Übung zur Gestaltung der indirekten Rede

Gymnasium Heißen
Projektwoche (28.09. – 2.10.2015): Wissenschaftliches Arbeiten
Übung zur Gestaltung der indirekten Rede
Dr. Puth
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BYUNG-CHUL HAN
„Wir beuten uns freiwillig aus“
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Der Berliner Philosoph Byung-Chul Han rechnet in seinen Werken mit den
Wohlfühl-Diktaturen von Apple, Facebook & Co. ab.
In seinem Heimatland Korea hat er einst Metallurgie studiert, in München und Freiburg
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kamen dann Philosophie, Germanistik und katholische Theologie dazu. Heute lehrt
Byung-Chul Han an der Universität der Künste in Berlin und sorgt vor allem durch kapitalismuskritische Werke (zuletzt: „Psychopolitik - Neoliberalismus und die neuen Machttechniken“) für Furore.
Ist die von Ihnen beschriebene Selbstausbeutung des modernen Menschen auf
den Kapitalismus als System angewiesen - oder könnte sie auch in anderen gesellschaftlichen Organisationsformen wie etwa dem Kommunismus „Erfolge“
feiern?
Die Selbstausbeutung ist nur in einem System möglich, das die Freiheit ausbeutet. Hier
wird die Freiheit selbst zum Zwang. Die erste Stufe des Burn-out-Syndroms ist, das muss
man betonen, die Euphorie. Man stürzt sich in die Arbeit, bis man am Ende zusammenbricht oder in die Depression verfällt. Burn-out oder Depression sind Erkrankungen des
neoliberalen Systems. Sie wären im Kommunismus nicht denkbar.
Na ja.
Der Neoliberalismus unterscheidet sich radikal vom Kapitalismus des 19. Jahrhunderts,
der nur die körperliche Arbeitskraft ausbeutet. Das neoliberale System beutet das Leben
selbst, die Person selbst aus. Ausgebeutet werden auch Ausdrucksformen der Freiheit wie
Emotionen oder Spiel. Der heutige Manager ähnelt immer mehr einem Motivationstrainer,
der positive Emotionen erzeugt, um sie auszubeuten. Heute ist die Freiheit nicht dadurch
bedroht, dass sie unterdrückt wird, sondern dadurch, dass sie ausgebeutet wird. Wir
beuten uns freiwillig und leidenschaftlich aus. Dieses System weist eine hohe Produktivität auf, weil es eben von der Freiheit Gebrauch macht. Auch die Selbstoptimierung hat
zwanghafte Züge von Selbstausbeutung. Der Zwang ist die Gegenfigur der Freiheit.
Heute erzeugt die Freiheit selbst Zwänge.
Gegen wen richtet sich Ihre Kritik: den Kapitalismus oder das Individuum?
Das Subjekt heißt wörtlich Unterworfen-sein. Im Englischen weist die Wendung „subject
to“ auf diese Bedeutung hin. Jedes System ist ein Herrschaftssystem, das aus dem Individuum ein Subjekt macht. Man kann nicht das Individuum kritisieren, ohne das System
zu kritisieren, denn das Individuum als Subjekt ist ein Produkt des Systems. Im Neoliberalismus wird suggeriert, dass wir heute kein unterworfenes Subjekt, sondern ein
freies, sich entwerfendes, sich optimierendes Projekt sind. Aber dieses Projekt ist eine
besonders effiziente Form der Subjektivierung, das heißt, der Unterwerfung. Das sich
selbst ausbeutende Subjekt trägt ein Arbeitslager mit sich.
Inwiefern?
Das Smartphone ist bereits ein Ausbeutungsapparat. Es ist darüber hinaus ein mobiler
Beichtstuhl. Aber man beichtet heute nicht aus Angst vor ewiger Verdammnis, sondern
aus innerem Bedürfnis heraus. Das macht eine digitale Fortsetzung der sakralen Herrschaft des Beichtstuhls möglich. Im neoliberalen Regime wird nicht gefoltert, sondern
getwittert oder gepostet. Aber es kommt auf dasselbe hinaus. Nicht zuletzt der NSASkandal offenbart ja, dass wir in einer Überwachungsgesellschaft leben. Aber wir entblößen uns freiwillig, wie wir uns freiwillig ausbeuten. Facebook ist demnach eine wundersame Folterkammer. Dort schreit niemand vor Schmerz, sondern alle klicken Like.
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Wo im Alltag erleben Sie diese Selbstoptimierung besonders drastisch?
In den USA ist die Selbstoptimierung bereits eine alltägliche Praxis. Zig Millionen Amerikaner arbeiten schon mit digitalen Apparaten am optimierten Ich, am optimierten Körper.
Es gibt unzählige Apps, die millionenfach heruntergeladen werden. Es gilt, den Alltag, das
Leben selbst zu optimieren, etwa durch eine minutiöse Buchführung und Bilanzierung des
Tages. Man will sogar den Schlaf optimieren, das heißt effizienter, schneller schlafen. Da
denke ich an Haie.
Warum ausgerechnet an die?
Sie haben sehr schlecht entwickelte Kiemen. So müssen sie auch im Schlaf schwimmen,
damit frisches Wasser ständig durch die Kiemen fließt. Wenn sie ruhen, ersticken sie.
