dennoch macht er einen ausgesprochen unerlösten Eindruck
und ist, als sein 'verlorener' Bruder nach Hause zurückfindet, wieder dringend selbst auf Befreiung, Erlösung angewiesen. Es ist ja keine Frage, dass Erlöste spontan und von Herzen die Freude des Himmels
teilen, wenn ein Sünder Busse tut (vgl. Lk 15,7). Davon ist der ältere der Söhne ja leider in jenem Moment
doch meilenweit entfernt.
Also: Einerseits ist jemand vom Moment an, in dem er/sie zum Glauben kommt, erlöst. Doch andererseits
fängt die Geschichte damit erst an. Im Moment der Bekehrung sind wir – um einen anderen Vergleich zu
versuchen - wie ein roher Marmorblock, der ins Atelier eines Bildhauers gebracht wird. Das fertige Kunstwerk steckt zwar schon drin. Aber es dauert noch, bis das sichtbar wird, bis die Figur herausgearbeitet ist.
Der Künstler wird einiges zu schwitzen haben.
Ein Journalist fragte übrigens mal einen Bildhauer, wie das überhaupt gehe: "Wie machen Sie das, dass
aus dem Felsblock ein Löwe wird!" Und der Künstler soll geantwortet haben: "Es ist ganz einfach. Ich
spitze einfach alles weg, was nicht nach Löwe aussieht!" – Es braucht wohl schon ein Künstlerauge, um
den Löwen im Marmorblock zu erkennen. Und es braucht Gottes Auge, um in einem erlösten Sünder einen
Menschen zu sehen. Es ist Gottes Kunst, uns zu dem zu machen, wozu wir geschaffen sind.
Es mag jede(r) selbst für sich beurteilen, in welchem Bearbeitungsstadium er oder sie steckt: Ist der Marmorblock noch ganz roh? Ist schon etwas zu erkennen? Ist vielleicht der eine oder andere Körperteil schon
ganz herausgearbeitet? Wie auch immer, Gottes Zuspruch gilt für alle genau gleich: "Du bist mein Kind.
Aus einem unförmigen Felsblock schaffe ich Dich zu einem lebendigen Wesen mit Herz, Seele und Verstand. Ich weiss, wie du einmal werden wirst, lass mich an dir arbeiten. Du wirst staunen, was aus Dir
noch wird."
Ganz wichtig ist, dass wir im Ganzen das Gleichgewicht behalten: Dass wir uns einerseits ganz auf Gottes
Kunst verlassen, d.h. ihn an uns arbeiten lassen. Und dass uns andererseits bewusst bleibt, dass wir dabei
nicht passiv bleiben können. Es braucht – und damit wird das Bild vom Bildhauer und seinem Marmorblock
natürlich gesprengt – unsere Mitarbeit. Als von Christus Erlöste habe wir den Auftrag, seine Befreiung in
unserem tagtäglichen Leben zur Geltung zu bringen …
Im ersten Brief des Apostels Johannes z.B. ist die Gratwanderung gut abzulesen: Die Menschen in seiner
Gemeinde verstanden sich pointiert als Kinder Gottes. Aber einige von ihnen hatten wohl vergessen, dass
sie nicht nur einen Vater, sondern auch Geschwister erhalten hatten, als sie Gottes Kinder wurden. Darum
mahnt der Apostel in den ersten Kapiteln seines Briefes zu mehr Geschwisterliebe. Die Erlösung durch
Christus müsse sich schliesslich gerade in der Liebe zu den Geschwistern in der Gemeinde bewähren.
Doch – als hätte Johannes Angst, mit seinen Mahnungen einem gesetzlichen Glauben Vorschub zu leisten
– folgt darauf gleich wieder der Zuspruch der Erlösung, d.h. die Bestätigung: Ihr seid wirklich Gottes Kinder. Ich lese 1.Johannes 2,28a.3,1-3:
Bleibt also mit ihm vereint, meine Kinder! Dann werden wir voll Zuversicht sein, wenn er erscheint…
Seht doch, wie sehr uns der Vater geliebt hat! Seine Liebe ist so groß, dass er uns seine Kinder
nennt. Und wir sind es wirklich: Gottes Kinder! Deshalb kennt uns die Welt nicht; sie hat ja auch ihn
nicht erkannt.
Ihr Lieben, wir sind schon Kinder Gottes. Was wir einmal sein werden, ist jetzt noch nicht sichtbar.
Aber wir wissen, wenn es offenbar wird, werden wir Gott ähnlich sein; denn wir werden ihn sehen,
wie er wirklich ist. Alle, die das voller Zuversicht von ihm erwarten, halten sich von allem Unrecht
fern, so wie Christus es getan hat.1.Johannes 2,28a-3,1-3 (Gute Nachricht Bibel)
Wenn ich das ins Bild des Marmorblocks im Bildhaueratelier übersetze, heisst das: "Du musst die Werkzeuge nicht selbst in die Hand nehmen. Aber mach dir bewusst, wo Du stehst. Gott hat mit dir angefangen.
