Raum und Wohnen 06•07/2015, Madlen Arnold, Käserin

FREIRAUM
MADLEN ARNOLD, KÄSERIN
Ich habe bisher jeden Sommer, seit ich auf der Welt bin, auf der Alp verbracht.
Das Käsen habe ich von meinen Eltern erlernt, und so halte ich mich auch an ihre
Rezepturen. Ein Alpsommer dauert ungefähr 100 Tage. Während dieser Zeit ziehe ich
mit den Kühen am Klausenpass von Alp zu Alp. Meine Mutter, mein Vater und meine
Geschwister unterstützen mich, wenn es nötig ist. Eine Schwester zum Beispiel ist
Tierärztin und schaut hin und wieder, ob mit den Kühen alles in Ordnung ist, oder
sie hilft beim Kalbern. In unserem Bauernbetrieb im Tal unterstützt mich eine Magd,
damit ich auch im Sommer mit der Arbeit über die Runden komme. Hin und wieder
ruft sie an, um etwas mit mir zu besprechen, aber der Handy-Empfang hier oben
ist recht schlecht. Das ist auch ganz gut so, denn eigentlich mag ich die Ruhe und
das Alleinsein sehr gern. Der Lebensstil ist einfach, aber ich bin da hineingewachsen.
Hier auf der Alp Mettenen auf 1750 Metern Höhe haben wir immerhin noch
fliessendes Wasser, Strom und eine Waschmaschine. Die Alphütte mit der Stube und
den Schlafkammern ist allerdings alt, und die kleinen Zimmer mit den Holzwänden
sind ringhörig. Wenn die zweite Familie, mit der wir die Alp bewirtschaften, auch
hier ist, hören wir durch die Holzwände, wie sie vor dem Essen beten.
Die höchste Alp, auf die wir mit den Kühen ziehen, liegt auf knapp 2000 Metern
über Meer. Dort dauert die Vegetationszeit nur etwa zwei Wochen im Jahr. Das
Gelände ist steil und steinig, dafür finden die Kühe besonders würzige Kräuter,
die dem Käse und der Butter einen speziell feinen Geschmack verleihen. Komfort
gibt es für uns Menschen dort oben keinen. Doch während des Alpsommers dreht
sich sowieso alles um die Kühe, um gute Milch, um guten Käse und darum, dass
ich gesund bleibe, um meine Arbeit erledigen zu können. Je höher oben ich mich
aufhalte, desto mehr erlebe ich die Welt wie durch eine Lupe: Die Kälte fühlt sich
kälter an, die Steine sind rauer, die Probleme erscheinen grösser. Während des
Käsens kann ich allerdings keine schlechten Gedanken wälzen, sonst würde ich
verrückt werden. Wer diese Arbeit macht, muss mit sich im Reinen sein. Wenn
man in den Bergen allein ist, erlebt man hin und wieder spezielle Augenblicke. Ich
erinnere mich an einen Moment, in dem es vollkommen windstill war, ich hörte das
Wasser im Trog nicht mehr, ich hörte keine Krähe krächzen und kein Murmeltier
pfeifen. Mir liefen vor Rührung die Tränen hinunter, es war, als wäre die Welt für
kurze Zeit stehengeblieben.
Meist geht es hier oben aber unsentimental zu und her. Auf der Alp ist früh
Tagwacht, ich stehe um halb vier Uhr auf, ziehe mich an und gehe sofort an die
Arbeit. Als Erstes lege ich die Käse vom Vortag ins Salzbad, feuere mit Holz ein,
um die Milch aufzuwärmen, hole die Kühe in den Stall und melke sie. Wecken muss
ich die Kühe um diese Zeit nicht, sie wachen von selbst etwa um fünf Uhr auf und
beginnen zu fressen. Die Milch mische ich mit der Abendmilch vom Vortag, bevor ich
zu käsen beginne. Nach dem Mittag gehe ich in den Käsekeller, wo ich jeden Käse
einzeln aus dem Gestell nehme, ihn mit Wasser und einer Bürste abreibe und zurück
an seinen Platz auf dem Holzbrett lege. Mein Käse wird vor allem in der Region
um den Klausenpass verkauft. Ein paar Tonnen Halbhartkäse gebe ich jedoch der
Urner Alpkäse-Genossenschaft ab, die ihn an Grossverteiler weiterverkauft. Wenn
mein Käse in der Theke im Geschäft liegt, ist er zwar nicht mit meinem Namen
angeschrieben. Trotzdem erkenne ich ihn an der Rinde. Schliesslich habe ich ihn
während Wochen jeden Tag in die Hand genommen, um ihn zu pflegen. Das Käsen
auf der Alp ist schön, aber auch streng, und die Käselaibe sind schwer. Mitunter
fühle ich mich wie in einem Trainingslager, das 100 Tage dauert.
10
Raum und Wohnen 6•7/15
FOTO: Gaëtan Bally
INTERVIEW: Rebekka Haefeli
Höhentraining der
besonderen Art
6•7/15
2/15 Raum und Wohnen
11