Artikel lesen - Oberbergkliniken

BILDUNG UND GESELLSCHAFT
38
Neuö Zürcör Zäitung
Montag, 3. August 2015 ^ Nr. 176
Anleitung zur Selbstoptimierung
Wie das Streben nach dem perfekten Zustand von Körper und Geist zu einem Volkssport wurde
Das Wettrüsten um den perfekten
Körper, den idealen Lebensstil
und die optimale Leistung hat
zum Teil seltsame Formen angenommen – und gefährliche.
Kilometer-Lauf in 90 Minuten schafft.
«Das Wettrüsten verstärkt sich gegenseitig», sagt Werle. Das Problem: Wenn
alle sich perfektionieren, erreicht keiner
mehr sein Ziel – nämlich aus der Masse
herauszuragen.
Gleichzeitig geht vielen Menschen
das Gefühl dafür verloren, wer sie sind
und was sie wollen. Gerade junge Leute,
beobachtet Werle, legten oft einen perfekten Lebenslauf vor, in dem alle Ansprüche von aussen abgehakt seien.
«Aber vielen fehlt die innere Leidenschaft.» Denn ihnen werde suggeriert,
dass nicht Talent oder Glück entscheidend sind – sondern einzig der Wille.
Und von dem profitiert eine ganze
Reihe von Wirtschaftszweigen. Da ist
etwa die boomende Ratgeberbranche,
in der immer mehr Menschen nach
Orientierung suchen. Oder die Outdoor-Läden. «Für Hunderte von Euro
decken sich Leute mit Produkten ein,
mit denen sie den Mount Everest besteigen könnten – um dann im heimischen
Wald wandern zu gehen», sagt Werle.
Jenni Roth
Irgendwo in Berlin-Kreuzberg ist die
Fensterreihe über dem Supermarkt
morgens um 2 Uhr hell erleuchtet. Auch
nachts um 4 Uhr. Egal, an welchem Tag,
egal, zu welcher Jahreszeit. Hinter den
Fenstern stemmen Frühaufsteher oder
Schlaflose Gewichte und schwitzen auf
dem Laufband: Bei diesem Fitnesscenter kann man rund um die Uhr trainieren. Schlafen? Wozu? Es geht
schliesslich um Selbstoptimierung.
Fitter, schöner, schlauer
Man kann den Körper optimieren und
den Tagesrhythmus, die Geldanlagen
und die Hausarbeit; die Kindererziehung, die Ernährung, das Freizeitprogramm; das Kochen, den Gefühlshaushalt, die Partnerwahl. Der Grat zwischen Verbesserungswunsch und Obsession ist schmal. «Neuro-Enhancement» hat Konjunktur, privat und im
Job, im Aussen wie im Innen. Längst
vermessen sich viele Menschen selbst,
diverse Apps kontrollieren Puls, Schlaf
und Lungenfunktion. Viele greifen zu
Drogencocktails, um fitter, schöner,
schlauer zu werden. Jeder ist seines Erfolges Schmied – und der Weg dahin
fängt schon vor der Geburt an: «Die
Toleranz gegenüber dem nicht Perfekten sinkt», sagt Klaus Werle, Autor des
Buches «Die Perfektionierer». Etwa gegenüber Müttern von behinderten Kindern – schliesslich, so der Vorwurf, hätten sie ja die Möglichkeit gehabt, das
«Defizit» frühzeitig zu erkennen. Der
Mensch begreife sich immer mehr als
Unternehmen, sagt Werle. Dann werde
das Kind ein bedeutsames Investitionsobjekt. «Und das muss früh für den
Wettbewerb aufgestellt werden.»