Du stehst in seinem Atelier. Er hat dich hereingeschafft und darin seine Liebe zu dir bewiesen. Du gehörst
zu ihm. Er weiss schon, was er mit dir machen will. Lass ihn an Dich ran. Lass ihn nur machen. Dann
kommt es gut mit Dir.
Der Zusammenhang erinnert mich an die Biographie des methodistischen Kirchengründers John Wesley.
Er wurde viele Jahres seines Lebens von der Angst umgetrieben, er werde in Gottes Gericht nicht bestehen können. Er versuchte sie zu überwinden, indem er Theologie studierte und Pfarrer der anglikanischen
Kirche wurde. Er strebte aus eigener Kraft die Erlösung an. Darum übte er sich äusserst diszipliniert in
guten, frommen Werken: Bibel lesen; beten; fasten; an Gottesdienste und vor allem am Abendmahl teilnehmen; Gefangene besuchen; Arme unterstützen … etc. Schliesslich bewarb er sich sogar um eine Stelle
als Missionar in der neu gegründeten Kolonie Georgia ( USA). Er wollte Indianer bekehren, um so bei
Gottes Gericht vielleicht doch durchzurutschen. Doch in Amerika scheiterte er total. Mit seinen hohen
(gesetzlichen) Ansprüchen an eine christliche Lebensführung trieb er Menschen von der Kirche weg. Indianer dagegen bekam er gar nicht zu Gesicht. Und sein bitteres Fazit lautete schliesslich: "Ich wollte Indianer bekehren, doch wer wird mich bekehren?" So reiste er schliesslich zurück nach England. Aus eigener
Kraft sich die Erlösung zu verdienen, das hatte nicht funktioniert.
Freilich - der Same zur grossen Wende keimte bereits und brach kurze Zeit in einem Gottesdienst in der
Londoner Aldersgatestrasse vollends durch. Doch angefangen hatte es schon mit einem Erlebnis auf der
Hinfahrt nach Amerika. Das Schiff war in einen schweren Sturm geraten und Wesley bekam es mit der
Angst. zu tun. Nicht nur mit Angst vor dem Tod, sondern vor allem mit der Angst, vor dem endzeitlichen
Richter nicht zu bestehen. Er fühlte nämlich, dass sein Konto allen frommen Bemühungen zum Trotz
schwer im Minus lag. Auf demselben Schiff fuhr eine Gruppe von deutschen Auswanderern mit, die zur
Herrnhuter Brüdergemeinde ( Ludwig Graf von Zinzendorf) gehörte. Sie feierten Gottesdienst während der
Sturm tobte. Sie sangen miteinander, beteten und lobten Gott. Der Sturm focht sie gar nicht an. Als er sie
beobachtete, begann Wesley zu ahnen, was seinem Glauben an Gott fehlte: Er war wie ein Marmorblock,
der selbst verbissen an sich arbeitete, um sich in ein Kunstwerk zu verwandeln. Die Herrnhuter dagegen
vertrauten einfach darauf, dass Gott an ihnen arbeitete. Und sie waren gewiss, dass er sie liebte, egal wie
weit er mit seiner Kunst gekommen war.
Um dieses unbedingte Vertrauen auf die Liebe Gottes geht es dem 1.Johannesbrief, wenn es heisst: "Seht
doch, wie sehr uns der Vater geliebt hat! Seine Liebe ist so gross, dass er uns seine Kinder nennt. Und
wir sind es wirklich: Gottes Kinder!" Das nur 'ein Bild' für die Erlösung zu nennen, schwächt die Aussage
schon fast ab. Für Johannes ist es nämlich mehr als ein Bild. Wir sind nicht nur wie Gottes Kinder. Wir
heissen nicht nur so. Es ist Wirklichkeit. Wir sind wirklich und wahrhaftig Gottes Kinder – unabhängig von
allen Helden- oder Schandtaten, die wir uns schon geleistet haben. Das ist der Boden, auf dem wir dank
Christi Erlösung stehen: Wir sind und bleiben Kinder Gottes. Er hat den Anfang gesetzt, hat uns in sein
Atelier genommen. Und nun geht es 'nur' darum, dass er unser Potential freilegt. Wir müssen nicht mehr
und nicht weniger als stillhalten, d.h. Gott an uns arbeiten lassen. Dann brauchen wir keine Angst vor dem
Scheitern zu haben. Der Gedanken an Gottes Gericht kann uns nicht mehr erschrecken und wir dürfen
gespannt sein, was er schliesslich zustande bringt und aus uns macht.
