Rätselhafte Trümmer

Ausland
Das Seilbahnunglück, das sich vergan- Gesellschaft gegründet, später schloß sich
genen Donnerstag gegen 7.15 Uhr ereig- das staatliche spanische „Instituto Geonete, war das schwerste in Frankreich seit gráfico Nacional“ an.
Seit 1981 war die Seilbahn in Betrieb.
fast 40 Jahren. Die Ursache war am Wochenende noch ungeklärt; die Staatsan- Sie wurde, weil kein öffentliches Transwaltschaft Grenoble leitete jedoch vor- portmittel, zwar nicht vom Verkehrsminisorglich ein Verfahren gegen Unbekannt sterium überwacht, dafür aber von denselben Fachleuten nach den „strengsten
wegen fahrlässiger Tötung ein.
Sicherheitsstandards der
Frankreichs InnenmiBeim schwersten SeilbahnWelt“ gewartet, wie die
nister Jean-Pierre CheA 41
unglück Frankreichs
Pariser Regierung beteuvènement und ArbeitsmiFRANKREICH
starben 20 Menschen. Auffällig
ert. Erst im März war
nisterin Martine Aubry
die Anlage vollkommen
hasteten per Helikopter
sind die Parallelen zu
Grenoble
überholt worden.
an den Katastrophenort –
einem Absturz vor zehn Jahren.
Sicher scheint einsteine Demonstration höchweilen nur: Die für den
ie Katastrophe kündigte sich an mit sten staatlichen Interesses
N 91
Transport von etwa sieschrillem Pfeifen, das zu einem me- an der Sicherheit dieser
ben Tonnen Fracht kontallischen Kreischen schwoll. Etwa Transportmittel. Denn
10 km
N 85
zipierte Gondel war mit
500 Meter nach Fahrtbeginn zum Gipfel nirgendwo in Europa gibt
20 Personen bei weitem
des Pic de Bure glitt die Gondel der Draht- es so viele Drahtseilnicht überlastet. Auch ein
seilbahn plötzlich wieder talwärts, rutsch- bahnen („téléphériques“)
Kabelbruch scheidet als
te immer schneller zurück und stürzte und Skilifte wie im TouUnglücksursache wohl
Saint-Etienneen-Dévoluy
aus; beide Tragseile und
das Zugseil waren nach
dem Unfall intakt.
Der Arbeiter Cyril OdPic de Bure
dou, der die Todesfahrt
2708 m
verschlafen hatte, weil
Gap
sein Wecker nicht klingelN 75
te, berichtete allerdings
von Reparaturarbeiten
„noch am Vorabend“.
Und der Rentner Aldo Oberti, von 1982
bis 1993 für die Wartung der Seilbahn verantwortlich, erinnert sich an chronische
Probleme: Regelmäßig habe man Klammern austauschen müssen, mit denen die
Kabine am Seil befestigt war. Obertis
Nachfolger ist unter den Opfern.
Möglicherweise, spekulieren Experten,
sei die Halterung der von der Berner Carrosserie Gangloff AG gefertigten Kabine
durch Blitzschlag, Kälte, Wind beschädigt
gewesen, oder eine Sturmbö habe sie von
den Tragseilen gehoben. Der Schluß liege
Abgestürzte Gondel (mit Zugseil): „Strengste Sicherheitsstandards der Welt“
nahe, daß die Führungsrollen von den Tragschließlich 80 Meter in die Tiefe. Krachend rismusland Frankreich. 4038 mechanische seilen gesprungen seien – ähnlich wie
zerbarst die Kabine auf den grünen Matten Gebirgsaufzüge beförderten voriges Jahr 1989, als in Vaujany im Departement Isère
eine Touristengondel bei einer Probefahrt
und Felsbrocken eines Gebirgstals nahe 673 Millionen Passagiere.
Auch die betroffene Industrie reagierte mit acht Technikern an Bord aus 200 MeSaint-Etienne-en-Dévoluy in den französischen Alpen, 50 Kilometer südlich von sogleich: Seilbahnunglücke seien „selten ter Höhe abstürzte.
Damals wurden schadhafte AufhänGrenoble. 20 Menschen lagen zerschmet- wie Flugzeugabstürze, wirken aber dramatisch“. Auf 2,7 Millionen Fahrgäste gungsvorrichtungen als Ursache ermittelt.
tert zwischen den Trümmern.
Für die Abgestürzten gab es keine Hilfe käme nur ein Unfall, beschwichtigte der Drei Mitarbeiter der Firma Pomagalski in
mehr. Ärztliche und psychologische Be- Chef des nationalen Verbandes der Seil- Grenoble, verantwortlich für die Mängel,
treuung brauchten indes die Mitglieder der bahnbetreiber, Jean-Charles Simiand, trotz erhielten je 18 Monate Gefängnis auf BeFreiwilligen Feuerwehr des 550-Seelen- steigender Zahl der Lifte erlitten nur etwa währung. Auch die jetzt verunglückte Bahn
wurde von Pomagalski gebaut.
Dorfes, die als erste an der Unglücksstelle 200 Menschen im Jahr Schaden.
Derweil wird in Saint-Etienne-en-DévoDie gewaltige Katastrophenseilbahn –
eintrafen und die Verstümmelten identifi3,9 Kilometer Länge, mehr als 1000 Me- luy weiter Ursachenforschung betrieben.
zieren mußten.
Alle Toten stammten aus der Gegend. Es ter Höhenunterschied, bis zu 300 Meter Gesehen hat den Absturz niemand, aber eiwaren Arbeiter, Techniker und fünf Wis- gähnender Abgrund unter den Gon- ner wird die Geräusche nie vergessen: Der
senschaftler, unterwegs zu einem Obser- deln – diente ausschließlich dem priva- Angestellte Jean-Marc Passeron war im
vatorium in 2552 Meter Höhe. Hundert ten Transport von Personal und Mate- letzten Augenlick nicht in die Kabine geMenschen arbeiten dort in Zwei-Tage- rial des „Institut de radio-astronomie stiegen, weil er noch Material holen mußSchichten und erforschen mit fünf Tele- millimétrique“. Das Iram wurde 1979 te. In der Talstation hörte er das schrille
skopantennen das Werden und Sterben der vom französischen Forschungszentrum Kreischen, und als er „die Augen hob, war
CNRS und der deutschen Max-Planck- da keine Gondel mehr“.
Sterne.
Lutz Krusche
K ATA S T R O P H E N
Rätselhafte
Trümmer
AFP / DPA
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