1 24. Dezember 2015 – Heiligabend Christvesper in der Klosterkirche zu Cottbus - es gilt das gesprochene Wort - Predigttext: Titus 2, 11-14 Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen und nimmt uns in Zucht, dass wir absagen dem ungöttlichen Wesen und den weltlichen Begierden und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt leben und warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilands Jesus Christus, der sich selbst für uns gegeben hat, damit er uns erlöste von aller Ungerechtigkeit und reinigte sich selbst ein Volk zum Eigentum, das eifrig wäre zu guten Werken. Predigt Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Gemeinde: Amen. Der 24. August ist Inselfeiertag auf Lampedusa, zu Ehren des Heiligen Bartholomäus. Der Schriftsteller Navid Kermani hat das Fest als Journalist vor einigen Jahren erlebt und darüber berichtet. „Mitternacht: Im Hafen beginnt das große Feuerwerk zum Inselfeiertag. Vom Aufnahmelager (für die übers Meer gekommenen Flüchtlinge) aus wird man nur den Himmel glühen und blitzen sehen. (…) Auf dem Meer werden die 2 Feuerwerksraketen den Flüchtlingsbooten den Weg leuchten. Ist es nicht ein Freudenfest, dass sie die Reise überlebt haben? (…) 65 Somalier sind im Unwetter gerettet worden, schnappe ich auf, darunter dreizehn Frauen, eine Schwangere, fünfter Monat, ein Verletzter, achtzig Seemeilen vor der libyschen Küste. Dass es ein FRONTEX-Schiff ist, das die Flüchtlinge aufgenommen hat, und so nahe an der libyschen Küste, wundert die Ärzte ohne Grenzen.“ Denn FRONTEX sei doch dafür da, „die Flüchtlinge von Europa abzuhalten, nicht, sie nach Europa zu bringen. (…) Durch eine Luke treten drei Soldaten ins Innere des Schiffes und kurze Zeit später mit den ersten Flüchtlingen wieder heraus, die sie am Arm stützen, mit einem älteren Mann zuerst, der offenbar am Bein verletzt ist, dann eine Schwangere, wirklich wie Josef und Maria, geht es mir durch den Kopf, zwei unglaublich Fremde, nicht nur wegen ihrer dunklen Haut und dem weiten, exotischen Gewand der Frau mit dem roten Kopftuch, das nach somalischer Art bis über den Bauch reicht; viel fremder ihre Blicke, verstört, scheu, ängstlich und doch dankbar dem Leben, dass sie es behalten haben. Hinter Maria die Prozession der übrigen Flüchtlinge, erst die Frauen, junge Mädchen die meisten, viel zierlicher als Europäerinnen oder die Schwarzafrikanerinnen …, dann die Männer, ebenfalls schmächtig, die ihre ersten Schritte so behutsam auf den Boden setzen, als sei es das erste Mal. Und wirklich ist es ja wie eine Neugeburt für sie. Ich will sie begrüßen, auf Arabisch Friede sei mit euch rufen oder ihnen wenigstens zulächeln, aber weil niemand es tut, traue ich mich nicht. (…) Ich zittere, so ergriffen bin ich, das Legen zu sehen, das nackte Leben wie bei einer Geburt 3 oder wie beim Sterben, das Leben als das, was es ist: ein Geschenk.“1 Liebe Gemeinde am Heiligen Abend! „Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen.“ So heißt es im Predigttext für diese Christvesper aus dem Titusbrief. Dass die heilsame Gnade Gottes erschienen sei allen Menschen, davon erzählt uns die Weihnachtsgeschichte. Wir haben sie noch im Ohr. „Der Engel des Herrn trat zu ihnen und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr.“ Und die Geschichte, die wir eingangs gehört haben; sie wird durchsichtig für die Weihnachtsgeschichte. Und die Weihnachtsgeschichte kommt näher, wird wirklicher durch sie. „ … viel fremder ihre Blicke, verstört, scheu, ängstlich und doch dankbar dem Leben, dass sie es behalten haben.“ Geplagte, von den Mächten dieser Welt getriebene ängstliche Menschen damals und heute. „ … dann die Männer, (…), die ihre ersten Schritte so behutsam auf den Boden setzen, als sei es das erste Mal. Und wirklich ist es ja wie eine Neugeburt für sie.“ So ähnlich müssen die Hirten den Stall von Bethlehem betreten haben. Was war das, dass sie gewürdigt wurden, als Erste von der großen Freude zu hören. Wie eine Neugeburt. Als ein anderer Mensch neu auf die Welt kommen, ganz unerwartet, vielleicht nicht einmal mehr erhofft. „Ich will sie begrüßen, auf Arabisch Friede sei mit euch rufen oder ihnen wenigstens zulächeln, …“ Dieser Impuls; ich will dich grüßen, ich will dir sagen: „Fürchte dich nicht!“ Ich will dir sagen: „Friede sei mit Navid Kermani, Als warteten sie aufs Christkind. Flüchtlingsgeschichten aus Lampedusa, Manuskript in der Reihe „Glaubenssachen“, gesendet am 11.1.2009 auf NDR Kultur, zitiert nach Predigtstudien, Perikopenreihe II, Erster Halbband, 2015/2016, S. 45 1 4 dir!“ Ich will dich in die Arme schließen. Dieser Impuls hat ein Urdatum: Die Worte des Engels über den Feldern von Bethlehem. „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird. Denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“ „Ich zittere, so ergriffen bin ich, das Leben zu sehen, das nackte Leben wie bei einer Geburt oder wie beim Sterben, das Leben als das, was es ist: ein Geschenk.“ Sie alle waren ergriffen, damals, im Stall von Bethlehem, als Gott ein Kind wurde, verletzlich, ungeschützt, angreifbar. Könige und Hirten. Wir sind ergriffen an diesem Abend, in dieser Nacht, nicht, weil wir in die Kirche kommen und die Weihnachtsgeschichte hören. Das ist es nicht allein. Das ist wohl hilfreich. Aber uns rührt diese Geschichte an, uns ergreift sie, weil die Heilige Nacht die Geschichte der Menschen für einen Augenblick zurück auf Null stellt. An jedem 24. Dezember gibt es einen neuen Anfang für alle Menschen. Im Licht stehen, der Klarheit teilhaftig werden. Die Geschichte von Lampedusa atmet eine solche Klarheit. Die Klarheit des Herrn leuchtete um sie. Mit „Klarheit“ hat Martin Luther das griechische Wort Doxa übersetzt. Es gibt für dieses Wort viele Übersetzungen: Herrlichkeit, Glanz, Lichtglanz, Feuerglanz. Ich will Glanz nicht gegen Klarheit aufwiegen oder ausspielen. Der Glanz am Weihnachtsabend ist etwas Wunderbares. Der Glanz in den Augen der Kinder und der Alten, der Jugendlichen und der Erwachsenen. Der Glanz der Weihnachtsbäume. Der Glanz liebevoll gebackener Weihnachtsplätzchen. Aber Klarheit ist doch mehr. „Die Klarheit des Herrn leuchtete um sie.“ Die Engel bringen diese Klarheit, durch die die Wolken der Hoffnungslosigkeit aufreißen. Wenn 5 sich der lichte Himmel über der dunklen Erde öffnet, kommt mit dem Glanz, der Herrlichkeit Gottes zusammen auch ein reiner Ton in die Welt. Das ist in der Nacht über den Feldern von Bethlehem geschehen. Die Hirten haben es gehört und gesehen. Aber damit ist es nicht genug. Die Hoffnung, von der wir heute singen und erzählen, die Hoffnung, von der die Kinder und Jugendlichen heute mehrfach gespielt haben, sie hat einen Grund. Die Heilige Nacht stellt die Geschichte der Menschen einen Augenblick lang zurück