Aus einem Versprechen wird eine
Pflicht: besser, schöner, billiger. Früher
suchte das Reisebüro den Türkei-Flug
und das Hotel aus. Das war etwas teurer, dafür verlor man nicht drei Tage
lang Zeit und Nerven bei der Internetrecherche. Früher nahm der Berater der
lokalen Bankfiliale die Geldanlagen in
die Hand, heute ist selbst schuld, wer
sein Geld nicht maximal gewinnbrin-
Drogen für die Leistung
Selbstvermessung und Optimierungszwang – ein Einfallstor zur Selbstversklavung?
gend investiert. Heute nimmt der Typ
des «Maximizers» zu: Er sucht tagelang
die günstigste Hose und ist am Ende
doch nicht zufrieden – womöglich hätte
es doch eine billigere gegeben. Früher
hätte er einfach gesagt: Die Hose soll
blau sein und 70 Franken kosten. Er
sucht, findet, ist zufrieden.
Sinnigerweise sind es gerade auch
Krankenkassen, die diesen Trend fördern. Wer ein gesundheitsbewusstes Leben nachweisen kann, wird belohnt. Die
deutsche Krankenkasse AOK erarbeitet mit dem Schweizer App-Entwickler
Dacadoo ein entsprechendes Modell.
Nicht nur wird mithilfe von GPS gemessen, wann und wo der Versicherte joggt
oder Fahrrad fährt. Laut AOK-Website
zählt auch die Lebensführung. Dazu gehören Ernährung, Rauchen, Alkoholkonsum, Stresssituationen oder Schlafphasen. Das heisst: Wer gesund lebt
und die entsprechenden Daten preisgibt, kostet weniger Geld. Das heisst
aber auch: Wer raucht und abends mit
der Salamipizza vor dem Fernseher
sitzt, zahlt mehr – ebenso wie der reni-
tente Rest, der sich nicht überwachen
lassen will. Auch andere Branchen wie
Autoversicherungen nutzen «Big Data»
und werben mit Rabatten für eine
Überwachung. Wie das ARD-Magazin
«Panorama» kürzlich berichtete, statten
Arbeitgeber in den USA und in Grossbritannien ihre Angestellten mit Fitnessarmbändern und Smartwatches aus,
um den Lebensstil zu überwachen: Wer
nachts durch die Kneipen zieht und bei
der Arbeit durchhängt, muss mit Konsequenzen rechnen.
Die Schriftstellerin Juli Zeh warnt
vor einer Diktatur der Selbstoptimierung, in der jede Abweichung von einer
genormt gesunden Lebensführung bestraft wird. Das Perfide: Wir meinen,
unser Leben zu kontrollieren, während
wir uns selbst versklaven. Bei Microsoft
soll «Work-Life-Blending» die «WorkLife-Balance» ersetzen: Man kann arbeiten, wann und wo man will. Anderswo trainieren Mitarbeiter zusammen für
Firmenläufe und treffen sich abends
zum Essen. Das soll die Motivation steigern und die Leistung.
CHRISTOPH RUCKSTUHL / NZZ
Dass der Mensch das Beste aus sich
herausholen will, ist nicht neu. Schon
vor mehr als 200 Jahren notierte Johann
Wolfgang von Goethe 35 Jahre lang Tag
für Tag, wie er mit der Arbeit vorankam,
was es zu essen gab oder welche Freundschaften er pflegte. Neu an der Selbstoptimierung ist die Intensität. Dass sie
alle Lebensbereiche und alle sozialen
Schichten umfasst: «Es sind nicht nur
die Leistungseliten, die noch besser
werden wollen, auch der DurchschnittsMitarbeiter muss an seinen ‹Personal
Skills› feilen», sagt Buchautor Werle.
Grund sei auch die Globalisierung.
Früher gab es schlicht weniger Optionen: War der Vater Schuhmacher, wurde es auch der Sohn. Heute kann er
DAX-Vorstand werden, Pop-Star oder
eine Internetfirma gründen. Und mit
den Möglichkeiten ist, vor allem durch
die sozialen Netzwerke, die Vergleichbarkeit gewachsen. «Früher traf man die
Leute aus einer ‹Peer-Group› einmal im
Jahr beim Klassentreffen. Heute kann
man täglich auf Facebook verfolgen,
wer befördert worden ist oder den 20-
In den 1970er Jahren waren Drogen
meist dazu da, um sich vom Spiessbürgertum abzugrenzen. «Heute hat
sich das Spektrum erweitert», sagt der
Psychiater Christoph Middendorf. «Die
Leute nehmen sie auch zur Leistungsoptimierung, etwa zur vermeintlichen
Verbesserung des Durchhaltevermögens oder der Konzentration.» Statt zu
Ausstiegs- werden Drogen zu Einstiegshilfen – für die Leistungsgesellschaft.
