Wie kann man die Dinge ins Kippen bringen? Wenn Sie sich manchmal die Frage stellen, wie man mit geringstem Aufwand die höchste Wirkung erreicht, dann sollten Sie sich mit den Thesen vom „Tipping-Point“ des Amerikaners Malcolm Gladwell beschäftigen. Hier eine Rezension seines Buches. In den Siebzigerjahren machten John Darley und Daniel Batson das Theologische Seminar der Universität von Princeton zum Schauplatz eines ungewöhnlichen Experiments. Die beiden Sozialpsychologen forderten eine Reihe ausgewählter Theologiestudenten auf, über unterschiedliche theologische Themen, wie z. B. über das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, einen Vortrag vorzubereiten. Anschließend hatten sie sich getrennt von einander, in einem anderen Gebäude der Theologischen Fakultät, wo die Vorträge dann gehalten werden sollten, einzufinden. Auf dem Weg dorthin stieß jeder Student – wie zufällig – auf einen Mann, der stöhnend am Boden lag. Allem Anschein nach war das jemand, der dringend Hilfe benötigte. Wie würden die Theologiestudenten im Einzelfall reagieren? Und welche Faktoren würden sich als ausschlaggebend für ihre Hilfsbereitschaft erweisen? Das Experiment führte zu einem erstaunlichen Ergebnis. Darley und Batson fanden nämlich heraus, dass die Hilfsbereitschaft ihrer Versuchspersonen – die sich selbst durchweg als hilfsbereit einschätzten – von einem eher unscheinbaren Faktor abhing – vom Faktor Zeitdruck. Einigen von ihnen hatte man nämlich gesagt, sie wären spät dran und müssten sich beeilen. Anderen hatte man das Gegenteil gesagt: Sie hätten noch viel Zeit, könnten aber schon mal rüber gehen. Das Ergebnis war, dass von den Versuchspersonen, die sich Zeit nehmen durften, 63 Prozent halfen. Von denen, die man unter Zeitdruck gesetzt hatte, halfen gerade einmal 10 Prozent. Dass es sich bei allen Versuchspersonen um immerhin angehende Geistliche handelte und dass bei vielen das Vortragsthema vom barmherzigen Samariter genau die Experimentalsituation behandelte, nämlich einem Hilfsbedürftigem selbstlos zu helfen, war dagegen ohne jede Bedeutung für das jeweils gezeigte Verhalten. Aus diesem und aus anderen Befunden der sozialpsychologischen Forschung leitet Malcolm Gladwell eine grundlegende Erkenntnis ab: Es sind häufig Kleinigkeiten, die den entscheidenden Einfluss darauf haben, wie sich unser Verhalten oder eine Situation entwickelt. Diese Kleinigkeiten, die zum Kippen einer Situation führen und damit den „Tipping Point“ bilden, belegt der angesehene Wissenschaftsjournalist in seinem Buch mit dem Titel „Tipping Point“ durch viele Einzelbeispiele. Der Tipping Point-Theorie ist vorgeworfen worden, sie reihe zwar eine Fülle verblüffender Untersuchungsergebnisse aneinander, aber eine einheitliche, konsistente und damit in der Praxis auch anwendbare Theorie fehle. Daran ist sicherlich richtig, dass Gladwell kein Theoretiker ist. Aber die Kritik geht an der Sache vorbei. Denn zum einen sind entsprechende Theorieentwürfe, die Gladwells Thesen stützen, bereits seit längerem vorhanden. Es ist die Systemtheorie, die die Wechselwirkungen zwischen starken und schwachen Faktoren in einem Wirkungsnetz beschreibt und damit auch plausibel begründet, warum gerade schwache und auch schwächste Faktoren - sogenannte Kleinigkeiten also – in bestimmten Konstellationen geradezu explosive Wirkungen entwickeln können. Wer sich hier sachkundig machen möchte, sollte sich die entsprechenden Arbeiten von Ullrich, Probst, Vester – um nur einige zu nennen – anschauen. Zum anderen behauptet Gladwell in seinem Buch sympathischerweise aber auch gar nicht, dass man die Tipping Points aus einer Theorie heraus konstruieren oder berechnen könne. Im Gegenteil: Man wird die Tipping Points in den meisten Fällen wohl suchen müssen, will man Entwicklungen verstehen und beeinflussen. Häufig wird hier nur das systematische Ausprobieren verschiedener Möglichkeiten in der Praxis helfen. Aber das ahnten auch bereits die Vordenker der Systemtheorie, so z. B: der Kybernetiker Heinz von Foerster als er formulierte: „Willst Du erkennen, so lerne zu handeln.“ Unabhängig davon, ob man die Sache als Tipping Point bezeichnet, oder ob man als Systemiker von Wechselwirkungen in Systemen und von schwachen oder von kritischen Faktoren spricht - hinter den unterschiedlichen Begriffen steht eine identische Einsicht und die lautet: Häufig bringen massive Interventionen zur Lösung eines Problems nicht nur keine Lösung, sondern diese Interventionen schaffen zusätzlich sogar neue Probleme. Die Maßnahmen, die in diesen Fällen zur Lösung eines Problems eingesetzt wurden, verschlimmern den Zustand letzten Endes. Dann aber geschieht Unerwartetes und geradezu Paradoxes: Kleinste und unscheinbarste Veränderungen – häufig durch Zufall oder unabsichtlich herbeigeführt – setzen plötzlich Kräfte frei und bewirken eine grundlegende Problemlösung. Dies gilt für die Lösung privater Probleme ebenso, wie für die Bewältigung beruflicher Aufgaben. Und nicht zu vergessen: das gilt auch für die große Politik. Ob man diese Kipppunkte aus der (System-) Theorie heraus verstehen und prognostizieren kann, mag umstritten sein. Unternehmerisch veranlagte und lernfreudige Menschen jedenfalls entwickeln und trainieren die Fähigkeit, die Tipping Points rechtzeitig zu erkennen und zu nutzen, systematisch. Auch die Methode, wie diese Fähigkeiten trainiert werden können sind kein Geheimnis: Durch genaue Beobachtung, gezielte Experimente und durch ein systematisches Reflektieren im kritisch-kreativen Dialog mit anderen Menschen. Unsere Erfahrung als Trainer und Berater in Unternehmen lehrt uns übrigens, dass der Tipping Point in Richtung einer leistungsfähigen Unternehmenskultur am Besten mit einer Optimierung der internen Arbeitsbesprechungen erreicht wird. Das Buch: Malcolm Gladwell, The Tipping Point, Boston, New York, London 2000, deutsch.: Tipping Point, München 2002. Der Rezensent: Peter Müller-Schaefer, Neudenk Berlin.
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