auf Null. Warum sehen das nicht alle Menschen? Warum sehen das nicht alle Menschen so? Weil es alles andere als selbstverständlich ist, angesichts unabsehbaren Schreckens an einer Hoffnung für alle Menschen festzuhalten. Das allein ist ein Akt des Mutes und des Vertrauens. Man braucht dazu den wachen Blick. Ein anderer Beobachter hätte in dem ankommenden Flüchtlingsschiff auf Lampedusa ganz anderes gesehen. Aber die vom Glauben der Väter und Mütter abschreiben, die die Verheißung einer Welt ohne Hass und Streit, ohne Leiden und Tod und Krieg im Ohr haben, die die Erinnerung abrufen können, dass die Klarheit des Herrn um die Hirten leuchtete, die sehen die Welt mit anderen Augen. Und diese Menschen, bestärkt in ihrer Hoffnung, bringen neues Leben. Das gibt es doch auch, dass Menschen aus dem Schrecken auftauchen und ihren Fuß auf die Erde setzen wie zum ersten Mal. So verändert Gott die Welt. Er fordert nicht, er will uns nicht zu gänzlich anderen Menschen machen, besseren, hilfsbereiteren, opferwilligen. Gott ist darin menschenfreundlich, dass er sich die, die in dieser Welt leben, nicht grundsätzlich anders wünscht als sie sind. Er findet an ihnen, er findet an uns Liebenswertes. Und das 6 geschieht uns selten allen gemeinsam. Natürlich gibt es Menschen, die in mir Liebenswertes sehen und Menschen, in den ich Liebenswertes sehe und erkenne. Das sagen wir einander auch in der Familie, unter Freunden, unter Partnerinnen und Partnern. Aber heute heißt es: Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen. Und allen sagt Gott heute, dass wir liebenswert sind. Und gemeint sind tatsächlich alle Menschen. Wenn in dieser Nacht Gott zur Welt kommt, erscheint er allen und macht keine Unterschiede. Und so wenig er von uns Willen und Stärke und Aktivität fordert, so wenig macht er sich selbst als starker und mächtiger Gott unter uns bemerkbar. Die Klarheit des Lichtes, die Klarheit des Tones über den Feldern von Bethlehem lässt unseren Blick auf das Kind fallen, das für die Hoffnung steht. Der Christus ist zuerst ein verletzliches Wesen, ein Kind, in dem uns die unabgegoltenen Möglichkeiten Gottes für die Welt vor Augen liegen. Kurt Marti schreibt: „Damals/ als gott/ im schrei der geburt/ die gottesbilder zerschlug.“ In diesem Kind, eben zur Welt gekommen, liegt das Versprechen, dass auch unsere Verletzlichkeit nicht in die Katastrophe führt, sondern ins Offene. Wir können sie uns leisten, unsere Verletzlichkeit – nicht nur in dieser Nacht. Wir sind verletzliche Menschen und müssen nichts anderes sein und nichts anderes werden. Jörg Zink hat die Weihnachtsgeschichte mit wenigen Worten verdichtet und er schließt fast mit einem Gebet: Ein Kind kommt zur Erde von Gott gesandt, in fernem Lande und unbekannt, 7 im Stall und im Stroh ein ärmliches Kind. Verhüllt tut sich kund, was in Gott beginnt. Den Armen der Erde erscheint ein Stern. Der Schwermut leuchtet ein Licht von fern. Die Einsamen finden Krippe und Kind, durch Dunkelheit geht, wer das Heil gewinnt. Du Bote des Himmels, du Trost im Leid, du Bruder in unserer Einsamkeit. Du wehrloses Kind, das Höllen bezwingt, gib du uns die Kraft, die aus Gott entspringt. Und der Friede Gottes, der höher ist als alles, was wir zur Sache des Friedens zu denken wagen, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Gemeinde: Amen.
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