«Das ersehnte Optimum ist aber nicht
unser natürlicher Zustand, also ist der
Gebrauch solcher Substanzen auch eine
Art Realitätsflucht», sagt Middendorf.
Es gibt gesellschaftlich legitimierte
Arten von Neuro-Doping, wie mit Kaffee, Tee oder Alkohol. Aber es spricht
sich herum, dass Mittel für bestimmte
Erkrankungen wie Ritalin auch der
scheinbaren «Selbstoptimierung» dienen können. Über Doping im Freizeitsport weiss Middendorf aus Erfahrung
zu berichten: «Was da in den Fitnessstudios an Anabolika unter der Ladentheke vertrieben wird, das ist eine sehr
hohe Quote.» Sicher, es gibt erste Anzeichen einer Gegenbewegung: Digital
Detox Camps etwa. Nachhaltige Lebensstile. Der Psychiater glaubt, dass in
Sachen Selbstoptimierung ein Zenit erreicht ist. Aber: «Das hat die Menschheit angesichts technischer Entwicklungen immer wieder einmal gedacht.»
«Der Körper wird zum Biokapital, zum Symbol der Produktivität»
Der Arzt und Philosoph Giovanni Maio über den ungesunden Zwang, ständig gesund und schön zu sein
Aber der Wunsch des Menschen, sich zu
verbessern, ist doch nicht neu?
Schon in den achtziger Jahren hat der
Philosoph Michel Foucault mit seiner
Idee der Gouvernementalität das neoliberale Denken beschrieben, ebenso
Jürgen Habermas mit seiner «Kolonialisierung der Lebenswelt» durch ein äusseres System. Aber dieses Denken schlägt
erst jetzt voll durch. Viele sehen sich wie
eine Aktie, die sie auf der Börse anpreisen, die jeden Tag neu bewertet wird und
jederzeit abgesetzt werden kann.
Und wann mache ich mal Pause?
Gar nicht. Es wird uns jeden Tag vorgegaukelt, dass wir noch mehr investieren
könnten und nie gut genug sind. Dadurch hören wir nicht mehr auf unsere
innere Stimme, sondern auf das, was
man von uns erwartet. Es geht nur um
die Fassade. Funktionieren kann das
nur, weil es mit Slogans wie Eigenverantwortung und Freiheit verkauft wird.
ven Körper erfolgreich sein kann, und
deswegen hecheln alle einem Ideal hinterher, das am Ende keine Attraktivität
generiert, sondern bloss Konformität.
Eine Art Diktatur?
Nicht der Staat etabliert eine Diktatur,
sondern der einzelne Mensch versklavt
sich selbst. Schliesslich hat ja nicht
irgendein Politiker die Selbstoptimierung verordnet. Es ist viel subtiler. Während wir von Freiheit und Menschenwürde sprechen, treten wir durch das
Einfallstor zur Selbstentfremdung.
Aber das läuft doch dem Trend der individualisierten Gesellschaft entgegen?
Wir modellieren unseren Körper entsprechend den Erwartungen und betonen dabei, dass das unsere Freiheit
sei. Aber eines steht über allem: Wehe,
.................................................................................
«Unsere
Gesellschaft
will Sieger
sehen und
duldet keine
Schwäche.»
Gehört dazu auch Selbstvermessung?
Es gibt Menschen, die messen morgens
als Erstes Lungenfunktion und Herzfrequenz. Bei der Selbstvermessung
verbindet sich ein Kontrollimperativ mit
einem Optimierungsdrang. Man verbringt seine Zeit damit, den Körper zu
maximieren, und vergisst dabei zu leben. Auch das gehört zur Leistungssteigerung, der Körper wird nach Normkriterien modelliert. Dabei geht es nicht
um Ästhetik, sondern um den Körper
als Symbol der Produktivität.