Vielleicht werden auch die Menschen irgendwann selbst im Schlaf arbeiten, Multitasking
besonderer Art. Oder sie werden den Schlaf abschaffen, weil er nicht effizient ist. Es gibt
unzählige Plattformen zur Selbstoptimierung. Diese Entwicklung kann aber einen verhängnisvollen Verlauf nehmen. Die Optimierungsplattformen verkaufen nämlich die Daten der Nutzer. Manche Versicherungsunternehmen arbeiten bereits mit Optimierungsplattformen zusammen. Wir werden gläserner Mensch. Es kann sein, dass wir irgendwann Strafe oder höhere Prämien zahlen müssen, wenn wir uns der digitalen Gesundheitsüberwachung entziehen wollen. Und die Daten, die bei der freiwilligen Totalprotokollierung, Totalbilanzierung des Alltags generiert werden, können zu einer sehr effizienten
Überwachung genutzt werden. Wir überwachen dann uns selbst, indem wir uns optimieren. Das System delegiert die Überwachung an jeden Einzelnen. Selbstoptimierung und
Überwachung fallen dann in eins, ein perfektes, perfides System.
Die Selbstoptimierung, die Sie beschreiben, dient letztlich nur dem System,
nicht dem Individuum. Aber kann man nicht für ein Ziel, eine Aufgabe, die Verbesserung seines Ichs „brennen“, dafür leben und sich am Erfolg freuen, also
durchaus glücklich werden?
Fleiß oder Zielstrebigkeit gab es immer. Für ein Ziel, für ein Ideal kann man „brennen“,
ohne jedoch für sein Ego zu „brennen“. Die Selbstoptimierung von heute ist etwas ganz
anderes. Zu ihr gehört vor allem die totale Fixierung aufs Ego, die Fetischisierung des eigenen Körpers. Und man will alles vermessen, kontrollieren und beherrschbar machen.
Hier hat man es mit einem Datenfetischismus zu tun.
Mit welchem Hintergrund?
Man will alle möglichen Daten über sich sammeln, Schritte, Blutzuckerwerte, Kalorienverbrauch. Glück heißt ursprünglich Ge-lücke. Es hat mit Lücken zu tun. Das Glück
kommt durch Lücken. Wer sein Leben lückenlos überwachen, kontrollieren, optimieren
will, verpasst gerade das Glück. Der glückliche Körper ist nicht der optimierte Körper. Der
glückliche Mensch ist kein optimierter Mensch. Man muss vor allem erkennen, dass nur
jene Dinge und Tätigkeiten sich optimieren lassen, die quantifizierbar sind. Wer nur diese
quantifizierbaren Dinge wahrnimmt, reduziert das Leben radikal. Er macht aus dem Leben eine Maschine. Das Leben besteht aus Dingen, die nicht quantifizierbar sind, die sich
der Effizienz entziehen, die sich nicht optimieren lassen. Die optimierbaren Tätigkeiten
sind wiederum jene Tätigkeiten, die das System stabilisieren und optimieren. Das System
optimiert sich, indem wir uns optimieren. Diese Selbstoptimierung stabilisiert das System
enorm. Die Dinge, die dem System nicht zuträglich wären, ließen sich nicht optimieren.
So gehört das kritische Denken, das das System infrage stellen würde, nicht ins Programm der Selbstoptimierung.
Wie können Menschen generell aus dem Selbstoptimierungs-Kreislauf ausbrechen?
Wir müssten eine andere Lebensform erfinden. Die ideale Gesellschaft besteht dem altchinesischen Denker Zhuangzi zufolge aus Einbeinigen, Buckligen, Verwachsenen, Zehund Fußlosen. Das klingt zunächst sehr befremdlich. Aber ich verstehe das Bild sehr gut.
Zhuangzi schwebt hier eine Gesellschaft, eine Lebensform vor, die radikal der Logik der
Effizienz absagt. Er spricht auch vom „Gebrauch vom Unbrauchbaren“. Dieser anderen
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Lebensform geh ich nach in solchen Schriften wie „Abwesen“, „Duft der Zeit“ oder auch
„Philosophie des Zen-Buddhismus“.
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Was wollen Sie mit Ihrer Kritik erreichen?
Mit einem Wort: mehr Freiheit! Ich denke oft über das Wort von Georg Büchner nach:
„Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir
selbst!“ Das sind wir leider immer noch.
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Wo ertappen Sie sich selbst bei der Selbstoptimierung, wie vermeiden Sie es,
ihr zu verfallen?
Die Tätigkeit, der ich die ganze Zeit nachgehe, ist Denken. Das Denken oder das Nachdenken lässt sich nicht optimieren. Ich bin froh, wenn mir ein Gedanke einfällt, wenn ich
auf einen Gedanken komme. Der Einfall lässt sich weder beschleunigen noch optimieren.
Beschleunigen lässt sich nur das Rechnen. Das Denken ist aber kein Rechnen.
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Macht Denken traurig?
Leider ... je mehr ich über die Welt nachdenke, desto absurder erscheint sie mir. Andererseits ist es ja die Trauer, die das Denken möglich macht.
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Die Fragen stellte Thomas Tuma.
(Quelle: Byung-Chul Han, „Wir beuten uns freiwillig aus“. In: Handelsblatt Nr. 176, 12.09.2014, S.
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Aufgaben:
Erstellen Sie eine schriftliche Arbeit, in deren Rahmen Sie
1. eine Einleitung formulieren, die die üblichen Angaben (Autor, Titel,
Textart, Thema, Zeitpunkt der Veröffentlichung, Kernthese) enthält;
2. den Inhalt strukturiert darstellen, dabei mit Zitaten und indirekter
Rede arbeiten, die Sie in Fußnoten entsprechend dokumentieren,
und
3. Ihre Meinung zu den Ausführungen Byung-Chul Hans präsentieren!