Wir müssen nicht mehr als stillhalten und Gott an uns arbeiten lassen! - Warum? Ich will den Vergleich mit
dem Bildhauer noch etwas weiter ziehen. Stellen Sie sich vor: Der Bildhauer steht vor seinem Marmorblock. Die fertige Figur hat er schon längst in seinem Kopf bzw. Herzen. Er wirft einen letzten Blick auf
den unbehauenen Stein. Dann hebt er den Meissel, um mit seinem Kunstwerk anzufangen. Doch der Stein
zuckt weg. Und als er den Meissel erneut ansetzt, beginnt der Marmorblock zu tanzen. Er hüpft auf und
ab, rollt hin und her. Er hält keine Sekunde mehr still… Nun ja, irgendwann wird der Bildhauer sein Werkzeug zusammenzusammenpacken. Und wer weiss, ob er es mit dem eigensinnigen Felsblock an einem
anderen Tag noch mal versuchen wird.
Ok, ich gebe es ja zu: Das ist so absurd, dass es höchstens in einem Comic-Strip noch knapp durchgehen
würde. Und doch, liegt nicht genau da unser Problem mit der Liebe Gottes, mit der Erlösung? – Da lassen
wir uns am z.B. Sonntag im Gottesdienst zusprechen, dass wir erlöst sind. Es geht uns wirklich zu Herzen,
wie weit Gott in Jesus Christus gegangen ist für uns. Wir atmen diese frohe Botschaft ein, sie füllt unser
Herz und unser Gemüt. Doch wie schnell lassen wir uns danach wieder von der tagtäglichen Hektik vereinnahmen. Spätestens am Montagmorgen sind wir wieder voll in unsere Aktivitäten verstrickt. Wir arbeiten unsere Listen ab, wir organisieren und managen, schwitzen und krampfen. Und so schnell sind wir
abgelenkt von den wesentlichen Fragen! Die Beziehung zu Gott, das Bewähren der Erlösung tritt in den
Hintergrund. Wir werden zum Marmorblock, der durch die Werkstatt des Bildhauers tanzt. Wie soll Gott
da an uns arbeiten können? Wie soll er herausschaffen können, was in uns steckt?
Damit wir uns recht verstehen: Ich meine nicht, dass wir die alltäglichen Dinge schleifen lassen sollen.
Aber sie dürfen doch nicht radikal dominieren. - Gehen wir noch einmal zurück zu John Wesley: Der blieb
ein äusserst aktiver Mensch, auch nachdem der Zwanziger ( am 24.Mai 1738) endlich gefallen war und
er begriffen hatte, dass nicht er selbst es schaffen musste. Er hatte danach nicht mehr Zeit zur Verfügung
als vorher. Aber er reservierte bestimmte Zeiten dafür, nur ganz für Gott da zu sein: Er begann jeden Tag
mit der Bibel und mit Gebet (ziemlich früh übrigens; er soll in der Regel um 4 Uhr aufgestanden sein … ging aber
auch einige Stunden früher zu Bett als die meisten von uns ). Und vor allem nutzte er die unzähligen Stunden,
in denen er kreuz und quer durch England unterwegs war. Täglich ritt er viele Stunden. Und das war die
Zeit, in der er sich ganz bewusst im Gottes Bildhaueratelier aufhielt und sich seinem Wirken aussetzte.
Wörtlich schreibt er in seinem Tagebuch, dass die Stunden auf dem Pferd seine Zeiten der Stille waren.
Da konnte Gott an ihm wirken.
Wir müssen uns die Stille organisieren, die Zeit, in der wir Gott bewusst an uns arbeiten lassen. Es hilft,
wenn wir sie fest einplanen. Und – das ist jedenfalls meine Erfahrung – es braucht immer mal wieder einen
neuen Anlauf. Denn unsere Alltagsaktivitäten neigen dazu, alles andere zu überwuchern. Wenn wir dem
nicht immer mal wieder Grenzen setzen, dann bleibt am Schluss nichts mehr übrig. Und dann werden wir
zum tanzenden Marmorblock, an dem Gott einfach nicht bildhauerisch tätig sein kann.
Wir stehen nur noch eine Woche vor dem Beginn der Adventszeit: Vielleicht eine Gelegenheit, um sich
wieder neu zu organisieren, dass die Zeiten der Stille, die Zeit, in der wir Gott an uns wirken lassen, nicht
zu kurz kommen. Es braucht sie, damit die Erlösung in unserem Leben greift. Es braucht Zeiten der Stille,
damit wir nicht nur dem Namen nach, sondern in Tat und Wahrheit Gottes Kinder bleiben. Gott hat den
Anfang dazu gemacht. Er hat uns als Kinder angenommen. Lassen wir ihn weiter an uns wirken und sind
wir gespannt, was noch aus uns werden mag. Ich schliesse, indem ich noch einmal Sätze aus unserem
Predigttext lese: "Bleibt also mit ihm vereint, meine Kinder! Dann werden wir voll Zuversicht sein, wenn er
erscheint… Seht doch, wie sehr uns der Vater geliebt hat! Seine Liebe ist so gross, dass er uns seine
Kinder nennt. Und wir sind es wirklich: Gottes Kinder! …Ihr Lieben, wir sind schon Kinder Gottes. Was wir
einmal sein werden, ist jetzt noch nicht sichtbar. Aber wir wissen, wenn es offenbar wird, werden wir Gott
ähnlich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er wirklich ist."
Amen