PD
Selbstoptimierung greift in unserer Gesellschaft um sich. Warum?
Aus der Einstellung zu sich selbst, die
aus dem neoliberalen Denken erwächst,
das wir verinnerlicht haben. Durch die
Übernahme ökonomistischen Denkens
begreift sich der moderne Mensch als
Unternehmer seiner selbst und den
eigenen Körper als Biokapital, in das er
investieren muss. Er wird rastlos, weil er
das Gefühl hat, nie genug aus seinem
Kapital herausgeholt zu haben.
Aber eine krumme Nase ist doch kein
Symbol fehlender Leistungsfähigkeit?
Nein, aber es wird vorgegaukelt, dass
man nur über den vermeintlich attrakti-
Also mitmachen oder aussteigen?
Wir müssten diese Ideologie erkennen
und dann gegensteuern. Es gibt Ansätze
einer Gegenbewegung, noch sind die
Giovanni Maio
Medizinethiker
.................................................................................
du bist erfolglos. Daher suchen wir unablässig nach Anerkennung im Aussen.
Weil wir nicht erkennen, dass wir uns
einem Konformitätsdruck beugen, glauben wir, besonders individuell zu sein.
aber nicht im Alltag sichtbar. Die Massenmedien berichten kritisch über die
Selbstoptimierung, und auch in Expertenkreisen hat sich die Debatte verändert: Die früheren Verteidiger der vermeintlichen Freiheit haben erkannt,
dass es gar nicht um Freiheit geht.
Wenn wir alle in diesem ökonomistischen Denken gefangen sind: Welche
Rolle spielen die Unternehmen selbst?
Sie haben erkannt, dass sie die Menschen dann zu maximaler Leistung bringen, wenn diese das Wettbewerbsdenken, so weit es geht, internalisieren. Denken Sie an das Plädoyer von Microsoft,
die Trennung von «Arbeit» und «privat»
aufzugeben und den Arbeitnehmer arbeiten zu lassen, wann er will. Aber eine
zu starke Verinnerlichung des Leistungsdruckes führt zu innerer Leere. Je mehr
sich der Mensch wie im Hamsterrad bewegt, desto mehr nimmt man Unproduktivität durch Krankheit in Kauf.
Wie finde ich eine Balance zwischen «Ich
gebe alles» und «Jetzt reicht’s»?
Die Balance zwischen Leistung und
Musse kann man nicht verordnen. Die
Menschen sollten erkennen, dass jeder
unverwechselbar ist und in jedem andere Potenziale schlummern. Und sie
sollten selbstbewusster werden. Dabei
ist auch die Medizin gefragt: Statt viele
Pillen zu verschreiben, sollten die Ärzte
besser nachfragen: Sind Sie sicher, dass
Sie in diesem Bereich wirklich funktionieren müssen?
Auch Ärzte machen Werbung für AntiAging-Produkte . . .
. . . und fördern so die Kultur der Selbstoptimierung – um Profit draus zu schlagen. Stattdessen sollten sie das Gespräch suchen und jenen, die glauben,
nur mithilfe von Botox attraktiv zu sein,
verdeutlichen, dass Attraktivität von
innen entsteht.
Wird nicht mit dem Alter alles besser?
Gerade die älteren Menschen glauben,
dass sie nur dann Anerkennung finden,
wenn sie als alte Menschen fit sind und
leistungsfähig, also so sind wie Menschen im mittleren Lebensalter. Ältere
Menschen sind die echten Verlierer,
weil sie damit Angst vor der Gebrechlichkeit bekommen und Sorge haben,
bald absolut wertlos zu sein. Wir leben
in einer gnadenlosen Gesellschaft, die
nur Sieger sehen möchte und letzten
Endes keine Schwäche duldet.
Interview: Jenni Roth
Giovanni Maio ist Arzt und Philosoph und Professor für
Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.